F. Anders: Strafjustiz im Sudetengau 1938-1945

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Titel
Strafjustiz im Sudetengau 1938-1945.


Autor(en)
Anders, Freia
Reihe
Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 112
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
551 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Löffelsender, Historisches Seminar, Universität Köln

Trotz der Fülle von Studien, die unser Wissen über das Wirken der Justiz im Nationalsozialismus in den letzten Jahrzehnten in vielfacher Weise und aus unterschiedlichen Perspektiven vermehrt haben, lassen sich auch auf diesem Forschungsfeld noch Desiderate ausmachen, deren historiographische Aufarbeitung weiterführende Erkenntnisse liefern können. In besonderem Maße gilt dies für den Komplex der (Straf-)Rechtspraxis in den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten. Einem dieser weißen Flecken der rechtsgeschichtlichen Forschung widmet sich Freia Anders in ihrer Bielefelder Dissertation, die der nationalsozialistischen Strafjustiz im Sudetengau in den Jahren 1938 bis 1945 gewidmet ist.

Im Gegensatz zu vielen anderen rechtsgeschichtlichen Regionalstudien zum Nationalsozialismus begrenzt Anders ihren Untersuchungsgegenstand nicht auf einzelne Teilkomplexe der Strafjustiz. Vielmehr verfolgt sie eine umfassende „materialnahe Bestandsaufnahme“ (S. 5) der Strafjustiz, die neben den institutionellen und personalpolitischen Strukturen auch eine Analyse der Rechtsprechungspraxis sowohl der ordentlichen als auch der Sondergerichtsbarkeit im 1939 neu eingerichteten Oberlandesgerichtsbezirk Leitmeritz anstrebt, der sich auf das gesamte im Oktober 1938 besetzte und dann annektierte Gebiet erstreckte und sich in neun Landgerichtsbezirke untergliederte. Die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes und die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen Anders die Strafjustiz beleuchtet, erfordern ein ebenso komplexes methodologisches Instrumentarium. Es speist sich aus unterschiedlichen Theorienansätzen, die im ersten Kapitel breit referiert werden. Von besonderer Bedeutung für Anders sind hierbei die herrschaftssoziologischen Überlegungen Max Webers; auf ihn rekurrierend versteht sie das NS-Regime als charismatische Herrschaftsform. Hierauf aufbauend formuliert Anders den Leitgedanken der Untersuchung, der davon ausgeht, dass „die charismatische Herrschaftsstruktur auch auf die juristischen Institutionen wirkte“ (S. 47), die wiederum als Inbegriff tradierter bürokratisch-legaler Verwaltungsstrukturen angesehen werden. Im Kern geht es Anders mithin um eine „Analyse des Grades der Charismatisierung des Justizwesens im Nationalsozialismus“ (S. 51). Hierfür bilden die ab 1938 im Sudetengau durch das Eindringen nationalsozialistischer Machtansprüche entstehenden Spannungsfelder zweifelsohne ein ideales Untersuchungsterrain.

Im zweiten, der Analyse der Strafjustiz vorangestellten Kapitel richtet Anders den Blick auf die Grundzüge der nationalsozialistischen Besatzungspolitik im Sudetengau, wobei das Hauptaugenmerk auf dem Prozess und den Strategien der Gleichschaltung und der Frage nach der Akzeptanz des neuen Regimes durch die sudetendeutsche und tschechische Bevölkerung liegt. Diese Schilderungen ermöglichen eine präzisere Verortung und Kontextualisierung der folgenden Befunde zur Justiz im größeren Komplex der deutschen Okkupationspolitik, wenngleich dieses Kapitel doch einige Längen aufweist, zumal nur wenige neue Erkenntnisse geliefert werden.

