Titel
Erleben, Erleiden, Erfahren.


Herausgeber
Junge, Kay; Daniel Suber, Gerold Gerber
Anzahl Seiten
S. 514
Preis
€ 33,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Tanja Bogusz, Berlin / Paris

„Erleben“, „Erleiden“ und „Erfahren“ bezeichnen Zugangsweisen zur sozialen Welt, welche die für die Sozialwissenschaften typischen Unterscheidungen von „Individuum“ und „Gesellschaft“ oder „Struktur“ und „Handlung“ unterlaufen. Sie berühren den Mittelgrund einer nicht-dichotomisierten Alltagswirklichkeit und damit vor-reflexive Prozesse der Bewusstwerdung, in denen verhandelt wird, wie lebensweltliches Geschehen überhaupt konzeptualisiert werden kann. Wie anschlussfähig und wie nötig sind diese Zugangsweisen für sozialwissenschaftliche Handlungstheorien? Die Herausgeber einer kürzlich erschienenen, dem Konstanzer Soziologen Bernhard Giesen zum 60. Geburtstag gewidmeten Festschrift wollen ihre “konstitutive Rolle [...] exemplarisch und explorativ zum Gegenstand der Analyse” (S. 13) machen. Nachdem insbesondere die Kategorie der „Erfahrung“ im US-amerikanischen Pragmatismus, später in den Cultural Studies und gegenwärtig zunehmend innerhalb der Science and Technology Studies an Prominenz gewonnen hat, kann diese Diskussion innerhalb der deutschen Sozialtheorie nur begrüßt werden. Wie aber soll das Vorhaben einer theoriekonstitutiven „Poetik des Dazwischen“ (Günther Oesterle) eingelöst werden? Der inhaltsreiche Band beantwortet diese zweite Frage durch eine betont nicht-normative Kombination phänomenologisch-naturalistischer, philosophisch-anthropologischer, ideologiekritischer, praxistheoretischer und konstruktivistischer Perspektiven.

Die Festschrift ist in vier thematische Blöcke gegliedert: „Ideengeschichte/Ideologiekritik, Soziologie/Anthropologie, Ästhetik/Materialität, Identität/Intention“. Weil ihr Umfang (510 Seiten) nur einen parcoursartigen Überblick erlaubt, werde ich im Folgenden vor allem auf die Studien eingehen, die den deutlichsten Bezug zum Erlebens- und Erfahrungsbegriff herstellen. Zygmunt Baumann liefert in seinem Beitrag gleich zu Beginn folgende Definition: „Das ‚Erlebnis‘ ist die ‚subjektive‘ Seite der ‚Erfahrung‘, die selbst die ‚objektive‘ Seite des ‚Erlebnisses‘ ist.” (S. 45) Baumann dient diese Subjekt-Objekt-Dialektik als ideologiekritischer Ausgangspunkt zur Analyse der von ihm diagnostizierten „Konsumentengesellschaft“, die, dem „Subjektivitätsfetischismus“ unterworfen, zwar viel erlebe, doch wenig erfahre. Daniel Suber fokussiert demgegenüber auf eine Kritik der Wissenschaftsgeschichte und fragt nach den Ursachen für die Abwehr lebensphilosophischer Kategorien in der deutschen Soziologie, der es in der Etablierungsphase gerade nicht um „Er-Leben“, sondern um den Ausschluss des Lebens geht. Die neukantianische Skepsis gegenüber dem Lebensbegriff mündete – so seine Diagnose – in einer Soziologisierung philosophischer Sinnfragen. Karl-Siegbert Rehberg wiederum skizziert anhand des Spannungsverhältnisses zwischen ‚Erlebnis‘ und ‚Erfahrung‘ erkenntnistheoretische Strategien der Krisenbewältigung. Rehberg weist der Erfahrung sowohl subjektivierende wie objektivierende Eigenschaften zu; Erfahrung verinnerliche Erlebnisse (leiblich-subjektivierend) und reflektiere sie (geistig-objektivierend): Als „praktische Vertrautheit mit den Dingen” einerseits und „experimentelle Anreicherung unserer Weltkenntnis” andererseits münde ihre Position in der deutschen Nachkriegssoziologie jedoch im va-et-vient zwischen Überschreitung und Selbstbeschränkung, eine „Selbstaufklärung durch Erfahrung, die den Entgrenzungsgefahren des Erlebnishaften misstrauen gelernt hat.” (S. 135) Die mit diesem Misstrauen einhergehende Komplexitätsreduktion (Luhmann) wird später im Abschnitt „Materialität/Ästhetik“ von dem Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke mit einem Generalangriff auf die soziologische Grundannahme des Hegemonialcharakters von (sozialem) „Sinn“ kommentiert: Als „nachträgliche Attribution” (S. 324) sei „Sinn” stets fragil, zufällig und partikular. Daher sollte „Kultur” vielmehr erfahrungsorientiert an technische Betrachtungsweisen gekoppelt werden, „an feldtheoretische Ansätze in anderen Wissenschaften, an die Kybernetik und an diejenigen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit Organisation, Distribution und insbesondere mit Infrastrukturproblemen befassen.” (S. 331) In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Heinz Budes „Phänomenologie der Erfahrung“. Bude benennt drei Momente der Erfahrung bzw. des „Erfahrung-Machens“: 1. die Gewahrwerdung der „Fatalität eines Phänomens“, das heißt ihre Unumgänglichkeit, 2. die „Totalisierung“, das heißt ihre Allgegenwärtigkeit und schließlich 3. die „Existentialität“, das heißt die „Situation des Selbst“, als radikale Form der Selbstthematisierung. Handelt es sich bei der Erfahrung jedoch, in Anschluss an Baumann, um die „objektive Seite des Erlebens“, stellt sich die Frage nach der Kontingenz und Verallgemeinbarkeit von Erfahrungen und wie diese empirisch zu untersuchen sind. Dies betrifft den Zusammenhang von Ästhetik und Politik.

