Cover
Titel
Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen "Führerstaat"?


Herausgeber
John, Jürgen; Möller, Horst; Schaarschmidt, Thomas
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Erschienen
München 2007: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
483 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Lilla, Stadtarchiv der Stadt Krefeld

Der Begriff „NS-Gaue“ im Haupttitel des Buches wirkt auf den ersten Blick unverfänglich. Doch spätestens auf den zweiten Blick stellt sich die Frage, was mit NS-Gauen eigentlich genau gemeint ist. Die Herausgeber bzw. Autoren des anzuzeigenden Sammelbandes wollen mit dem Begriff „NS-Gaue“ offenkundig den Versuch unternehmen, eine Vielzahl von komplizierten, sich teils überlappenden und überschneidenden organisatorischen und (staats-)rechtlichen Sachverhalten terminologisch zu bündeln und auf einen Nenner zu bringen. Der „Gau“ war zunächst die höchste regionale Gliederung („Hoheitsgebiet“) der NSDAP, die im Zuschnitt in etwa den Reichstags-Wahlkreisen im Altreich entsprach. Die Gebietserweiterungen von 1938 (Österreich, Sudetenland) und 1939 (Ostgebiete) wurden als sogenannte Reichsgaue organisiert, in denen der NSDAP-Parteigau und der staatliche Verwaltungsbezirk räumlich identisch waren und in aller Regel auch in Personalunion vom Gauleiter und Reichstatthalter geführt wurden. Das Reichsgau-Konstrukt kam im Altreich de jure in der Westmark und de facto auch in Hamburg zur Anwendung. 1942 schließlich wurden sämtliche NSDAP-Gaue zugleich Reichsverteidigungsbezirke, ferner entsprachen die Gaugebiete mehrheitlich auch den Wirtschaftsbezirken. Für die drei räumlich identischen, aber inhaltlich wohl zu unterscheidenden Gebilde Parteigau, Reichsgau als staatlicher Verwaltungsbezirk und Reichsverteidigungsbezirk ist „NS-Gau“ als umfassendes Kürzel keine schlechte Idee, sofern es denn tatsächlich nur in diesem umfassenden Sinne verwendet wird.

Der Band, in dem die Ergebnisse einer im September 2005 im Institut für Zeitgeschichte in Berlin durchgeführten Konferenz dokumentiert werden, widmet sich in einem ersten Teil einigen „Grundfragen“. Hier werden unter anderem erörtert: „Regionalität im Nationalsozialismus – Kategorien, Begriff, Forschungsstand“ (Thomas Schaarschmidt), „Die Gaue im NS-System“ (Jürgen John) und „‚Neue Staatlichkeit’ – Überlegungen zu einer systematischen Theorie des NS-Herrschaftssystems und ihre Anwendung auf die mittlere Ebene der Gaue“ (Rüdiger Hachtmann). Thomas Schaarschmidt stellt das Konzept der Regionalität im Nationalsozialismus dar, das für ihn „Ausdruck neuer Staatlichkeit“ ist, zugleich „konstitutiver Bestandteil des nationalsozialistischen Herrschaftssystems“ war (S. 21). Der Ansatz von Jürgen John ist eher theoretisch und recht abstrakt, er sieht die Gaue „als interaktive Funktionszusammenhänge […] der mittleren Ebene“ (S. 25). Rüdiger Hachtmann untersucht das Konzept Max Webers („charismatische Herrschaft“) für die Gauebene. Bernhard Gotto hinterfragt, inwieweit das von Ian Kershaw auf Hitler bezogene Konzept des „dem Führer entgegen arbeiten“ auch auf die Gauleiter anzuwenden ist. Michael Ruck fasst diese Beiträge kritisch zusammen und kommt dabei zu dem zutreffenden Ergebnis, dass die Geschichte der allermeisten Gaue sowohl im Hinblick auf die Personen wie auch auf die Organisation und die Strukturen weiterhin der Aufarbeitung bedürfen.

In einem zweiten Teil werden einige auf Gauebene besonders wirksame „Politikfelder“ beleuchtet wie etwa die Rassenpolitik und die „Euthanasie“ sowie Wissenschaft, Bildung und Kultur. Den „NS-Gauen“ im Einzelnen widmet sich der dritte Abschnitt mit dem Untertitel „Gauverwaltung und Gau-Porträts“. Der Gauverwaltung widmen sich Armin Nolzen unter der Fragestellung: „Die Gaue als Verwaltungseinheiten der NSDAP. Entwicklungen und Tendenzen in der NS-Zeit“ sowie Gerhard Kratzsch mit der Darstellung des Instituts der Gauwirtschaftsberater. Man hätte in diesem Zusammenhang besser von der Verwaltung der Gaue gesprochen, denn der Begriff „Gauverwaltung“ findet sich amtlich überwiegend im Hinblick auf die innere Verwaltung und Organisation der Reichsgaue sowie ferner als Kompositum „Gauselbstverwaltung“ ebenfalls nur in den sogenannten Reichsgauen.

