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Titel
Willy Brandt. Der andere Deutsche


Autor(en)
Grebing, Helga
Erschienen
München 2008: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
182 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Krösche, Linz

Der Titel von Helga Grebings Buch „Willy Brandt. Der andere Deutsche“ wirft zwei zentrale Fragen auf. Erstens: Wie grenzt sich Grebing von den einschlägigen Brandt-Biographien etwa Gregor Schöllgens oder Peter Merseburgers ab?1 Zweitens: Was macht Brandt nach Auffassung der Autorin zu einem „anderen Deutschen“?

Der ersten Frage stellt sich Grebing, eine ausgewiesene Expertin der Geschichte der Arbeiterbewegung und Mitherausgeberin der Berliner Ausgabe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, gleich zu Beginn selbst. Ausführlich geht sie auf den Forschungsstand ein und betont, keine klassische Biographie, sondern ihr eigenes Bild Willy Brandts vorlegen zu wollen. Dementsprechend ist es nicht ihr Ziel, neue Quellen auszuwerten, sondern den vorhandenen Quellenbestand neu zu interpretieren und bekannte Thesen zu differenzieren.

Im Mittelpunkt von Grebings vergleichsweise kurzer Darstellung steht das politische Profil Brandts. Es geht ihr dabei um die konsequente Entwicklung Brandts vom radikalen Linkssozialisten zum demokratischen Sozialisten. Grebing verzichtet auf ausführliche Schilderungen des Privatlebens und gibt auch nur einen kurzen Überblick der zentralen politischen Ereignisse, die Brandts Laufbahn begleiteten – wie zum Beispiel der Bau der Berliner Mauer 1961 und der Fall Guillaume 1974. So konsequent diese Konzentration auf den politischen Standpunkt Brandts ist, gehen durch den Verzicht auf eine Charakterisierung doch Nuancen seines Denkens verloren. Dennoch gelingt eine dichte Schilderung der politischen Grundvorstellungen Brandts, deren Kontinuitäten überzeugend aufgezeigt und durch ausführliche Zitate belegt werden. In diesem Zusammenhang interpretiert Grebing den Mauerbau nicht wie andere Biographen als Anlass für Brandts Verständigungspolitik und damit als Zäsur in seinem politischen Denken2, sondern betont die Konstanz seiner Vorstellung von einer gegenseitigen Annäherung beider deutschen Staaten vor und nach 1961.

Des Weiteren grenzt sich Grebing von anderen Biographen und deren Einschätzung Brandts als „Nationalist“ und „Patriot“ klar ab. Ihrer Ansicht nach war der SPD-Politiker „ein international orientierter, freiheitsliebender demokratischer Sozialist europäischer Prägung und gewiss auch emotionaler Bindung an die deutsche Kulturnation als Ausdruck seiner, einer anderen Vaterlandsliebe“ (S. 119). Grebing betont, dass Freiheit der zentrale Begriff im politischen Denken Brandts gewesen sei und untrennbar mit seiner Vorstellung von Nation, aber auch vom Sozialismus verknüpft war. Die kontinuierliche Entwicklung seiner Auffassung vom demokratischen Sozialismus, den Brandt parallel als freiheitlichen Sozialismus bezeichnete, bildet einen Schwerpunkt des Bandes. Ein wesentlicher Bestandteil der Position Brandts war laut Grebing die Distanzierung vom totalitären System der Sowjetunion seit den 1930er- und 1940er-Jahren. Im Mittelpunkt der Gesellschaft habe für Brandt das Individuum und nicht das Kollektiv gestanden. Ziel des demokratischen Sozialismus, den er als vollendete Demokratie verstanden habe, sei die größtmögliche soziale und wirtschaftliche Gleichstellung unter Beachtung der Menschenrechte und Aufrechterhaltung der Rechtstaatlichkeit gewesen.

