M. Lutz-Bachmann u.a. (Hrsg.): Handlung und Wissenschaft

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Titel
Handlung und Wissenschaft - Action and Science. Die Epistemologie der Praktischen Wissenschaften im 13. und 14. Jahrhundert - The Epistemology of the Practical Sciences in the 13th and 14th Centuries


Herausgeber
Lutz-Bachmann, Matthias; Fidora, Alexander
Reihe
Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 29
Erschienen
Berlin 2008: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Miethke, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

Das Frankfurter Forschungskolleg hat in der Reihe, die seinen Namen trägt, erneut relativ zügig einen Sammelband zur Dokumentation eines Internationalen Symposiums vorgelegt, das sich im Februar 2007 dem Thema der mittelalterlichen Theorie einer praktischen Wissenschaft widmete. Die einzelnen Aufsätze sind chronologisch auf das frühe Spätmittelalter konzentriert, es soll "die Untersuchung des Selbstverständnisses der praktischen Wissenschaften" im Mittelpunkt stehen, "wie es sich im 13. und 14. Jh. im Umkreis der Höheren Fakultäten der Universität sowie insbesondere innerhalb der Philosophie artikuliert" hat (S. 8). Damit soll in Hoch- und Spätscholastik vor allem die Wissenschaftsfähigkeit des theologischen, juristischen und medizinischen Wissens und der Wissenschaftsanspruch der Philosophie und Theologie untersucht werden. Das Interesse der Beiträge gilt dabei immer wieder und hauptsächlich Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, schon Wilhelm von Ockham kann nur eine geringere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Erst recht werden die Ränder der Untersuchungszeit und die Sterne geringerer Ordnung nur relativ flüchtiger Blicke gewürdigt. Allein im letzten Beitrag wird (auch nur zum Teil) auf Nikolaus von Kues eingegangen.

Im Eröffnungsaufsatz liefert Kenneth Pennington ("The Practical Use of Roman Law in the Early Twelfth-Century", S. 11-31) eine Betrachtung des frühen praktischen Gebrauchs des Römischen Rechts im 12. Jh. (und damit der Frühscholastik), die den, wie er prägnant formuliert, 'Big Bang' des ius commune (S. 31) vorstellt, den Beginn der mittelalterlichen Nutzung des Römischen Rechts, wie es im Corpus Iuris Civilis wieder entdeckt worden war, zur Entwicklung einer europäischen Rechtskultur und Rechtswissenschaft. Dabei soll geprüft werden, seit wann das Römische Recht andere mittelalterliche Rechtssysteme und Institutionen zu beeinflussen begann und auch die sich von Haus aus nicht innerhalb des Römischen Rechts bewegenden Juristen (das heißt vor allem die Kanonisten) sichtbar beeindrucken konnte. Die Frage nach den Anfängen der Jurisprudenz als einer "praktischen Wissenschaft" wird damit zumindest phänomenologisch einer Antwort näher gebracht. Das normannisch-staufische Sizilien, subtil aufgespürte Wirkungen von Texten des Bulgarus sowie die frühscholastische Kanonistik, und hier vor allem Gratians "Decretum" (mit interessanten Textvergleichen und Hinweisen zur seit kurzem neu und heftig diskutierten Redaktionsgeschichte) bis hin zu einigen späteren Entscheidungen Papst Innozenz' III. werden überprüft, wobei die gefundenen Antworten auf die genannten Fragen naturgemäß oft nur tentativ und approximativ sein können. Insgesamt belegen die Textkonfrontationen aber erneut, dass das römische Recht im Zuge seiner Verwissenschaftlichung immer deutlicher praktische Konsequenzen zeitigte, welche die Konzeption einer praktischen Wissenschaft vor Augen stellen konnten und damit stilbildend wirkten.

Danielle Jacquart ("La médecine entre théorique et pratique: retour sur quelques définitions originelles", S. 33-42) widmet sich der weiteren höheren Fakultät später unbestritten praktischer Wissenschaft. Sie verfolgt auf vorwiegend theoretischer Ebene unterschiedliche Antworten zur Einordnung der Medizin in das (theoretisch-praktische) Gesamtsystem des Wissens und Handelns bei Medizinern (des XII. bis XIV. Jahrhunderts), wobei sich das fruchtbare Schwanken und Unsicherheiten wie Neuansätze in der literarischen Debatte letzten Endes schon aus der unentschiedenen Stellungnahme des Aristoteles zum theoretischen (epistéme) oder praktischen (téchne) Wissenschaftscharakter der Heilkunst herleiten lässt.

Zwei weitere Abschnitte des Bandes werden Albertus Magnus und seinem Schüler Thomas von Aquin eingeräumt. Albert hat bekanntlich als einer der ersten und mit besonderer Energie dem gesamten Corpus Aristotelicum seine Aufmerksamkeit geschenkt und hat sich auch die aristotelische Wissenschaftstheorie folgenreich und originell angeeignet. Francisco Bertelloni ("Die Philosophia moralis als Enzyklopädie menschlicher Handlungen - zu Alberts des Großen Kenntnisnahme von der aristotelischen Politik", S. 45-59) präpariert mit Scharfsinn die Folgen heraus, die die Lektüre der gerade erst von Wilhelm von Moerbeke aus dem Griechischen übersetzten "Politik" des Stagiriten für Alberts Gesamtverständnis der praktischen Wissenschaften und insbesondere für seine politische Theorie hatte. Walter Senner ("Theologia scientia affectiva oder scientia secundum pietatem bei Albertus Magnus - eine Alternative zur Dichotomie scientia theoretica aut practica? S. 61-72) wendet sich der Theologie zu und entwickelt gegenüber der später so wichtig gewordenen Frage, ob sie eine spekulative oder praktische Wissenschaft sei, den von Albert früh eingesetzten Akzent auf ihre affektive Seite, einen Charakter, der dann im Spätmittelalter bekanntlich eine neue Blüte erleben sollte.

