F. Boll u.a. (Hrsg.): Der Sozialstaat in der Krise

Titel
Der Sozialstaat in der Krise. Deutschland im internationalen Vergleich


Herausgeber
Boll, Friedhelm; Kruke, Anja
Reihe
Einzelveröffentlichungen aus dem Archiv für Sozialgeschichte 1
Erschienen
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Hardach, Philipps-Universität Marburg

In dem vorliegenden Band sind 13 Beiträge zum Thema „Der Sozialstaat in der Krise“ neu herausgegeben, die im Jahrgang 47 (2007) des „Archivs für Sozialgeschichte“ veröffentlicht wurden. Um es gleich vorweg zu sagen: Die aktuelle Krise ist nicht gemeint. Der Krisenbegriff des Bandes bezeichnet nicht eine aktuelle oder frühere zyklische Krise, sondern den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umbruch, der in der Mitte der 1970er-Jahre einsetzte (Hans Günter Hockerts, S. 3). Die Wirtschaftskrise von 1974/75 war nicht nur für die damaligen Verhältnisse recht heftig, sondern wurde auch zu einem Wendepunkt in der wirtschaftlichen Entwicklung, weil sie in der Bundesrepublik und anderen westeuropäischen Ländern die lange Wachstumsphase beendete, die in den frühen 1950er-Jahren begonnen hatte. Es folgte eine Zeit langsameren wirtschaftlichen Wachstums, verbunden mit starken konjunkturellen Fluktuationen und hoher Arbeitslosigkeit, die bis heute anhält. Die Beiträge des Bandes beschäftigen sich aus verschiedenen Perspektiven mit der Entwicklung des Sozialstaats in diesem neuen Szenario wirtschaftlicher Instabilität, das man als Krise, als Transformation oder auch als Reform des Sozialstaats bezeichnen kann. Die Autoren und Autorinnen beziehen sich nicht nur auf Deutschland, sondern richten den Blick zugleich auf andere westeuropäische Länder und gelegentlich auf die USA.

In einer ersten Gruppe von Aufsätzen wird der „Sozialstaat in der Krise“ insgesamt näher bestimmt, interpretiert und in die langfristige historische Entwicklung eingeordnet. Die einzelnen Beiträge behandeln die Entwicklung des Sozialstaats aus politischer (Hans Günter Hockerts) und aus wirtschaftlicher Perspektive (Alexander Nützenadel), die 1970er-Jahre als Wendepunkt der Sozialpolitik (Martin H. Geyer, Winfried Süß), die DDR, in der die 1970er-Jahre ebenfalls eine Zeit der sozialpolitischen Neuorientierung waren (Beatrix Bouvier), sowie die „Sozialpolitik in der Wiedervereinigung“ (Gerhard A. Ritter). In einer zweiten Gruppe von Aufsätzen geht es um einzelne Bereiche der Sozialpolitik. Dazu gehören die soziale Sicherung von Frauen (Christiane Kuller), die Bildungspolitik (Wilfried Rudloff), die Alterssicherung (Bernhard Ebbinghaus / Isabelle Schulze), die Gesundheitspolitik (Ulrike Lindner), die Invaliditätsversicherung (Martin Lengwiler) und die Arbeitsmarktpolitik (Robert Salais). Schließlich gibt es einen interessanten Artikel über die Rolle der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO/ILO) seit den 1920er-Jahren (Daniel Maul). Die Perspektive der Beiträge ist im Wesentlichen angebotsorientiert; im Mittelpunkt stehen die Motive und Entscheidungen der staatlichen Akteure der Sozialpolitik. Wie der Wandel des Sozialstaats sich auf die Betroffenen ausgewirkt hat, auf die Gesellschaft insgesamt und auf einzelne Klassen, Schichten oder Generationen, wird zwar gelegentlich angesprochen, aber nicht systematisch diskutiert.

Zu Beginn der 1970er-Jahre hatte sich in der Bundesrepublik Deutschland, und mit Variationen auch in anderen westeuropäischen Ländern, ein weithin akzeptiertes Sozialstaatsmodell etabliert. Seine wesentlichen Komponenten waren umfangreiche öffentliche Transferleistungen, die Stabilisierung der Erwerbsbiographien durch die Arbeitsmarktregulierung und eine aktive Konjunkturpolitik, um wirtschaftliche Stabilität als Grundlage für die Sozialpolitik zu gewährleisten. Dieses Modell geriet jedoch unter Druck: Durch die Abschwächung des Wirtschaftswachstums wurde der Verteilungsspielraum nicht mehr im gleichen Tempo wie bisher erweitert; die Arbeitsmarktkrise führte zu steigenden Sozialausgaben und schmälerte zugleich die materielle Basis der beitragsfinanzierten Sozialversicherungssysteme; der demographische Wandel brachte höhere Ausgaben der Rentenversicherung, aber auch der Krankenversicherung und der Invaliditätsversicherung mit sich; der internationale Wettbewerb wurde intensiver. Zudem förderten diese Veränderungen eine Zwangslagenrhetorik, die es unter anderen Bedingungen schon am Ende der Weimarer Republik gegeben hatte. Forderungen wie eine Veränderung der Einkommensverteilung von den Erwerbseinkommen zu den Gewinnen oder eine Reduzierung der Staatstätigkeit wurden nicht als wirtschaftspolitische Optionen, sondern als unausweichliche Notwendigkeiten dargestellt. Die Politik reagierte mit erheblichen Korrekturen an dem bis dahin herrschenden Sozialstaatsmodell. Die öffentlichen Transferleistungen wurden reduziert, die Arbeitsmarktregulierung wurde abgebaut, und von einer aktiven Konjunkturpolitik wollte man auch nichts mehr wissen. Das Ergebnis dieser Veränderungen, die in den späten 1970er-Jahren begannen, ist vorerst ungewiss. Wie Alexander Nützenadel in seinem Beitrag feststellt, gibt es bisher noch kein neues konsensfähiges Sozialstaatsmodell für das 21. Jahrhundert (S. 46). Inzwischen stellt die aktuelle Krise den Sozialstaat wiederum vor neue Herausforderungen. Manche Empfehlungen, die vor nicht langer Zeit als Beitrag zur Modernisierung des Sozialstaats angeboten wurden, wirken jetzt bereits antiquiert.

Die Wandlung des Sozialstaats mit ihren verschiedenen Aspekten wird in den Beiträgen des vorliegenden Bandes hervorragend dargestellt. Der Schwerpunkt ist die Entwicklung in Deutschland, aber es gibt immer wieder interessante Vergleiche und Ausblicke zu anderen Ländern. Das Ergebnis ist nicht so sehr eine neue Interpretation des sozialpolitischen Umbruchs, sondern eine umfassende und verlässliche Diskussion des Forschungsstandes, die als Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen dienen kann. Die Neuauflage der Beiträge aus dem „Archiv für Sozialgeschichte“ ist daher sehr zu begrüßen, und der günstige Preis des Buches wird die Verbreitung fördern.

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