C. Hikel u.a. (Hrsg.): Lieschen Müller wird politisch

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Titel
Lieschen Müller wird politisch. Geschlecht, Staat und Partizipation im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Hikel, Christine; Kramer, Nicole; Zellmer, Elisabeth
Reihe
Zeitgeschichte im Gespräch 4
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
141 S.
Preis
€ 16,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Neumaier, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Das Jahr 1918 ist aus der Perspektive der Geschlechtergeschichte insofern eine elementare Zäsur, da Frauen mit der Einführung des Frauenwahlrechts die rechtliche Anerkennung als Staatsbürgerinnen erfuhren. Die Herausgeberinnen des vorliegenden Buches argumentieren, diese grundlegende Veränderung, die als Ausgangspunkt für diesen Sammelband dient, müsse als Meilenstein und nicht als „Schlussstein eines Politisierungsprozesses“ (S. 7) interpretiert werden. Jener epochale Einschnitt habe keineswegs ausschließlich Veränderungen für die gesellschaftlichen Eliten nach sich gezogen, sondern auch „die deutsche Durchschnittsfrau“ (S. 7) erreicht, für die der Terminus „Lieschen Müller“ als Synonym verwendet wird. Als Staatsbürgerin agierte „Lieschen Müller“ nicht an den klassischen Orten politischer Teilhabe wie in Parteien und im Parlament, vielmehr sei ihre Partizipation am Politischen vielfältig gewesen. Der beim Leser aufkeimenden Befürchtung, dass sich diese Vielfältigkeit in einem Sammelsurium von disparaten Einzelbeiträgen niederschlägt, wirken die Herausgeberinnen entgegen, indem sie in ihrer Einleitung zeigen, wie die drei tragenden und gut gewählten Untersuchungskategorien „Geschlecht“, „Staat“ und „Partizipation“ als Leitlinien fungieren und so Anknüpfungspunkte zwischen den interessanten und schlüssigen Beiträgen, welche die politische Teilhabe von Frauen im 20. Jahrhundert behandeln und auf einen Workshop in München im Oktober 2007 zurückgehen, herstellen.

Die Kategorie „Geschlecht“ wird in den Aufsätzen als zentraler „Faktor der Vergesellschaftung“ (S. 8) verstanden, wobei nicht die vom Staat an die Frauen herangetragenen Rollenerwartungen, sondern die von den Akteurinnen gegenüber dem Staat eingenommenen Einstellungen und die daran ausgerichteten Aktionen im Zentrum des Forschungsinteresses stehen. Mit diesem Ansatz wird also der Blickwinkel der Frauen untersucht. Als zweite Kategorie wird der „Staat“ genannt, womit im deutschen Fall die unterschiedlichen politischen Systeme der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und des geteilten Deutschlands betrachtet werden müssen. Neben Veränderungen bei den politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, wirkten sich die Systemwechsel auch auf die gesellschaftlichen Strukturen aus. Das wiederum hatte Konsequenzen für die politische Partizipation der Frau, die nicht linear voranschritt, sondern im Laufe des 20. Jahrhunderts je nach den strukturellen Bedingungen unterschiedlich stark ausgeprägt war. Die dritte Untersuchungskategorie „Partizipation“ wird in diesem Sammelband losgelöst von ihrer demokratischen Konnotationen verwendet, um bei der Analyse der Epoche des Nationalsozialismus oder der DDR nicht eingeschränkt zu sein. Bei der Verwendung des erweiterten Partizipationsbegriffs wird dem aufmerksamen Leser endgültig klar, dass die Beiträge, welche sowohl die Aktionen der Akteurinnen als auch die sie umgebenden Strukturen behandeln, in Tradition der Neuen Politikgeschichte stehen. 1 Präziser formuliert: sie sollen durch die Aktualität ihrer Forschungsergebnisse „Impulse für eine neue Frauen-Politikgeschichte“ (S. 10) geben. Den Aufsätzen ist mit den drei Untersuchungskategorien ein Dach gegeben.

