H. Weitensfelder: "Römlinge" und "Preußenseuchler"

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Titel
"Römlinge" und "Preußenseuchler". Konservativ-Christlichsoziale, Liberal-Deutschnationale und der Kulturkampf in Vorarlberg, 1860 bis 1914


Autor(en)
Weitensfelder, Hubert
Reihe
Österreich Archiv
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Kasper, Institut für Geschichte und Ethnologie, Universität Innsbruck

Die Konservativ-Christlichsozialen und die Liberal-Deutschnationalen bildeten in Vorarlberg, einer an der Grenze der Habsburgermonarchie gelegenen Region, die häufig von Entwicklungen in der Schweiz und Süddeutschland beeinflusst wurde, im Zeitraum vom ausgehenden Neoabsolutismus bis zum Fin de sciècle ebenso wie in zahlreichen anderen Territorien Österreich-Ungarns die beiden bedeutendsten politischen Lager. Hubert Weitensfelder schildert im vorliegenden Buch die Entstehung, Transformation und die inneren Strukturen dieser beiden großen politischen Strömungen, sowie entsprechender Vereine und Publikationsorgane als deren „Medien“ der regionalen Politik. Besonderes Augenmerk wird dabei den vielfältigen weltanschaulichen Differenzen in Bezug auf die Kompetenzverteilung zwischen katholischer Kirche und Staat, die auch als „Kulturkampf“ bezeichnet werden, gewidmet.

Da über die Geschichte dieser politischen Lager in Vorarlberg bisher nur recht wenige Publikationen vorliegen, komplettiert Weitensfelder, der in den letzten zwei Jahrzehnten zahlreiche Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte dieser Region seit der Industrialisierung vorgelegt hat, seine Forschungen, indem er nun auch die Aspekte der politischen Lagerbildung und der damit zusammenhängenden „Kulturkämpfe“ (S. 158) in den Blick nimmt. In seiner vorliegenden Arbeit stellt er zuerst ausführlich die Vereine und Zeitungen als wichtigste Medien der Landespolitik dar (S. 32-71) und geht in der Folge auf die jeweilige Entwicklung der konservativ-christlichsozialen (S. 72-114) beziehungsweise der liberal-deutschnationalen (S. 115-157) Bewegung ein. Zum Abschluss folgt ein umfangreiches Kapitel über „Kulturkämpfe“ (158-228), die auf der Grundlage unterschiedlichster gesellschaftlicher Aspekte und „Unmengen von Nuancen“ (S. 10) näher beleuchtet und eingeordnet werden. Diese Auseinandersetzungen zwischen katholischer Kultur und Säkularisierung betrafen unter anderem die Sonntagsheiligung, die Zivilehe, die Feuerbestattung, die Unterschiede im literarischen Geschmack, die Rezeption des Darwinismus, den Kampf um die Vorherrschaft im Schulwesen und bei den Lehrerorganisationen sowie die Rolle der vehement umstrittenen Jesuiten und Freimaurer.

Während die liberalen Kräfte, die in erster Linie von Beamten und Fabriksbesitzern repräsentiert wurden, aufgrund eines Wahlrechts, das sich an den Prinzipien von Bildung und Besitz orientierte, seit den 1860er-Jahren im Vorarlberger Landtag den Ton angaben, konnte sich die konservative Bewegung dort anfangs nur langsam etablieren. Mit der „Erdrutschwahl“ (S. 230) erlangte das sich erst seit kurzem formierende konservative Lager im Jahr 1870 jedoch eine absolute Mehrheit im Land, die es in der Folge bis ins 20. Jahrhundert beibehalten konnte. Die Konservativen, die in weiterer Folge in die christlich-soziale Bewegung übergingen, stützen sich bei ihrer Machterhaltung auf die breiten Wählerschichten der Kleinbauern und der kleinen Gewerbetreibenden sowie auf ihr wichtigstes Medium – das "Vorarlberger Volksblatt." Den von den Liberalen geprägten Städten stand bis ins frühe 20. Jahrhundert der konservativ dominierte ländliche Raum gegenüber. Mit der Ausweitung der Zahl der Wahlberechtigten auch auf der kommunalen Ebene konnten die Christlich-Sozialen aber schließlich in allen Städten bis auf die Landeshauptstadt Bregenz die Mehrheit erlangen.