Der dritte Teil der Studie wendet sich der nationalsozialistischen Strafjustiz zu, die, um als Medium der NS-Herrschaft im Sudetengau wirken zu können, erst über den Prozess der Rechtsangleichung installiert werden musste. Das wurde im Sudetengau nicht – wie etwa in Österreich – durch punktuelle Novellierungen vollzogen, sondern in Form eines umfassenden Importes der reichsdeutschen Strafjustiz. Anhand einer eingehenden Analyse des materiellen Strafrechts, der Gerichtsverfassung, der Rechtslenkung, der Außenbezüge der Strafjustiz sowie der vom Reichsjustizministerium lancierten Personalpolitik im Sudetengau macht Anders für die Strafjustiz im Sudetengau eine „schwer zu taxierende Mischung von Bürokratie und Charisma“ (S. 228) aus. So konstatiert sie etwa mit Blick auf die Entscheidungskriterien bei Personalentscheidungen im Justizapparat neben den traditionellen Kriterien der professionellen Kompetenz auch eine zunehmende Relevanz von Merkmalen, die auf den Einfluss charismatischer Herrschaftsstrukturen verweisen, wie etwa Parteizugehörigkeit oder politische Loyalität.

Diesem zentralen Befund der Positionierung der Strafjustiz zwischen den beiden Polen von Charisma und Bürokratie geht Anders in den folgenden Kapiteln der Studie weiter auf den Grund. Hierbei fokussiert sie zunächst im vierten Kapitel die Tätigkeit der Staatsanwaltschaften in Form der Generalstaatsanwaltschaft in Leitmeritz und den Staatsanwaltschaften an den unterschiedlichen Landgerichten. Neben einer quantitativen Betrachtung des Sozialprofils der „Anwälte des Staates“ (S. 229) liefert Anders in diesem Kapitel eine eingehende quantitative Untersuchung der Geschäftstätigkeit der verschiedenen staatsanwaltschaftlichen Instanzen. Gerade diese erfuhren als „Motoren der NS-Strafjustiz“ (S. 59) während des Nationalsozialismus einen sukzessiven Machtzuwachs. Umso verdienstvoller ist es, dass Freia Anders die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit, die in den bisherigen rechtsgeschichtlichen Studien zum Nationalsozialismus in der Dimension ihrer konkreten sozialen Praxis weitgehend außen vor blieb, einer umfassenden empirischen Betrachtung unterzieht. Zurückgreifen kann sie hierbei auf eine große Anzahl von überlieferten Registerbänden, deren Auswertung tiefgehende Einblicke in die Alltagsgeschäfte der Staatsanwaltschaften erlauben. So konstatiert Anders eine im Verlaufe des Krieges steigende Zahl von Ermittlungsverfahren, die sie anhand einzelner Deliktfelder eingehender untersucht. Auf Grundlage der empirischen Analyse der innerjustiziellen Verweisungspraxis der Staatsanwaltschaften zeigt sie zudem auf, dass die in der Forschung immer noch virulente These einer eindeutigen Verlagerung der Strafverfahren von den ordentlichen zu den Sondergerichten zumindest für die Strafjustiz im Sudetengau keine Gültigkeit besitzt.

Dem Verhältnis von ordentlicher und Sondergerichtsbarkeit geht Freia Anders dann auch im fünften Kapitel der Untersuchung nach, das der Strafgerichtsbarkeit gewidmet ist. Analog zur Betrachtung der Staatsanwaltschaften unterzieht Anders zunächst die Personalstruktur der Richterschaft einer Analyse, bevor sie dann den Blick anhand einer quantitativen Erhebung auf die Rechtsprechungspraxis des Strafsenats am OLG in Leitmeritz sowie der ordentlichen Strafkammern und der drei Sondergerichte in Eger, Leitmeritz und Troppau richtet. Während sich die Betrachtung der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte auf die klassischen statistischen Angaben etwa zur Entwicklung der Sanktionspraxis oder der Deliktstruktur an den einzelnen Gerichten beschränkt, thematisiert Anders die Rechtsprechung der Sondergerichte breiter, indem sie über die quantitative Analyse hinaus einzelne Deliktfelder (Äußerungsdelikte, Kriegswirtschaftsdelikte etc.) eingehender untersucht. Wenngleich die drei untersuchten Sondergerichte durchaus Unterschiede etwa im Strafmaß oder im Umgang mit deutscher und tschechischer Klientel aufzeigen, konstatiert Anders im Vergleich zu den Sondergerichten im „Altreich“ insgesamt ein gemäßigteres Sanktionsniveau der Sondergerichtsbarkeit im Sudetengau.