In fünf Kapiteln wird im Anschluss an die Einleitung „Lieschen Müller“ untersucht. Der erste Abschnitt Frauen als Staatsbürgerinnen in Demokratie und Diktatur kann als übergeordnetes Kapitel angesehen werden, da die Beiträge Raum und Partizipation von Elizabeth Harvey sowie Frauenpolitik im doppelten Deutschland von Michael Schwartz gewissermaßen einen Bogen über das kurze 20. Jahrhundert spannen. In ihrem überzeugenden Beitrag analysiert Harvey den Einfluss von „Sphären und Räumen weiblicher Aktivität in Gemeinde und Staat“ (S. 16) sowie Orte, an denen sich Frauen versammelten und am Politischen teilhatten. Schwartz befasst sich in seinem Aufsatz mit den Veränderungen in der Frauenpolitik während der 1970er-Jahre im deutsch-deutschen Vergleich. Er stellt die politischen Reformen als „Folge längerfristiger Veränderungsprozesse in der Gesellschaft“ (S. 27) dar. Als Auslöser der Prozesse bzw. des Wertewandels werden sowohl die steigende Frauenerwerbsquote sowie der erleichterte Zugang der Frauen zu Bildung genannt. An dieser Stelle knüpft Schwartz an die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung an und geht von einem scheinbar linearen gesellschaftlichen Modernisierungsprozess mit der Ablösung „traditioneller Pflichtwerte“ durch „Selbstentfaltungswünsche“ (S. 40) um 1970 aus. Hier wäre eine differenziertere Betrachtung wünschenswert gewesen, in der explizit die Ergebnisse der Wertewandelsforscher wie Ronald Inglehart und Helmut Klages hätten thematisiert sowie deren Probleme erläutert werden können.2

Die folgenden Kapitel erschließen weitgehend chronologisch die politische Partizipation der Frauen anhand dezidierter Fallbeispiele im 20. Jahrhundert. Im Abschnitt Systemwechsel und Mitgestaltung behandelt Christiane Streubel Antidemokratische Konzepte politischer Teilhabe. Sie analysiert, wie Journalistinnen aus dem nationalistischen Umfeld in den politischen Kommunikationsprozess eintraten und welche Rechtfertigungsstrategien für diesen Wechsel „der genuin ‚unpolitischen Frau’“ (S. 41) ins Politische kommuniziert wurden. Sylvia Rogge-Gaus Aufsatz über Jüdische Frauen in Selbsthilfeorganisationen befasst sich mit den veränderten Aufgaben des Jüdischen Frauenbunds infolge der zunehmenden Entrechtung und Verdrängung der Juden aus dem öffentlichen Leben. Die „Stärkung der jüdischen Identität und der Ausbau des jüdischen Gemeindelebens“ (S. 54) entwickelte sich zu einem Arbeitsschwerpunkt des Bundes. Ab 1935 kam die Unterstützung von jüdischen Frauen und Mädchen bei der Auswanderung hinzu. Abschließend thematisiert Rogge-Gau die Konsequenzen der Zwangsauflösung des Jüdischen Frauenbunds nach den Novemberpogromen 1938.

Im Kapitel Integration in den totalen Staat behandelt zunächst Christoph Kühberger „[d]ie inszenierte Integration von Frauen in den NS-Staat“ (S. 63). Als Untersuchungsgegenstand dienen hierfür öffentliche Feierlichkeiten. Kühberger zeigt auf, bei welchen Feiern und an welchen Orten Frauen aktiv an Feierlichkeiten partizipierten und welche regionalen Unterschiede zu beobachten sind. Nicole Kramer wendet sich anschließend der Partizipation der Frauen in NS-Frauenorganisationen während des Zweiten Weltkriegs zu. Zwei zentrale Partizipationsräume, die sie behandelt, waren die NS-Frauenschaft und das Deutsche Frauenwerk. Zum Schluss verweist die Autorin knapp darauf, dass die Partizipation während des Zweiten Weltkriegs Folgen für die Teilhabe der Frauen am Politischen für die Zeit nach 1945 gehabt habe, denn einige Frauen hätten nach dem Systemwechsel ihr Recht auf Partizipation eingefordert. Damit leitet Kramer gewissermaßen zum vierten Abschnitt Mitbestimmung in der neuen Demokratie über.

