Cover
Titel
Red Prometheus. Engineering and Dictatorship in East Germany, 1945-1990


Autor(en)
Augustine, Dolores
Reihe
Transformations: Studies in the History of Science and Technology
Erschienen
Cambridge 2007: The MIT Press
Anzahl Seiten
XXX, 381 S.
Preis
£ 25,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Schultze, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Auch angesichts des vor kurzem erschienenen fünften und damit auch letzten Bandes von Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte stellt sich erneut die Frage: Was war die DDR? Welche Gesellschaft lebte und arbeitete in ihr? Einen möglichen Ansatzpunkt, um mehr darüber zu erfahren, kann die wissenschaftliche Untersuchung von einzelnen Feldern innerhalb der gesellschaftlichen Professionen, wie dem Ingenieurwesen oder der gesellschaftlichen Inklusion von Technik und Technikwissenschaft, bieten. Auch wenn Wehler diesen Komplex weit gehend ausblendet, stellt es dennoch eine für die DDR wichtige Untersuchungsgröße dar. Denn von dem in ihrer Weltanschauung vorherrschenden Gefüge aus Fortschrittsglauben und technischer Überlegenheit versprach sich die Partei- und Staatsführung mit Hilfe der Sowjetunion einen Sonderweg in Wissenschaft und Technik gehen zu können, um dadurch letztlich auch die Attraktivität des Sozialismus zu erhöhen.

Obwohl die Forschungen zur SBZ/DDR insgesamt eine Projektzahl jenseits der Tausender-Grenze erreicht haben, sind Studien nach wie vor rar gesät, die sowohl die Führungsgruppen in der DDR als auch die technische Intelligenz und deren Verhältnis zueinander sowie zur Staats- und Parteiführung analysieren. Dieser Forschungsstand verblüfft, weil das Vorhandensein loyaler Eliten als eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren des SED-Staates betrachtet wird. Dolores Augustine geht in ihrer Studie dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und deren Akteuren und dem totalitären Anspruch der SED-Herrschaft in der DDR nach – immerhin eines der Länder des Ostblocks mit vergleichsweise fortschrittlichster Technologie. In Red Prometheus beleuchtet sie das Verhältnis zwischen dem diktatorischen Regime und den ingenieur- und ingenieurwissenschaftlichen Kreisen in der SBZ/DDR vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis 1990. Ihre zentrale Leitfrage ist dabei: „What is the relationship between dictatorship and science?” (S. XI).

Um die Ausgangslage der technischen Intelligenz und der Ingenieursprofession in Deutschland nach 1945 zu verstehen und zu beschreiben, ist es notwendig, deren Situation am Ende des Dritten Reiches und ihrer 1946 erfolgten Zwangsverschickung in die UdSSR zu betrachten. Dolores Augustine stellt im ersten Kapitel den „Great Eastward Trek“ der deutschen technischen Elite dar und zeigt, wie mit deren „Entdeckung“ durch die Sowjetunion auch ein (individueller) modus vivendi mit dem Kommunismus einherging (S. 13-22). Obwohl nur eine Minderheit der „Spezialisten“ selbst Kommunisten wurden, kehrten die meisten von ihnen in die SBZ/DDR und nicht in die Bundesrepublik zurück. Vielen von ihnen schien die Abwesenheit von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der DDR keine großen Probleme bereitet zu haben, da sie bereits durch ihre Erfahrungen mit der Weimarer Demokratie desillusioniert worden waren (S. 32). Anhand von Fallbeispielen (der Spezialisten Barwich und Hartmann etwa) zeichnet Augustine diese Entwicklung nach.

Im zweiten Kapitel verfolgt Augustine die Versuche zur Vereinnahmung der „alten Intelligenz“ und zur Schaffung einer „neuen Intelligenz“, die der Staats- und Parteiführung loyal ergeben sein sollten. Das Feld zwischen den „High-Tech Pioneers“ und der kommunistischen Bürokratie während der Ulbricht-Ära bildet den zentralen Analysegegenstand des vierten Kapitels. Dabei zeigt sich einmal mehr, dass es der SED-Führung gelungen war – etwa im Gegensatz zu ČSR oder Polen –, schon zu Beginn der 1950er-Jahre die Ideologisierung der Hochschullehrer, den Austausch der alten Professoren und die Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung der Studentenschaft mit Nachdruck gänzlich durchzusetzen. Die Untersuchung von Dolores Augustine zeigt hierbei allerdings – anhand biografischer Fallbeispiele von Spezialisten auf den Gebieten Halbleitertechnik, Mikroelektronik, Laser, Computertechnik, ziviler Luftfahrt und Atomkraft –, dass dieser Weg im Zickzack verlief und nur durch massive Zugeständnisse an die alten Experten zu erreichen war. Eine bisher eher unbekannt gebliebene Quelle stellt der Nachlass des Mikroelektronik-Spezialisten Werner Hartmann dar (besonders S. 125-132). Die teilweise immens hohen Gelder und wertvollen Ressourcen, die von der DDR Staats- und Parteiführung in diese Projekte investiert wurden, erhalten vor dem Hintergrund des Anspruchs, eine Alternative zur Bundesrepublik zu sein, heuristischen Wert, da ein Vehikel zu diesem Zweck der technische Fortschritt sein sollte. Daher auch Augustines – mittlerweile auch andernorts vorgebrachte – These, dass die ökonomischen Entscheidungen der DDR nur im Zusammenhang mit den kulturellen Vorstellungen insbesondere bezüglich Fortschritt, Technik und Naturwissenschaft innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft verstanden werden können. Schon zu Beginn der 1950er-Jahre wurden Wissenschaft und Technik in der DDR zu maßgeblichen Faktoren beim Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung erklärt – eine Entwicklung, die bis in die 80er-Jahre gesellschaftliche Wirkung entfaltete.