In einem abschließenden kurzen Kapitel geht Anders der Frage nach, ob und inwiefern sich „charismatische“ Elemente in den Urteilen ausmachen lassen. Die qualitative Analyse bestätigt hierbei nochmals den bereits in den vorherigen Kapiteln prägnant herausgearbeiteten Grundbefund einer Verortung der Strafjustiz im Sudetengau in einer Gemengelage von charismatischen und bürokratischen Herrschaftselementen.

Freia Anders schließt mit ihrer Studie zur Strafjustiz im Sudetengau auf beeindruckende Weise eine Forschungslücke in der rechtsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Auf der Basis allgemeiner Reflektionen über die Genese der Strafjustiz im Dritten Reich entwirft sie ein facettenreiches Bild der strukturellen Entwicklungen und der Spezifika justiziellen Handelns in dem neu geschaffenen Oberlandesgerichtsbezirk Leitmeritz. Eine im Gegensatz zu anderen Gerichtssprengeln als privilegiert zu bezeichnende Überlieferungssituation erlaubt es Anders, Felder justiziellen Agierens zu beleuchten, die bis dato weniger im Fokus der Forschung standen; dies gilt primär für den Bereich der staatsanwaltschaftlichen Strafverfolgung und des Vorverfahrens. Erwähnt werden soll jedoch auch, dass mit dem Strafvollzug ein essentieller Teilkomplex der Strafjustiz und mithin der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit als Vollstreckungsbehörde in der Darstellung und der Analyse weitgehend außen vor bleiben.1 Unter dem Aspekt der Rechtsangleichung und der – bei Anders für die Rechtsprechung untersuchten – Frage nach (Un-)Gleichbehandlung der deutschen und tschechischen Gerichtsklientel im Kontext der Strafvollstreckung könnte ein Blick auf den Strafvollzug möglicherweise weitere interessante Erkenntnisse zeitigen.2

Dies schmälert den Wert der Studie sowohl für die Rechtsgeschichte zum Nationalsozialismus als auch für die Geschichte der deutschen Okkupationspolitik, wozu sie vor allem zu dem Spannungsfeld von Akzeptanz und Widerstand einen Beitrag leistet, jedoch nur marginal.
Abgerundet wird die Studie durch eine beigefügte CD-Rom, die in Form einer Datensammlung die Ergebnisse der quantitativen Untersuchungen zur Personalstruktur und zur justiziellen Verfolgungspraxis noch einmal komprimiert präsentiert und somit einen zu begrüßenden schnellen Zugriff auf die empirischen Kernergebnisse der Studie ermöglicht. Darüber hinaus bietet die Datensammlung weiterführende Informationen etwa zur polizeilichen Schutzhaftpraxis im Sudetengau in den Jahren der deutschen Okkupation und beleuchtet somit in Ansätzen auch ein weiteres Feld nationalsozialistischer Verfolgung.

Anmerkungen:
1 Die zum Komplex des Strafvollzugs im Nationalsozialismus einschlägige Untersuchung von Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2006 (englisch 2004) findet bei Anders keine Erwähnung.
2 So betont Wachsmann etwa die Spezifika im Umgang mit tschechischen Strafgefangenen, die er beispielhaft an der Strafvollstreckungspraxis gegenüber Strafgefangenen aus dem Protektorat Böhmen und Mähren vorführt (vgl. ebd., S. 290 ff.).

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