Für die aristotelische Wissenschaftslehre des Aquinaten entwickelt dann zunächst Klaus Jacobi ("Actus circa singularia sunt - scientia non est de singularibus. Thomas von Aquins Konzeption einer praktischen Wissenschaft, S. 75-87) die durchaus in aristotelischer Tradition verbleibende theoretische Grundlegung einer praktischen Wissenschaft. Danach konzentrieren sich die beiden Herausgeber des Bandes, Matthias Lutz-Bachmann ("Praktisches Wissen und 'Praktische Wissenschaft': Zur Epistemologie der Moralphilosophie bei Thomas von Aquin", S. 89-96) und Alexander Fidora ("Zum epistemologischen Status der Medizin in der Summa Avicennae und bei Thomas von Aquin", S. 97-105) auf die erkenntnistheoretische Verortung einerseits der praktischen Philosophie und andererseits der Medizin in den Schriften des Aquinaten (und seiner arabischen Vorgänger). Colleen McCluskey ("Thomas Aquinas and the Epistemology of Moral Wrongdoings", S. 107-122) behandelt das Spezialproblem der ethischen Theorie Aquins, wie und wodurch es zu Übeltaten kommen kann. Das wird geduldig der ethischen Psychologie insbesondere der Summa theologiae nachbuchstabiert. Dabei unterstreicht die Untersuchung immer wieder die Priorität des Intellekts gegenüber dem an jeder Handlung zugleich beteiligten Willen und den Passionen. Die von Thomas' Lösung abweichenden Vorstellungen seiner Vorgänger, Schüler und Gegner kommen jedoch nicht gesondert in den Blick, so dass die Lösungen des Aquinaten sozusagen als klassische Anworten erscheinen.

Der Spätscholastik widmen sich im letzten Abschnitt des Bandes noch drei weitere Beiträge: Hannes Möhle ("Zur Freiheit verurteilt. Zu den Voraussetzungen der praktischen Wissenschaft im 13. und 14. Jahrhundert", S. 125-142) behandelt das halbe Jahrhundert der Debatte um Freiheit und Necessitarianismus seit der berühmten Pariser Lehrverurteilung durch Stephan Tempier von 1277 bis zu Johannes Duns Scotus. Auch Josep-Ignasi Saranyana ("Zur Theologie als praktischer Wissenschaft im 13. und 14. Jahrhundert", S. 143-151) konzentriert sich auf das Konzept des doctor subtilis, das er vor allem der thomasischen Vorstellung gegenüberstellt. Ein heftiger Ausfall in Luthers Tischreden dient dabei von Anfang an als Negativfolie: "Vera theologia est practica et fundamentum eius est Christus […]. Speculativa igitur theologia, die gehört in die hell zum Teuffel", ohne dass deren christologische Pointe aufgegriffen würde. Gerhard Krieger ("Ius naturale non est immutabile - alligabatur necessitati voluntaria subiectio. Wilhelm von Ockham und Nikolaus von Kues über die Begründung politischer Herrschaft", S. 153-166) holt am Ende weit aus und schlägt einen großen Bogen von Ockham über Marsilius von Padua und Johannes Buridan bis zu Nikolaus von Kues, der mit der im Titel seines Beitrags zitierten Formel das von Ockham zuerst aufgeworfene Problem beantwortet und "gelöst" habe (S. 157). Freilich wird das in begrifflicher Konfrontation, nicht in philologisch-historischer Textanalyse verfolgt. So wird gar nicht erwogen, dass Ockhams berühmte Unterscheidung (III Dialogus II iii, c. 6) der drei modi des Naturrechts (von denen nur der erste die unmittelbare und unwandelbare Norm allen Verhaltens ist) aus einer subtilen Interpretation einer Definition des Ius naturale durch Isidor von Sevilla (Etymologiae V 4) hergeleitet wird, die Gratian in sein "Decretum" aufgenommen hatte (Dist. 1, c. 7), und die daher jedem Gelehrten damals gegenwärtig war. Die Unterscheidung will also gerade die Einheit des Naturrechts bei unterschiedlicher Geltung seiner Normen in politischer Theorie festhalten. Die Position des Cusanus ist aber in der "Concordantia catholica" zweifellos stärker am consensus der Beherrschten interessiert als es Nikolaus, der "Herkules der Eugenianer" dann in späteren "papalistischen" Texten festhalten sollte. Hier hätte eine historisch differenzierende Analyse noch manche Nuancierung veranlassen können.

Insgesamt wird man dem Band zugestehen, dass er sein Thema wenn auch nicht abschließend, so doch förderlich und weiterführend behandelt. Deutlich wollen sämtliche Beiträge nicht etwa das sonst so weit verbreitete Cliché einer theorieverstiegenen Scholastik bedienen, sondern die praktischen Implikationen mittelalterlicher scholastischer Wissenchaftsbemühungen in den Blick nehmen. Damit vermögen sie das Verständnis und die Grundlegung eines letztendlich neuartigen Begriffs der "praktischen Wissenschaft" als eine originär mittelalterliche Leistung näher zu beleuchten.