W. Maderthaner u.a. (Hrsg.): ... der Rest ist Österreich

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Titel
... der Rest ist Österreich. Das Werden der 1. Republik, 2 Bde.


Herausgeber
Maderthaner, Wolfgang; Helmut Konrad
Anzahl Seiten
696 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dirk Rupnow, Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck

In einem nicht geringen Ausmaße strukturieren Jahrestage das Interesse und die Aufmerksamkeit von Historikerinnen und Historikern wie auch ihrem Publikum. In Österreich wurde 2008 der Republiksgründung 1918 gedacht – nicht zuletzt mit einer großen Ausstellung in der repräsentativen Säulenhalle des Parlaments in Wien. Der nach dem Vorbild eines griechischen Tempels gestaltete Bau wurde 1873 bis 1883 für den Reichsrat der Habsburgermonarchie errichtet. Auf der Rampe davor wurde am 12. November 1918, nach dem Verzicht Kaiser Karls auf die Ausübung der Regierungsgeschäfte, von den deutschsprachigen Abgeordneten die Republik Deutschösterreich ausgerufen.

Schon kurz nach dem multiplen Jubiläumsjahr 2005 (60 Jahre Zweite Republik, 50 Jahre Staatsvertrag, 10 Jahre EU-Mitgliedschaft – neben weiteren „kleineren“ runden Jubiläen für den Gewerkschaftsbund, das Bundesheer, Burgtheater und Staatsoper sowie dem Fernsehen) bot sich damit eine weitere Gelegenheit, Österreich zu feiern. Die Fokussierung auf 90 Jahre Republik Österreich blendet allerdings weitgehend aus, dass es sich keineswegs um eine ungebrochene Entwicklung handelt: In einigen Jahren, zwischen 1938 und 1945, existierte Österreich noch nicht einmal als souveräner Staat auf der Landkarte. (Womit freilich noch nichts über die Teilnahme von Österreicher/innen an den Geschehnissen und vor allem Verbrechen der Zeit gesagt sein soll.) Das Parlamentsgebäude wurde in der NS-Zeit als Sitz der Gauverwaltung Wiens genutzt. Allerdings war das Parlament bereits vier Jahre zuvor vom christlichsozialen Bundeskanzler Dollfuß zugunsten eines klerikal-autoritären „Ständestaats“ ausgeschaltet worden. Die Geschichte ist eben doch komplizierter und weitaus weniger linear als es die Zahlenmagie der Jubiläen nahelegt. Der Weg zur Etablierung von Demokratie in Österreich und auch einer eigenständigen österreichischen Identität, wie sie sich uns heute darstellt, war lang und kurvenreich.

Helmut Konrad, Professor für Zeitgeschichte in Graz und Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Gesellschafts- und Kulturgeschichte, und Wolfgang Maderthaner, Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung in Wien, beide ausgewiesen durch eine Vielzahl von Arbeiten auf den Feldern der Kultur- und Sozialgeschichte sowie als Wissenschaftsmanager, haben das Republiksjubiläum zum Anlass genommen, mehr als 30 internationale Autor/innen aus verschiedenen Disziplinen – alle anerkannte Fachleute auf ihren Forschungsgebieten – zu versammeln und konzentriert die schwierigen Gründungs- und Anfangsjahre der Ersten Republik in den Blick nehmen zu lassen. Herausgekommen sind dabei zwei Bände mit insgesamt knapp 700 Seiten, die das Ende des Ersten Weltkriegs, Grenzfragen, politische, ökonomische und soziale Entwicklung und Neuorientierungen ebenso beleuchten wie Kunst und Kultur.

Der Anspruch, ein Standardwerk auf den Markt zu bringen, ist offensichtlich und wurde von Helmut Konrad bei der Buchpräsentation – im Bundeskanzleramt, nicht im Parlament – denn auch offen formuliert. Die Ausstattung ist dementsprechend hochwertig: Die Bände enthalten eine Vielzahl von fotografischen Zeugnissen, in einem Anhang sind zentrale Dokumente wiedergegeben, zudem sind vier nachgedruckte Karten beigelegt. So wird es denn auch hier, scheinbar unvermeidlich, sehr schnell staatstragend: Bundespräsident Heinz Fischer und (inzwischen Ex-)Bundeskanzler Alfred Gusenbauer, beide Sozialdemokraten, haben ein Vor- bzw. Geleitwort beigesteuert. Das gegenwärtige Österreich bespiegelt sich in der Geschichte. Tatsächlich versteht sich ja die Zweite Republik, wie Fischer – selbst Jurist und habilitierter Politikwissenschaftler – betont, sowohl als Fortsetzung der Ersten Republik, nicht zuletzt durch den Rückgriff auf die Verfassung, als auch als Gegenentwurf zu ihr, dem es gelungen ist, die Verwerfungen und Gegensätze zwischen den politischen Lagern, die letztlich in den Bürgerkrieg und den „Anschluss“ an das Deutsche Reich geführt haben, auszubalancieren. Die Zweite Republik ist keineswegs mehr ein Staat, den keiner will, obwohl der Blick in die Geschichte der Jahre von 1918 über 1933/34 und 1938 bis 1945 immer noch Gräben aufreißen kann. Ein über die Lager hinweg konsensuelles Bild dieser Zeit existiert praktisch nicht. Fast etwas unzeitgemäß und wohl durchaus überraschend für österreichunerfahrene Leser/innen wird daher eingangs „die Suche nach Objektivität“ besonders betont und die Benutzung historischer Ereignisse „als Waffe in der politischen Auseinandersetzung“ deutlich abgelehnt.