Die neuen politischen Rahmenbedingungen ermöglichten den evangelischen Frauenverbänden, die von Beate von Miquels untersucht werden, den Aufbruch in die Demokratie. Die Autorin setzt sich kritisch damit auseinander, in welchem Umfang evangelische Frauenverbände partizipierten und welche Akteurinnen daran beteiligt waren. Relevant ist dies nach ihrer Argumentation insofern, da Frauen nach Kriegsende eine wichtige Gruppe von Wahlberechtigten gewesen seien. Mit den Kriegerwitwen analysiert im Anschluss Anna Schnädelbach eine weitere gesellschaftlich bedeutsame Gruppe. Der Beitrag soll klären, ob die Einstellung der Kriegerwitwen zu bzw. deren Partizipieren in „bestimmten Teilöffentlichkeiten“ (S. 95) bereits als politische Partizipation gewertet werden kann. Abgerundet wird dieses Kapitel von Christine Hikel mit dem Aufsatz Erinnerung als Partizipation, der sich mit Inge Scholl und der Weißen Rose befasst. Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf der Rolle von Inge Scholl bei der Erinnerung an die Weiße Rose, zu der ihre Geschwister Hans und Sophie Scholl gehörten. Auch wird dargestellt, wie sich die Erinnerungskultur von 1945 bis nach 1968 veränderte.

Damit ist die Überleitung zu den 1970er-Jahren gelungen. Im fünften Abschnitt Protest und Polarisierung in beiden deutschen Staaten untersucht Elisabeth Zellmer das Frauenforum München e.V. paradigmatisch für andere Frauen-Protestbewegungen. Zellmer zeichnet hier die inneren Strukturen und die Themenvielfalt, die beide durchaus Konfliktpotential besaßen, nach. Abschließend verweist sie darauf, dass die Neue Frauenbewegung zu den neuen sozialen Bewegungen zu zählen sei. Mit dem Thema Frauenbewegung in der DDR während der 1980er-Jahre beschäftigt sich Eva Sänger. Sie fragt nach den „Unrechtserfahrungen“ (S. 128), welche die Auslöser für das Entstehen der Frauengruppen waren. Ziel dieser Gruppen war es sowohl ihre Partizipationsräume zu vergrößern als auch „Gegenöffentlichkeiten“ (S. 136) gegenüber der Regierung der DDR zu etablieren.

Obgleich die Untersuchungsgegenstände der einzelnen Beiträge disparat sind, zirkulieren sie um die Analysekategorien „Geschlecht“, „Staat“ und „Partizipation“. Gleichwohl hätte dies vereinzelt durchaus expliziter herausgearbeitet werden können. Sicherlich ist es aber den AutorInnen gelungen über die Bandbreite der Beiträge sowie der Fülle an Perspektiven, vor allem auch aufgrund der überzeugenden Argumentation, Impulse für eine neue Frauen-Politikgeschichte zu geben, die in viele Richtungen ausstrahlen. Detailliert ausgearbeitet worden ist dies allerdings noch nicht, das wäre schon allein wegen der Kürze der Aufsätze nicht realisierbar gewesen. Man kann auf kommende monografische Darstellungen oder ausführliche Aufsätze in Fachzeitschriften gespannt sein. Erst dann wird sich die Tragweite der Impulse für die Frauen-Politikgeschichte tatsächlich zeigen.

Anmerkungen:
1 Ute Frevert, Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen, in: Dies. / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt am Main, 2005, S. 7–26.
2 Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton 1977; Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt am Main 1980; Stefan Hradil, Vom Wandel des Wertewandels – Die Individualisierung und eine ihrer Gegenbewegungen, in: Wolfgang Glatzer u.a. (Hrsg.), Sozialer Wandel und gesellschaftliche Dauerbeobachtung, Opladen 2002, S. 31–47.