B. Engelkind u.a. (Hrsg.): Unbequeme Wahrheiten

Cover
Titel
Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden


Herausgeber
Engelking, Barbara; Hirsch, Helga
Reihe
edition suhrkamp 2561
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
309 S.
Preis
€ 12,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Keßler, Zenrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Die Betonung des jüdischen Opferstatus, so Jacek Kuroń, schmälere die Anerkennung der Polen als Opfer des Zweiten Weltkrieges. „Dem kollektiven Gedächtnis zufolge“, schreiben die beiden Herausgeberinnen dieses Buches im Vorwort, „hat die Mehrzahl der Polen den Juden im Zweiten Weltkrieg geholfen; Kollaboration, Denunziation, Erpressung und Mord waren das Werk einiger weniger Krimineller und extremer Nationalisten, die Gesellschaft und ihre politischen Repräsentanten blieben dagegen moralisch integer.“ (S. 9f.) Doch spätestens nachdem der polnisch-amerikanische Historiker Jan T. Gross 2000 sein Buch „Nachbarn“ über das Massaker von Jedwabne publiziert hatte1, musste sich die polnische Öffentlichkeit der Tatsache stellen, dass auch Polen im Holocaust ihre jüdischen Mitbürger verfolgt und ermordet hatten. Barbara Engelking, Leiterin des Zentrums zur Erforschung des Holocausts an der polnischen Akademie der Wissenschaften, und Helga Hirsch, die frühere „Zeit“-Korrespondentin in Warschau, haben vierundzwanzig Beiträge polnischer Wissenschaftler und Publizisten versammelt, die sich dieser Problematik annehmen.

Der inhaltliche Bogen der Essays ist weit gespannt. Er reicht von antisemitischen Vorfällen im Warschauer Aufstand über Auschwitz und das Bewusstsein des Holocaust, die Kontroversen über die vor der Gedenkstätte aufgestellten Kreuze bis hin zum Antisemitismus unter den Polen während und nach dem Krieg.

Die Tatsachen über Jedwabne sind bekannt: Am 10. Juli 1941 wurde die jüdische Bevölkerung der Kleinstadt von polnischen Einwohnern auf dem Marktplatz zusammengetrieben. Nachdem einzelne Juden dort bereits umgebracht worden waren, wurden die noch Überlebenden in einer Scheune außerhalb des Ortes zusammengetrieben und dort bei lebendigem Leibe verbrannt. In der Volksrepublik Polen galt das Massaker als Tat der Deutschen, wogegen der katholische Literaturwissenschaftler Jan Błoński 1987 entschieden anging; sein bemerkenswerter Beitrag ist auch in diesem Buch (S. 24-39) abgedruckt. Pikanterweise wiederholte auch nach 1989 der strikt antikommunistische Historiker Tomasz Strzembosz die Deutungen aus der Zeit der Volksrepublik, die aber spätestens durch die Ergebnisse von Gross’ Forschungen nicht mehr haltbar sind.

Doch zunächst reagierte das hegemoniale nationalistische Lager in Polen mit wütender Ablehnung auf Gross. Dies gipfelte 2006 in einer von der rechten Parlamentsmehrheit im Sejm durchgepeitschten Resolution, der (inoffiziell so genannten) „Lex Gross.“ Darin wurde jedem bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe angedroht, der öffentlich die polnische Nation der Teilnahme, Organisation oder Verantwortung für kommunistische oder nationalsozialistische Verbrechen bezichtigt. Die im anzuzeigenden Buch versammelten Stimmen wenden sich zumeist gegen diese Deutung, wobei anzumerken bleibt, dass ein Beitrag von Tomasz Strzembosz wegen Verweigerung der Druckgenehmigung nicht abgedruckt werden konnte. Es ist unmöglich, alle Beiträge zu resümieren, so dass eine Auswahl genügen muss.