Der Titel „… der Rest ist Österreich“ nimmt einen Ausspruch des französischen Ministerpräsidenten Clemenceau bei der Aufteilung des ehemaligen Habsburgerreiches auf der Friedenskonferenz von Saint-Germain auf. Doch die Anfangsjahre der Ersten Republik, ihre „konstitutiven Ambivalenzen“, die die beiden Herausgeber in den Mittelpunkt stellen, sind natürlich nicht zu verstehen ohne einen Blick auf die formativen Kräfte des Ersten Weltkriegs. Folgerichtig stehen am Anfang zwei Beiträge, die sich mit dem Ende und den traumatischen Erfahrungen des Großen Krieges und ihren nachhaltigen politischen, aber auch kulturgeschichtlichen Folgen beschäftigen (Manfried Rauchensteiner, Lutz Musner). Nicht nur Form und Verfassung des neuen Staates, dem das „Deutsch-“ von den Alliierten aus dem Namen gestrichen und die Selbstauflösung durch Vereinigung mit dem Deutschen Reich untersagt wurde (Richard Saage, Lorenz Mikoletzky), sondern praktisch alle seine Grenzen standen zur Disposition: Sei es gegenüber der Schweiz (Christian Koller), Italien (Rolf Steininger), dem SHS-Staat/Jugoslawien (Ute Weinmann), Ungarn (Béla Rásky) oder der Tschechoslowakei (Walter Reichel).

Im zweiten großen Abschnitt des ersten Bandes werden die Spezifika der österreichischen Entwicklung in den Kontext der Umwälzungen in Zentraleuropa nach dem Kriegsende eingeordnet (Wolfgang Maderthaner), die besondere Rolle Otto Bauers gewürdigt (Ernst Hanisch) und die politischen Lager – das Rote Wien (Helmut Konrad), die Christlichsozialen (Dieter A. Binder) und die Deutschnationalen (Kurt Bauer) – ebenso beleuchtet wie die Rolle von Juden und Frauen (Malachi Hacohen, Gabriella Hauch). Die Konfliktlinien zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen und die Bereitschaft zum Einsatz physischer Gewalt (Gerhard Botz) werden untersucht, die Entwicklung der Verfassung (Alfred J. Noll) und die konfessionellen Verhältnisse im katholisch dominierten Österreich (Andreas Weigl).

Der zweite Band widmet sich in einem Teil wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Aspekten und damit der zentralen Frage nach der Überlebensfähigkeit des neuen Kleinstaates, der zunächst eben nicht mehr als der übriggebliebene Rest des Habsburgerreiches war: Inflation und Geldpolitik werden hier ebenso zum Thema wie der damit verbundene Spekulationskapitalismus (Fritz Weber, Herbert Matis, Niko Wahl). Die Situation des Bürgertums (Peter Berger) und die Position von Frauen in der Gesellschaft und Arbeitswelt (Karin M. Schmidlechner) werden analysiert. Die Vergesellschaftungs- und Sozialisierungspraktiken im Wirtschaftsleben werden neben der florierenden volkswirtschaftlichen Theorieproduktion dieser Jahre – an Hand der Beispiele von Joseph Schumpeter, Ludwig Mises und Othmar Spann – behandelt (Johann Brazda/Robert Schediwy, Robert Stöger, Hansjörg Klausinger).

Der letzte Abschnitt widmet sich schließlich Kunst und Kultur. In einem eher kulturtheoretisch angelegten Essay wird hier einleitend die Entstehung von Avantgarden und Massenkultur, die „Krise der Wahrnehmung und der visuellen Kultur“ als Effekt des Weltkrieges beschrieben (Siegfried Mattl). Einzelne Beiträge wenden sich danach der literarischen Szene und dem Theaterleben in Wien zu, aber auch dem Zuschauerspektakel des Fußballsports, mit dem sich die sozialen Unterschichten neue Artikulationsmöglichkeiten und eine eigene Öffentlichkeit eroberten (Alfred Pfoser, Julia Danielczyk/Birgit Peter, Roman Horak). Abschließend werden die reformpädagogischen Aktivitäten Eugenie Schwarzwalds, Freuds massenpsychologische Theorie, hervorgegangen aus den Erfahrungen des Weltkriegs, sowie der Stil der Neuen Musik Arnold Schönbergs in den Blick genommen (Deborah Holmes, Karl Fallend, Dominik Schweiger).

Konrad/Maderthaner und ihre Autor/innen legen keinesfalls eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Ersten Republik vor. Sie bieten aber ein klug komponiertes Panorama ihrer Anfangsjahre, das durch seinen breiten thematischen Bogen und die exzellente Auswahl der Beiträger/innen überzeugend den Anspruch eines Standardwerkes einzulösen vermag und eine wichtige Grundlage für jede weitere Beschäftigung mit der Ersten Republik bietet. Vermissen mag man gerade im Hinblick darauf höchstens eine abschließende Zusammenfassung durch die Herausgeber, die auf der Basis des Vorgelegten weitere Forschungsperspektiven formuliert, oder ein stärker gewichtetes und inhaltlich ausgerichtetes Vorwort.

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