Hier fallen diejenigen Beiträge ins Gewicht, die in theoriekonstitutiver und forschungspraktischer Hinsicht für die aktuelle wie zukünftige Relevanz des Erlebens- und Erfahrungsbegriffes sprechen. Jeffrey C. Alexanders „Theorie des ikonischen Bewusstseins” hebt „verstofflichte Erfahrung” als Quelle von Erkenntnis und Sozialität hervor, die ikonisches Bewusstsein produziere. Das ikonische Bewusstsein soll der Sphäre des kulturell Unbewussten, des Irrationalen oder des rein Symbolischen entrissen und der soziologischen Analyse zugänglich gemacht werden, indem es als erkenntnisstiftende Verdichtung und als moralischer Generator aufgefasst wird: „Dass alles Erleben ikonisch ist, meint also, dass das Selbst, Vernunft, Moral und Sozialität immer schon über den Modus des ästhetischen Erlebens vermittelt sind.” (S. 289) Das erinnert sehr an John Deweys „Kunst als Erfahrung“, den Alexander jedoch nicht erwähnt.

Ähnlich wie Alexander will auch Andreas Reckwitz das Ästhetische als neues wirklichkeits- und handlungskonstituierendes soziologisches Leitparadigma etablieren. Das Anliegen von Reckwitz, „die Sensibilisierung der Sozialtheorie für ästhetische Qualitäten von Handeln und Sozialität” (S. 302) voranzutreiben, präsentiert sich als praxistheoretisches Innovationsvorhaben mit (disziplinen)kritischem Impetus. Dabei übergeht er die nicht nur in der Kultursoziologie längst etablierte Einsicht, dass erst spezifisch kollektive Kontextualisierungsformen und -strategien auf die materielle Eigentümlichkeit ästhetischer Erfahrung verweisen und so ihre soziale Signifikanz zur Anschrift bringen. Das mögliche „neue“ an dieser Perspektive – etwa die empirisch-methodologische Verbindung von „Praxis“, „Ästhetik/Materialität“ und „Erfahrung“ lässt sich hier dennoch erahnen. Ein praxistheoretischer Ansatz zur Integration phänomenologisch-kultureller Handlungsmodi und sozialer Gestaltungsmöglichkeiten wird auch von Stephan Moebius verfolgt. Moebius stellt das Gabe-Theorem von Marcel Mauss vor und betont dessen weitreichende Anschlussmöglichkeiten an aktuelle handlungstheoretische, kulturwissenschaftliche und ethnologische Studien. Die erfahrungsgrundierte Einbeziehung von Körpertechniken als konstitutive Elemente sozialer Sinnenentfaltung und Sinngebung macht Mauss aus Moebius’ Sicht zu einem Pionier gegenwärtiger Kulturtheorien, die sich einer nicht-deterministischen, empirisch fundierten und politisch interessierten Soziologie verschreiben. Als „Praxis der Pazifizierung“ sieht Moebius die Gabe darüberhinaus als eine kulturell differenzierte, gleichwohl um Differenzen wissende politische Herausforderung für die „Vision einer ‚multipolaren Weltordnung‘ (Chantal Mouffe)“ (S. 194).