Drei Themen bilden den Leitrahmen des Forschungsinteresses im sechsten Kapitel: Zuerst geht Augustine den kulturellen Einflüssen nach, die bestimmend auf die ostdeutsche Technophilie einwirkten. Die Art und Weise der Popularisierung von Technik, was auch in die Frage des „gendering of technology“ hineinspielt, ist das zweite Interessensziel der Autorin. Sie stellt drittens folgerichtig die Frage, inwieweit die Begeisterung für die Technik in der DDR genuin öffentlichkeitswirksam wurde (S. 201-203). Jeder Einwohner sollte von Naturwissenschaft und Technik angesprochen und euphorisiert werden: Politische Inhalte, wie Plakate zu Parteitagen, verknüpfte die SED oft mit technischen Inhalten (S. 207), und die Jugend wurde durch Film, Fernsehen und Zeitschriften auf Technik und Ingenieurwesen hingewiesen, ja fokussiert. Dabei wird klar, dass in der Tat für viele Menschen in der DDR Exponenten dieser Lebensweise, wie Siegmund Jähn (der erste Deutsche im Weltraum, 1978) Vorbild- und Leitfunktion besaßen. (Der Nachwende-Film „Good By Lenin“ weist auf dieses Motiv auf originelle Weise hin.) Dolores Augustine arbeitet die Durchdringung der Welt der Kinder und Jugendlichen mit technisch-naturwissenschaftlichen Motiven und Bildern am Beispiel populärer literarischer Zeugnisse heraus: insbesondere des Buchs „Weltall, Erde, Mensch“ und des Comic‘ „Das Mosaik“. Leider kommen beim „Mosaik“ neben der Inhalts- und Bildanalyse die politischen Motive sowie die Rezeption dieser überaus erfolgreichen und auflagenstarken Zeitschrift (1974 etwa 675.000 Exemplare) bei technisch interessierten Erwachsen und Ingenieuren etwas zu kurz.1

Das Ingenieurwesen und die Computerwissenschaft während der Ära Honecker findet in Kapitel Sieben Platz. Klar wird, dass dieser Zeitraum kein Triumph des „sozialistischen Ingenieurs“ war. Die Idee der wissenschaftlich-technischen Revolution verlor in den 1970er- und 1980er-Jahren immer mehr an Bedeutung, sodass sich bis 1980 die Zahl der wissenschaftlichen und technischen Absolventen halbierte (S. 261). Beachtung verdient das interessante wie aufschlussreiche Oral History Projekt, das besonders die Lebenssituation von Technikerinnen und Ingenieurinnen in der späten DDR näher bringt.

Falls man von einer Sowjetisierung der DDR sprechen kann, stellt sich die Frage, warum dieser realsozialistische Staat im Bereich von Wissenschaft und Technologie so verschieden von der UdSSR aber auch von Westeuropa war. Dafür sind – nach Augustine – vor allem zwei Faktoren verantwortlich: Die militärische Forschung stand in der DDR zumeist hinten an, sodass sich Ingenieure und Industrieforscher unterbezahlt und nicht herausgefordert fühlten. Zweitens käme – Augustine sieht dies zumindest als Teilerklärung an (S. 349) – die omnipräsente Staatssicherheit hinzu, die stets versuchte, Einfluss auf Innovationsprozesse zu erhalten oder auszubauen. Daher hält es die Autorin für wahrscheinlich, dass die DDR größere Erfolge hätte verbuchen können, wenn es der Staatssicherheit nicht erlaubt worden wäre, einen so großen Einfluss auszuüben.

Das Buch enthält ein Personen- und Sachregister sowie zahlreiche Bilder und Illustrationen. Neben einer umfangreichen Zeitzeugenbefragung wurden relevante Bestände aus Landes-, Staats- und Bundesarchiven genutzt. Schwerpunkte bildeten hierbei das Material aus dem Archiv der BStU und dem Bundesarchiv Berlin.

Insgesamt liegt eine tief greifende und klar strukturierte Analyse vor, die durch eine beeindruckende empirische Fleißarbeit das Spektrum der ostdeutschen Gesellschaft – auch für die Zeit nach 1990 – weiter zu erhellen hilft. Kritisch bleibt anzumerken, dass trotz der Nutzung individueller Biografien, Erinnerungen und Narrationen der Techniker und Ingenieure, technische Elite, technische Intelligenz, Staats- und Parteiführung sowie die sowjetische Besatzungsmacht mitunter zu holzschnittartig nebeneinander stehen, das Spannungsfeld zwischen ihnen allen erschließt sich kaum.

Anmerkung:
1 Selbst Manfred von Ardenne war ein begeisterter Digedag-Leser, vgl. Rüdiger Thomas, Die Welt als Comic. 50 Jahre Mosaik, in: Deutschlandarchiv 6/2005, S. 1033-1044, hier S. 139f.

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