Im letzten Kapitel fragt Grebing nach dem Vermächtnis von Brandts politischen Grundvorstellungen. Dabei verdeutlicht sie den prozessualen Charakter des demokratischen Sozialismus und betont, dass die Ziele der Sozialdemokratie, wie Brandt sie formulierte, im 21. Jahrhundert noch nicht überholt seien. Das zeige unter anderem die Europäische Union, die den Anforderungen einer repräsentativen Demokratie nur bedingt gerecht werde und vom „Modell der partizipativen Demokratie“ weit entfernt sei (S. 145).

Der Untertitel „Der andere Deutsche“ zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Die Anspielung auf das „andere Deutschland“ als Synonym für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus liegt auf der Hand. Und auch nach 1945 war der Aufbau eines „anderen Deutschlands“ das zentrale Anliegen Brandts, wie Grebing betont. Das „Ausmaß an reflektierten grundsätzlichen Auffassungen und politischen Erfahrungen“ seiner frühen politischen Laufbahn in der sozialistischen Arbeiterbewegung in Lübeck und während der politischen Lehrjahre im Exil habe Brandt zu einem „anderen Deutschen“ gemacht (S. 47). Diesen Bezug zum Titel versucht Grebing zwar immer wieder herzustellen, aber es wird allenfalls plausibel, wodurch sich Brandt von anderen Politikern bzw. Sozialdemokraten unterschied. Die Kennzeichnung als „anderer Deutscher“ ist wohl nicht zuletzt Grebings persönlicher Bewunderung für den SPD-Politiker geschuldet, aus der sie kein Geheimnis macht. So beschreibt sie ihre erste Begegnung mit Brandt, die 1949 stattfand, wie folgt: „Irgendwie, so erinnere ich mich an mein damaliges Empfinden, wurde der dunkel-muffige Raum heller, und der sogleich beeindruckende Mann vermittelte in seiner kurzen Rede Zuversicht auf eine ganz andere Zukunft, an der auch wir mitarbeiten wollten.“ (S. 7)

Die persönliche Perspektive hat durchaus ihren Wert, doch mangelt es der Darstellung in weiten Teilen an kritischer Distanz. Zwar nimmt Grebing immer wieder auf den Forschungsstand Bezug, spart ihn allerdings an den Stellen aus, wo es um Kritik an Brandt und an seiner Politik geht. Nicht thematisiert wird zum Beispiel der Vorwurf vom „Teilkanzler“, der auf die Vernachlässigung der Innen- und Wirtschaftspolitik zugunsten der Ostpolitik durch die sozial-liberale Koalition abzielte. Vielmehr spricht Grebing in Bezug auf die Innenpolitik von einem „großen Reformwerk“ (S. 68), auch wenn sie einräumt, dass nicht alle Projekte verwirklicht werden konnten.

Insgesamt ergänzt Helga Grebings Band die umfangreiche Forschungsliteratur über Willy Brandt, weil sich die Autorin konsequent auf die politischen Grundvorstellungen konzentriert. Während Grebing betont, dass Brandt sich nicht als Theoretiker verstanden habe, sondern ein „Politiker mit ausgeprägter Reflexionsfähigkeit“ gewesen sei (S. 129), analysiert sie leider nicht, inwieweit Brandts programmatische Überlegungen während seiner Regierungsjahre umgesetzt wurden.

Anmerkungen:
1 Gregor Schöllgen, Willy Brandt. Die Biographie, Berlin 2001 (rezensiert von Claudia Hiepel: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ZG-2002-069> (07.04.2009)); Peter Merseburger, Willy Brandt. 1913–1992. Visionär und Realist, München 2002 (rezensiert von Siegfried Schwarz: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-1-009> (07.04.2009)).
2 Merseburger, Willy Brandt, deutet den „Schock über die Haltung der Verbündeten am 13. August“ als „eines der Motive, die schließlich zur ‚Politik der kleinen Schritte‘ und zu Brandts Ostpolitik“ geführt hätten, S. 405.

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