Diese politische Vision wird in fast allen Studien im Abschlussblock „Identität/Intention“ erweitert, in denen „die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft“ anhand des Zusammenhangs von Herrschaft, Gemeinschaft und dem Politischen im Alten Ägypten (Jan Assmann), dem Phänomen der „Übergangsidentitäten“ vom Dritten Reich zur bürgerlichen bundesrepublikanischen Gesellschaft (Wolfgang Seibel), unintendierten Folgen ökonomischer Vermeidungsstrategien in der späten DDR (Wolfgang Ludwig Schneider), der Re-Moralisierung des politischen Diskurses in globalisierten Gegenwartsgesellschaften (Helmut Dubiel) und Doppelstrukturen von Gouvernementalität (Richard Münch) beleuchtet werden. Hier besticht insbesondere Klaus Eders Untersuchung europäischer Identitätskonzepte. Der ideologiekritische Gestus der Subjekt-Objekt-Dialektik in der Gegenüberstellung von „Erleben“ und „Erfahren“ wird von Eder unter Rückgriff auf eine „bottom-up“ Strategie umgangen, derzufolge der durch Pluralität gekennzeichnete europäische Diskursraum weniger durch institutionelle Vereinheitlichungen (gemeinsame Währung, Europäische Verfassung etc.), sondern vielmehr durch performative Handlungen (Medien, Kultur und Öffentlichkeit) sowie durch indirekte Kommunikationsnetze hergestellt wird. Diese bringen eine „europäische Identität als narrative Ordnung emergenter Interobjektivität“ (S. 451) hervor.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das begrüßenswerte Anliegen der Herausgeber durch seine lesenswerten, thematisch breit gestreuten Umsetzungen durchaus eingelöst wird, jedoch hinsichtlich der durch den Buchtitel suggerierten terminologischen Klärung der für die Sozial- und Kulturwissenschaften zentralen und vieldiskutierten Kategorien des „Erlebens“ und „Erfahrens“ wenig neues beizutragen vermag. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass konsistente disziplinenübergreifende Bezüge auf die Cultural Studies, die Sozial- und Kulturanthropologie oder die Science and Technology Studies ausbleiben, die seit Beginn der 1990er-Jahre eben jenen erfahrungsgrundierten „radical middleground“ verteidigen, den Soziologen erst jetzt zu entdecken scheinen. Ferner überrascht, dass der von William James initiierte und von John Dewey weiterentwickelte emergenztheoretische Erfahrungsbegriff kein Diskussionsgegenstand ist. Zwar hatte dieser durchaus eine instrumentelle Funktion im Sinne seiner empirisch-experimentellen Anwendung, vermied jedoch zugleich die für die europäische Sozialtheorie typischen vernunft- und rationalitätszentrierten Verkürzungen, die im vorliegendem Band zu Recht kritisiert werden. Und schließlich scheint es kein Zufall, dass der Aufsatztitel des Politologen Claus Leggewie „Brüder im Geiste. Kleine Soziologie wissenschaftlicher Kollegenschaft“ lautet – von 24 Beiträgen stammt nur ein einziger von einer Frau.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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