Die sich anschließenden „Gau-Porträts“ spannen einen weiten Bogen. Als Gaue des „Altreichs“ werden die Gaue Süd-Hannover-Braunschweig, Osthannover und Weser-Ems von Detlef Schmiechen-Ackermann als Fallbeispiele für eine Typologie von Gauen und Gauleitern untersucht. Walter Ziegler stellt den Fall „Bayern – ein Land, sechs Gaue“ vor, Kristina Hübener und Wolfgang Rose unterziehen den Gau (Mark) Brandenburg einer Bestandsaufnahme, Kyra T. Inachin beleuchtet den Gau Pommern unter dem Aspekt einer preußischen Provinz als NS-Gau – es gab nur einige wenige Fälle in Preußen, wo die Provinz zugleich dem Parteigau entsprach. Wolfgang Stelbrink beschreibt unter der Frage „Provinz oder Gau?“ den „beschwerlichen Weg“ der beiden westfälischen NS-Gaue „zu regionalen Funktionsinstanzen des NS-Staates“ (S. 294). Thomas Müller stellt Zusammenhänge zwischen dem Gau Köln-Aachen und der Grenzlandpolitik im Nordwesten des Reiches her. Die Rassen- und Bevölkerungspolitik im Gau Rheinpfalz/Saarpfalz/Westmark untersucht Wolfgang Freund, wobei der Aspekt eines „expandierenden“ Gaus zusätzlichen Reiz bietet. Die besondere Stellung des (neuen) Gaus Oberschlesien „zwischen Altreich und Besatzungsgebiet“ beleuchtet Ryszard Kacmarek. Dieser Beitrag schlägt dann zugleich eine Art Brücke zu den ab 1938 gebildeten „Reichsgauen“. Hier werden im Einzelnen näher dargestellt: der Reichsgau Steiermark 1938–1945 (Martin Moll), „Land“ und „Reichsgau“ Salzburg (1938–1945) (Ernst Hanisch), Expansion und regionale Herrschaftsbildung in der „Ostmark“ am Beispiel des Gaues Tirol-Vorarlberg (Michael Wedekind), die Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Wartheland: „Koloniale Verwaltung oder Modell für die künftige Gauverwaltung“ (Dieter Pohl). Bei der Erörterung der Gaue des „Altreichs“ wäre ein Aspekt eventuell der Vertiefung wert gewesen, nämlich, inwieweit das Reichsgau-Konzept im „Altreich“ bereits faktisch verwirklicht worden war. Hier ist in erster Linie an die Gaue zu denken, deren Grenzen mit denen preußischer Provinzen, der Wehrkreise und der Wirtschaftsbezirke identisch waren, namentlich Ostpreußen und Pommern. Außerpreußische Länder, bei denen diese Voraussetzungen auch gegeben waren, kommen indes nicht in Betracht, weil hier das für einen Reichsgau konstitutive Element der Gauselbstverwaltung (bzw. in Preußen: der Provinzialverwaltung) fehlte. Ein bemerkenswerter Sonderfall ist Hamburg, das derart viele Elemente eines Reichsgaus aufwies, dass es in Geschäftsverteilungsunterlagen des Reichsministeriums des Innern schon einmal (fälschlich) als Reichsgau apostrophiert worden ist. Auch die organisatorischen Veränderungen im Jahr 1944 etwa im mitteldeutschen Raum (Erfurt) und Hessen (Nassau) können durchaus in Richtung einer gebietlichen Arrondierung im Sinne der Bildung von Reichsgauen gedeutet werden.

Ein reichhaltiger dokumentarischer Anhang rundet den Band ab: Karten der NSDAP-Gaue nach dem Stand von 1937 und 1942, Karten der Landesbauernschaften von 1937 sowie der Landesplanungsgemeinschaften von 1938, Übersichten der NS-Gaue im Altreich und der Reichsgaue in den „Anschlussgebieten“ ab 1938 (bei der Übersicht der Gauleiter hätten genauere Amtszeiten gewiss problemlos hinzugefügt werden können), schließlich Karten der Amtsbezirke der Reichsstatthalter von 1939 sowie der Reichsverteidigungs- und Wirtschaftsbezirke von 1942. So bietet die Veröffentlichung über die „NS-Gaue“ eine wertvolle Bestandsaufnahme bisheriger Forschungsergebnisse, regt zugleich aber zu weiteren einschlägigen Forschungen an.

Das Spektrum der erwähnten Beiträge ist zwar breit, zeigt aber nur ein kleines Segment der Forschungsfelder, die im großen Zusammenhang der „NS-Gaue“ der potentiellen Bearbeitung harren. Organisationsgeschichtlich interessant wäre es, analog der sechs Gaue in Bayern einmal die Stellung der knapp zwanzig Gaue in Preußen oder umgekehrt die besonderen Eigentümlichkeiten von sich über mehrere Länder erstreckenden Gauen zu untersuchen. Auch die Frage des Verhältnisses der „NS-Gaue“ zur teilweise weiterhin an den Wehrkreisen ausgerichteten Kriegswirtschaftsverwaltung wäre ein lohnender Untersuchungsgegenstand.

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