R. Osborne: Debating the Athenian Cultural Revolution

Cover
Titel
Debating the Athenian Cultural Revolution. Art, Literature, Philosophy, and Politics 430 - 380 BC


Herausgeber
Robert, Osborne
Erschienen
Anzahl Seiten
XV, 341 S.
Preis
£ 55.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Mann, Brown University Providence

Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück, die im Juli 2004 an der Universität Cambridge stattfand. Er steht im Kontext des Forschungsprogramms “The Anatomy of Cultural Revolution: Athenian art, literature, language, philosophy and politics 430-380 BC”, als dessen zweiter Band er erschienen ist.1 Ziel des Programms, das vom „Arts and Humanities Research Board“ gefördert wird, ist eine detaillierte und umfassende Analyse des kulturellen Wandels, der sich in Griechenland an der Wende vom 5. zum 4. vorchristlichen Jahrhundert vollzog. „Kultur“ ist dabei im weitesten Sinne verstanden, das heißt unter Einschluss demographischer, sozialgeschichtlicher und politischer Phänomene.

In einem ausführlichen einleitenden Beitrag erläutert Robin Osborne („Tracing cultural revolution in classical Athens, S. 1-26) die Zielsetzung des Bandes. Als gegeben wird vorausgesetzt, dass sich in den Jahren 430-380 v.Chr. ein tief greifender Wandel in allen Bereichen der athenischen Gesellschaft vollzogen habe. Das Wie und das Warum hingegen seien umstritten: Die frühere Forschung habe zur Erklärung auf den psychologischen Effekt der Katastrophen am Ende des 5. Jahrhunderts hingewiesen, auf die große Seuche, die Niederlage gegen Sparta und die oligarchische Terrorherrschaft. Der selbstbewusste athenische Demos des 5. Jahrhunderts habe sich zur traumatisierten Bürgerschaft des 4. Jahrhunderts entwickelt, die nicht mehr an die frühere Leistungsfähigkeit habe anknüpfen können. Von einer solchen Dekadenzvorstellung setzt sich Osborne betont ab: Es gehe nicht um einen Niedergang, sondern um einen Wandel.2 Um ein möglichst umfassendes Bild der Prozesse zu gewinnen, müssten verschiedene Bereiche des öffentlichen Lebens – Politik, Religion, Kunst usw. – einer genauen Analyse unterzogen und insbesondere herausgestellt werden, in welchem Kausalverhältnis die einzelnen Veränderungen standen.

Vier Beiträge thematisieren Veränderungen im politischen und sozialen Bereich. So befasst sich Ben Akrigg („The nature and implications of Athens’ changed social structure and economy“, S. 27-43) mit dem demographischen Einbruch am Ende des 5. Jahrhunderts. Er schätzt die Gesamtpopulation Attikas zu Beginn des Peloponnesischen Krieges auf etwa 300.000 Menschen und errechnet bis zum Ende des Jahrhunderts einen Rückgang zwischen einem Drittel und der Hälfte. Diese Zahlen bewegen sich im Rahmen früherer Schätzungen, und auch Akrigg vermag keine neue Methodik zur Berechnung zu liefern; er präsentiert aber interessante Überlegungen zu den ökonomischen Auswirkungen: Durch den Bevölkerungseinbruch habe sich das Verhältnis von verfügbarem Land zu verfügbaren Arbeitskräften verändert, was eine Steigerung des Wertes von Arbeit zur Folge gehabt habe. Aufgrund eines Vergleichs mit dem spätmittelalterlichen England nimmt er an, dass im Athen des 4. Jahrhunderts eine Tendenz zur gleichmäßigeren Verteilung von Gütern bestand. Profitiert von der Situation hätten auch die Sklaven, denen aufgrund des Mangels an Arbeitskräften zunehmend wichtige ökonomische Positionen, beispielsweise im Bankenwesen, zugefallen seien.

Von den drei Aufsätzen mit archäologischer Thematik sei hier auf den Beitrag von Katharina Lorenz eingegangen („The anatomy of metalepsis: visuality turns around on late fifth-century pots“, S. 116-143), in welchem die Veränderungen in der Vasenmalerei des späten 5. Jahrhunderts diskutiert werden. Den Ausgangspunkt bilden Forschungsansätze, welche diese Veränderung direkt aus außerhalb der Gattung liegenden Entwicklungen ableitet: Entweder wurden die im Vergleich zum Anfang und Mitte des 5. Jahrhunderts zumeist friedvollen Szenen als eskapistische Reaktion auf die Schrecken des Peloponnesischen Krieges gedeutet, oder man fasste sie als Folge der zunehmenden Literarisierung einer Gesellschaft auf, für die Bilder zu Illustrationen bekannter Texte wurden.

