Titel
Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über »Rasse« und Vererbung 1900-1935


Autor(en)
Lipphardt, Veronika
Erschienen
Göttingen 2008: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Geulen, Institut für Geschichte, Universität Koblenz-Landau

Das Subalterne spricht – und redet von der Rasse. So ungefähr ließe sich die Ausgangssituation der Studie von Veronika Lipphardt im postkolonialen Theoriejargon ausdrücken. Gegen kaum jemanden richtete sich der wissenschaftliche Rassendiskurs in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts deutlicher und mit schrecklicheren Folgen als gegen die Juden. Zumal in Deutschland waren sie das primäre Objekt einer obsessiven Biologisierung, die systematisch dabei half, ihnen ab 1933 das Recht auf die eigene Lebensform und schließlich auf ihre bloße Existenz abzusprechen. Und inmitten dieser Phase der Entstehung und Radikalisierung eines rassentheoretisch fundierten Antisemitismus begann eine nicht kleine Gruppe jüdischer Wissenschaftler, sich ernsthaft und mit wissenschaftlichem wie politischem Engagement selber mit der Rassentheorie zu beschäftigen, um ein für allemal die Frage zu klären: was ist dran an jener wissenschaftlichen Begründung der eigenen Inferiorität?

Lipphardt wählt einen sehr eigenen und innovativen Weg, sich diesem Phänomen der in Deutschland von Juden wie Nichtjuden geführten Debatte um die Existenz eine ‚jüdische Rasse‘ zwischen der Jahrhundertwende und 1935 (als die jüdischen Stimmen endgültig verstummten) zu nähern. Im Gegensatz zu vielen anderen Studien will sie weder die wissenschaftlichen Legitimationen politischer Ausgrenzung noch die politische Ideologisierung von Wissenschaft nachzeichnen. Vielmehr grenzt sie die Biowissenschaften der damaligen Zeit zunächst als einen besonderen Diskursraum mit eigenen Regeln und Rationalitäten vom Rest der Gesellschaft und den dort vorkommenden Formen des Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus ab. Gerade das aber ermöglicht es ihr, die innere Logik des rassentheoretischen Denkens zu Beginn des 20. Jahrhunderts umso genauer und relativ unabhängig von externen politisch-ideologischen Positionen zu rekonstruieren und zu entfalten. Diese Loslösung der im engeren Sinne wissenschaftlichen Debatten von den gesellschaftspolitischen Entwicklungen ist auch der Tatsache geschuldet und durch sie legitimiert, dass die jüdische Stimme hier, im Raum der Wissenschaft, überhaupt zu Wort kam und aufgrund der Mindeststandards wissenschaftlicher Kommunikation und Rationalität auch gehört wurde. Erst dieser engere wissenschaftshistorische Blick erlaubt es Lipphardt daher, die langjährige Debatte über die „jüdische Rasse“ als eine Debatte zu rekonstruieren – mit Gegenstimmen, Begründungen und dem Austausch von empirischen wie theoretischen Annahmen und Argumenten.

Zugleich wird in dieser Einführung überzeugend jenen Ansätzen eine Absage erteilt, die beim Blick auf die Geschichte von Rassismus und Antisemitismus immer noch von einem Missbrauch „echter“ Wissenschaft oder von Pseudo-Wissenschaft reden. Die Frage nach Rassen, Rassenmerkmalen und Rassenentwicklung bildete in den ersten drei bis vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einen zentralen und völlig akzeptierten Denk- und Forschungshorizont, war also alles andere als nur eine ideologisierte Peripherie der biowissenschaftlichen Diskussion. Vielmehr knüpften sich an das Rassenkonzept weitreichende Hoffnungen der rationalisierenden Ordnung einer komplexer werdenden Welt – Hoffnungen, die gerade im wissenschaftlichen Bereich oft quer zu parteipolitischen und ideologischen Positionen lagen und die verschiedensten Modelle einer Rassenordnung zuließen, inklusive der Visionen jüdischer Wissenschaftler.

Vor diesem Hintergrund rekonstruiert Lipphardt die Debatten und Auseinandersetzungen als ein Feld von in Konkurrenz, aber auch im Dialog stehender „biohistorischer Narrative“, die außerwissenschaftliche Fragen aufgriffen und sie in evolutions- und rassentheoretische Theorien und Paradigmen übersetzten. Auf jüdischer wie nicht-jüdischer Seite bestand das Ziel dieser Bemühungen darin, einerseits ein allgemeines, mit der außerwissenschaftlichen Relevanz der Rassenkonzepte einhergehendes Orientierungsbedürfnis zu befriedigen, andererseits aber auch darin, sich der eigenen kulturellen und professionellen Identität zu versichern.