Marek Wierzbicki, Leiter der Bildungsabteilung des Instituts des Nationalen Gedächtnisses (IPN), unterstellt Gross eine einseitig jüdische Sicht und rechtfertigt eine Haltung, die Antisemitismus mit Antikommunismus vermischt. Gross, so heißt es, „formuliert kategorische Thesen in Anlehnung an Quellen, die meines Erachtens unzulänglich und bruchstückhaft sind. [...] So betrachtet er die Berichte von Juden über die antisemitische Haltung der Polen unter deutscher Besatzung als zutreffend, erkennt aber die Wahrhaftigkeit der Berichte von Polen über die prosowjetische und zugleich antipolnische Haltung der Juden nicht an.“ (S. 177)

Dass die Auseinandersetzungen aber nicht immer der politischen Zuordnung Rechts-Links entsprechen, zeigt der Beitrag von Stanisław Janecki und Jerzy Sławomir Mach. Die beiden für das rechtskonservative Wochenmagazin „Wprost“ arbeitenden Journalisten plädieren eindringlich für eine Gewissensprüfung der Nachgeborenen: „Wir entschuldigen uns für das ‚Schweigen der Lämmer’, das heißt für die Passivität der polnischen Mehrheit, für die ‚armen, auf das Ghetto schauenden Polen’ und für diejenigen, die auf die Züge in Richtung Treblinka schauten. [...] Wir entschuldigen uns für diejenigen, für die die Aufdeckung des Verbrechens von Jedwabne eine weitere Gelegenheit ist, antisemitische Phobien und Stereotype zu verbreiten, eine Gelegenheit, das Gewissen reinzuwaschen, die polnischen Vergehen gegen die Juden auf die Juden selbst zu schieben und den Holocaust zu negieren.“ (S. 206)

Nicht weniger emotional verlief die Diskussion um Auschwitz. Zwar wurde in Polen nie geleugnet, dass der Platz eine Todesfabrik für Juden war, doch galt und gilt er oft als Richtstätte, an der vor allem Polen – polnische Kommunisten (so die Lesart vor 1989), katholische Polen (nach 1989) – ihr Leben ließen. Die Interessen von dogmatischen Kommunisten und katholischen Fundamentalisten berührten sich auf gespenstische Weise. In den 1990er-Jahren errichtete eine katholische Initiative etwa dreihundert Kreuze in direkter Nähe des Vernichtungslagers, um an polnisches Leid zu erinnern, das hier gegen jüdisches Leid aufgerechnet wurde. Das Spektrum der Reaktionen reicht von Primas Józef Glemp, der in der – von ihm so bezeichneten – „permanenten und zunehmenden Belästigung von jüdischer Seite“ einen Grund für das Aufstellen weiterer Kreuze sieht (S. 110) bis zu Stanisław Krajewski, für den die „Christianisierung“ von Auschwitz eine Bedrohung bedeutet – nicht für Juden, sondern für Polen, die sich der Vergangenheit stellen. (S. 129)

Die Herausgeberinnen haben den Band mit einer instruktiven Einleitung versehen. Darin wird deutlich, dass Kommunisten und Antikommunisten oft ähnlich antisemitische Vorurteile hatten. Der kritische Beitrag von Michał Cichy zeigt dies ebenso wie die harsch ablehnende Reaktion des Weltverbandes der ehemaligen Polnischen Heimatarmee vom 1. Februar 1994 (Vgl. S. 54-80).

Die emotionale Debatte ist keineswegs abgeschlossen – schon gar nicht nach der polnischen Ausgabe von Gross’ neuem Buch „Fear: Anti-Semitism in Poland After Auschwitz“, das das Pogrom von Kielce am 4. Juli 1946 zum Gegenstand hat.2 In einer nuancierten Reaktion gibt Marcin Zaremba, Historiker an der Universität Warschau, Gross darin Recht, dass der Antisemitismus auch nach 1945 „eine Art kulturellen Code[s]“ in der polnischen Gesellschaft gebildet habe. (S. 353) Doch sei diese Gesellschaft durch den Naziterror ihrer kulturellen und auch moralisch einst einflussreichen Eliten beraubt worden. Was blieb, war ein ressentimentgeladenes Kleinbürgertum, das teilweise schon mit dem kommunistischen Parteibuch ausgestattet war, teilweise eine Ideologie pflegte, in der von Hass auf Russen und Deutsche geprägter Antikommunismus und Antisemitismus zusammenflossen.