Lorenz setzt diesen Annahmen eine Analyse der visuellen Erzählstrategien entgegen, wobei sie auf das in der Literaturwissenschaft entwickelte Modell der Metalepsis zurückgreift; dieses wird dazu eingesetzt, ein Überschreiten narrativer Grenzen zu erfassen, etwa die direkte Anrede des Lesers in einem Text. Ein für die Bildanalyse modifiziertes Modell wird exemplarisch auf drei Beispiele angewandt: Dargestellt wird, wie das Bild den Betrachter dazu auffordert, den Blickwinkel zu verändern, um das ganze Geschehen zu erfassen. Dabei handelt es sich nicht nur um eine simple Unterscheidung zwischen Vorder- und Rückseite einer Vase, wie dies in früheren Epochen die Regel war, sondern um einen dynamischen, sowohl horizontalen als auch vertikalen Wechsel der Ansicht. Lorenz interpretiert dies als eine neue visuelle Strategie der Vasenmaler, nicht als eine Reaktion auf den Krieg oder eine Unterordnung der Bilder unter Texte.

Aus den fünf Beiträgen zu literarischen Gattungen sticht der Aufsatz Edith Halls („Greek tragedy 430-380 BC, S. 264-287) heraus. Dies ist überhaupt der einzige Aufsatz des Bandes, der sich direkt auf den im Titel des Bandes genannten Untersuchungszeitraum bezieht. In der Gattung der Tragödie, so Hall, ließen sich in den betreffenden 50 Jahren eine ganze Reihe von Veränderungen beobachten, sie nennt etwa das Aufkommen neuer musikalischer Ausdrucksformen und die zunehmende theoretische Durchdringung der Gattung. Den meisten Raum räumt sie einem Phänomen ein, das sie als „Globalisierung“ der Tragödie bezeichnet: Zum einen habe sich die Gattung auch außerhalb der Grenzen Attikas verbreitet, zum anderen hätten sich auch die Themen von einer spezifisch athenischen Prägung gelöst; es seien zunehmend allgemeine, auch außerhalb der Polis Athen relevante Fragen auf der Bühne verhandelt worden.

Aber kann man diese Veränderungen als Revolution bezeichnen? Hall weist auf die Schwierigkeit hin, einzelne Kriterien dingfest zu machen, die einen Wandel als Revolution erscheinen lassen. Im konkreten Fall der Tragödie handele es sich eher um Veränderungen gradueller Natur, und es sei auch eine beachtliche Kontinuität zu beachten: Nach wie vor wurden Tragödien von drei Schauspielern sowie einem Chor aufgeführt, im Zentrum der Handlung standen Familien einer mythologischen Vergangenheit, der Einsatz von Masken habe fortbestanden usw.

Diese Zusammenfassungen ausgewählter Beiträge können die Vielfalt des Bandes nur andeuten. Der Anspruch, möglichst viele Bereiche und Aspekte zu diskutieren, wird zweifellos eingelöst. Dazu trägt auch bei, dass der Herausgeber keine Vorgaben hinsichtlich eines theoretischen Rahmens oder methodischen Konzepts gemacht hat. So hatten die Autoren/innen Freiraum für exzellente Beiträge, die sich durch klare Gedankenführung und weiterführende Thesen auszeichnen. Auf der anderen Seite legt man den Band wegen seiner Heterogenität auch etwas ratlos beiseite. Osborne selbst ist überzeugt, dass der Revolutionsbegriff angemessen ist, und postuliert eine tiefe Zäsur zwischen dem Athen des 5. und des 4. Jahrhunderts: Während in ersterem das Vertrauen in die kollektive Stärke der Athener das prägende Merkmal gewesen sei, hätten die Katastrophen des Peloponnesischen Krieges die Bindung zwischen Individuum und Polis gelockert. Die meisten der Beiträge zeichnen hier ein ganz anderes Bild: Danach scheint es erstens unklar, inwieweit die Veränderungen zwischen 430 und 380 überhaupt gravierender waren als in den halben Jahrhunderten davor oder danach, zweitens erscheint es in Anbetracht der vielen gattungsspezifischen Entwicklungen sehr zweifelhaft, ob sich diese zu einem auch nur halbwegs einheitlichen Bild zusammenfügen lassen.

Anmerkungen:
1 Der erste Band thematisierte die Konstruktion von Wandel als Revolution: Simon Goldhill / Robin Osborne (Hrsg.), Rethinking Revolutions through Ancient Greece, Cambridge 2006.
2 Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Dekadenzthese in der Forschung längst überholt ist, man vergleiche etwa Walter Eder (Hrsg.), Die athenische Demokratie im 4. Jahrhundert v.Chr., Stuttgart 1995. Dieses Werk fehlt im Literaturverzeichnis, ebenso wie viele andere wichtige Beiträge der französischen, italienischen und deutschen Forschung zum Thema.

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