Regionalhistorische Darstellungen sollten, wenn sie nicht auf die Besonderheiten einer Art Heimatgeschichte beschränkt sein wollen, von exemplarischen und komparativen Fragestellungen geprägt sein. Von großer Relevanz erweist sich deshalb die Fähigkeit der Autorinnen und Autoren besonders dem vergleichenden Anspruch Rechnung zu tragen. Aus diesem Grund mag der ausführliche Überblick über die unzähligen Konflikte im Namen der „Kulturkämpfe“ für die nicht mit der Region vertraute Leserschaft von eingeschränktem Interesse sein, wenn man von einigen im Detail sehr gut erläuterten Ereignissen absieht. Der Eindruck der Lokalgebundenheit der Arbeit wird durch das Fehlen einer Übersichtskarte der Untersuchungsregion allerdings noch verstärkt, so dass die jeweiligen Ortskenntnisse erst aus regionalspezifischen Landkarten bezogen werden müssen.

Doch Hubert Weitensfelder schreibt nicht nur für ortskundige Rezipientinnen und Rezipienten im näheren Umfeld, denn in einem kurzen Einleitungskapitel (S. 16-31) stellt er seinen eigenen Ansprüchen der „Einordnung [der Darstellung] in einen größeren Zusammenhang“ (S. 10) beziehungsweise, dass „Landesgeschichte [...] nicht an den Landesgrenzen enden [kann]“ (S. 16) entsprechend, die nun folgenden Inhalte in einen überregionalen Kontext. Dabei geht er in erster Linie auf die Entwicklung der weltanschaulichen Lager in den Alpenländern sowie in der Habsburgermonarchie ein. Auch in der Zusammenfassung werden immer wieder überregionale Vergleiche in den Vordergrund gestellt. So verortet Weitensfelder die politischen Entwicklungen in Vorarlberg „zwischen Tirol einerseits, das von Anfang an über einen konservativen Landtag verfügte, sowie Salzburg und Oberösterreich andererseits, wo die Konservativen in den 1870er- und 1880er-Jahren die Macht eroberten, während andere Kronländer wie Kärnten und die Steiermark bis zum Ersten Weltkrieg über liberale bzw. deutschnationale Mehrheiten verfügten“ (S. 230). Es scheint jedoch, dass der aktuelle Forschungsstand zum politischen Katholizismus und zu jenen Prozessen und Dynamiken, die es der katholischen Kirche ermöglichten, ihre nach 1803 verloren gegangene weltliche Herrschaft durch eine geistliche zu ersetzen, in Weitensfelders Untersuchung nur am Rande Berücksichtigung findet. Den akribisch recherchierten und äußerst umfassend ausgewerteten Vorarlberger Zeitungen, die Weitensfelder als „die wichtigste gedruckte Quelle für die politische Geschichte nach 1860“ (S. 55) bezeichnet, als Publikationsorgane der politischen Gruppierungen, stehen bedauerlicherweise nur wenige zusätzliche Quellengattungen zur Seite. Daher reihen sich über weite Teile des Buches exemplarische Zitate aus den unterschiedlichen konservativen oder liberalen Zeitungen aneinander. Eine Einbettung in die gegenwärtige Forschung zum in ganz Europa intensiv ausgetragenen Kulturkampf zwischen national-liberalen, sich von der Kirche scharf emanzipierenden Staatsbildungsprozessen und ultramontanen beziehungsweise antimodernistischen Rekonfessionalisierungsversuchen fehlt jedoch über weite Strecken. 1

Die vorliegende Darstellung kann dennoch in ihrer Gesamtheit als sehr gute Zusammenfassung der Geschichte der beiden großen politischen Lager Vorarlbergs bis zum Ende des Fin de sciècle bezeichnet werden und ist aufgrund der vergleichenden Perspektiven zu den umliegenden Territorien auch für nicht mit der Region vertraute Leserinnen und Leser zu empfehlen. Auf die Aktualität der Thematik kann angesichts eines zeitgenössischen „kulturkämpferischen Klimas“ und politischer Debatten, in denen über den „Kampf der Kulturen“, Kontroversen zu Darwinismus und „intelligent design“ oder Auseinandersetzungen um religiöse Symbole diskutiert wird, ausdrücklich hingewiesen werden (S. 234).

Anmerkung:
1 Vgl. Christopher Clark / Wolfram Kaiser (Hrsg.), Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003.

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