Dieses Kleinbürgertum, nicht „die Polen“ schlechthin, hatte unter der deutschen Besatzung von der Enteignung, Vertreibung und Ermordung der Juden profitiert. Nach 1945 waren die Profiteure von der Furcht besessen, ihre neuen materiellen Güter wieder herausgeben zu müssen. „Seinen frisch erworbenen Reichtum und darüber hinaus seine Nerven und seine erschlichene Respektabilität kann sich dieser neue ‚Mittelstand‘ nur dadurch erhalten, dass er die überlebenden Juden auch noch ausräuchert“, schrieb Isaac Deutscher schon Anfang 1946. Er warnte eindringlich: „Wehe, wenn diese Hyänen-Klasse in Osteuropa zur herrschenden werden sollte! Die dunkleren Seiten der heute russisch kontrollierten Regimes werden verblassen neben den Grausamkeiten, die weniger den Juden – denn sie haben wenig zu verlieren – als den Völkern Osteuropas von dieser Klasse blühen könnten.“3 Da der Sammelband vor allem die Stimmen des liberalen, nicht des sozialistischen Teils der polnischen Öffentlichkeit versammelt, bleibt zu fragen: Gibt es im heutigen Polen keine Wortmeldung der (marginalisierten) Linken, die sich des Themas annimmt? Nur ein Beitrag, nämlich der von Marcin Zaremba, ist der „Polityka“, einer der polnischen Sozialdemokratie nahestehenden Zeitschrift, entnommen.

Dennoch vermittelt das Buch wichtige Informationen über ein mit Emotionen besetztes Thema und gibt zugleich gute Einblicke in die Atmosphäre der intellektuellen Kontroversen in Polen. „Durch diese jeweils monatelang geführten Debatten“, so die Herausgeberinnen, „hat das Wissen über das polnisch-jüdische Verhältnis in der polnischen Gesellschaft zwar deutlich zugenommen. Eine Abnahme des Antisemitismus resultierte daraus jedoch nicht. Im Gegenteil.“ Laut Meinungsumfragen habe zwischen 1992 und 2008 sowohl der traditionelle, religiös begründete als auch der moderne, nationalistische Antisemitismus an Boden gewonnen. „Allerdings hat auch die Zahl derer erheblich zugenommen, die den Antisemitismus mehr oder weniger scharf verurteilen.“ (S. 17)

„Mehr oder weniger scharf verurteilen“ – auch diese Bemerkung zeigt das teilweise defensive Herangehen des aufgeklärten Teils der polnischen Gesellschaft an die brisante Problematik. Die Antisemiten aller Couleur wittern hingegen seit langer Zeit Morgenluft. In dem von ihnen beherrschten Teil der Medien zeigt die „Hyänen-Klasse“ ihre Macht, die sie nun nicht mehr mit der antisemitischen Fraktion der Kommunistischen Partei teilen muss. Wachsamkeit ist geboten, und die Lektüre von Büchern wie diesem deshalb unverzichtbar.

Anmerkungen:
1 Jan T. Gross, Neighbors. The Destruction of the Jewish Community in Jedwabne, Poland, Princeton, NJ 2001. Polnisch: Sąsiedzi. Historia zagłady żydowskiego miasteczka, Sejny 2000 (Deutsch: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001).
2 Jan T. Gross, Fear. Anti-Semitism in Poland After Auschwitz, New York 2006 (Polnisch: Strach. Antysemityzm w Polsce tuż po wojnie. Historia moralnej zapaści, Warszawa 2008).
3 Isaac Deutscher, Die ungelöste Judenfrage. Zur Dialektik von Antisemitismus und Zionismus, Berlin 1977, S. 56f; zuerst in: The Economist, 12. Januar 1946.

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