Den jüdischen Wissenschaftlern wurde dieser doppelte Sinn ihrer Forschung durch die zunehmende Anfeindung zunächst zwar aufgezwungen, doch waren viele von ihnen auch subjektiv davon überzeugt, im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion dem Antisemitismus tatsächlich und effektiv entgegentreten zu können. Lipphardt bezeichnet diese Bemühungen treffend als den Versuch, „die Juden der biologischen Logik zu entziehen, ohne dabei den Rahmen der Biologie zu verlassen“ (S. 306). So wurde das Konstrukt einer ‚jüdischen Rasse‘ von vielen Wissenschaftlern mit jüdischem Hintergrund gerade dadurch kritisiert und modifiziert, dass man den Wirkungsweisen biologischer Gesetze und Mechanismen einen viel breiteren und vielfältigeren Spielraum einräumte, die starre Vorstellung einer jüdischen Rasse also durch die Vielfalt einer „Biologie der Juden“ abzulösen versuchte.

Detailliert rekonstruiert Lipphardt, was diese Ideen in der wissenschaftlichen Debatte insbesondere der 1920er-Jahre auslösten: auf Seiten der nichtjüdischen Wissenschaftler hatten sie immerhin für eine Weile den Effekt, das Judentum nicht mehr vorschnell mit bestimmten Rassencharakteristika gleichzusetzen und in der Aufzählung von rassenschädlichen Merkmalen den bis dahin obligatorischen Verweis auf die jüdische Rasse, ihre Eigenschaften und Verhaltensweisen, wegzulassen. Die Folge dieser Sprachregelung aber war nur eine regelmäßige Leerstelle, die für jeden sichtbar das Fehlende markierte. Die jüdischen Wissenschaftler dagegen verfingen sich zusehends im double-bind ihres Anspruchs, der Biologie ihren immanenten Antisemitismus auszutreiben und zugleich ihren Platz und ihre eigene Stellung im biowissenschaftlichen Diskurs zu finden und zu behaupten. Einige machten dabei Zugeständnisse an den mainstream der Wissenschaft, die soweit gingen, noch die Eugenik als eine mögliche Option bei der Bekämpfung antijüdischer Vorurteile in Betracht zu ziehen. Die meisten aber versuchten, die Rassentheorie gleichsam von innen heraus so zu entwickeln und zu transformieren, dass sie nicht mehr unmittelbar mit einer antisemitischen Weltsicht identisch war.

Diesem Bemühen aber stand die Tatsache entgegen, dass Antisemitismus und Rassenbiologie – dies ein weiterer von Lipphardts wichtigen Befunden – viel enger miteinander verwoben waren, als ein großer Teil noch der heutigen Forschung annimmt. Vor allem diesen Zusammenhang schlüsselt Lipphardt überzeugend mit ihrem Konzept der ‚biohistorischen Narrative‘ auf, von denen der Antisemitismus schon lange vor seiner ‚Verwissenschaftlichung‘ im Ausgang des 19. Jahrhunderts lebte, und die sich umgekehrt bis weit in die scheinbar strikt nomologischen Denkweisen der empirisch arbeitenden Biowissenschaften des 20. Jahrhunderts hinein erhielten. Vor diesem Hintergrund hatten die meisten Rationalisierungsversuche jüdischer Wissenschaftler, die Zugehörigkeit der Juden zur europäischen Kultur biologisch-empirisch nachzuweisen, oft nur den Effekt, den antisemitischen Diskurs in seiner ständigen Vermischung von Biologie und Kultur noch zu intensivieren.

Mit ihrer Rekonstruktion dieser Versuche liefert Lipphardt einen wertvollen Beitrag nicht nur zur Geschichte jüdischer Wissenschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, sondern auch zum historisch-politischen Verständnis biowissenschaftlicher Formen der Identitätsbildung und Kulturbestimmung wie auch der kollektiven Exklusion und Anfeindung. Denn völlig zu Recht deutet sie ganz am Ende den Umstand an, dass die Biowissenschaften gerade heute wieder dazu tendieren, ihren eigenen Gegenstandsbereich zu verlassen, um ihren Geltungsanspruch weit in das Feld der Kultur hineinzutragen. Welche unheilvollen Folgen solche Nivellierungen disziplinärer Grenzen in bestimmten Kontexten haben können, zeigt Lipphardts hervorragende Studie mehr als eindrücklich am Beispiel jüdischer Biowissenschaftler im Kampf gegen eine antisemitische Biologie.

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