V. Reinhardt: Fördermittel statt Beitrittsperspektive

Titel
Fördermittel statt Beitrittsperspektive. Brüssel und Chişinău seit der Auflösung der Sowjetunion


Autor(en)
Reinhardt, Victoria
Erschienen
Baden-Baden 2008: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
268 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wim van Meurs, Radboud Universiteit Nijmegen Email:

Die akademische Literatur zur Transformationswirkung (im dreifachen Sinne: Demokratie, Marktwirtschaft sowie Staats- und Nationsbildung) der Europäischen Union wächst in den letzten Jahren exponentiell. Zumeist steht am Anfang (und am Ende) die Glaubensfrage, ob ein Autor die EU wegen Nichtberücksichtigung regionaler/nationaler Eigenheiten kritisiert oder ob ein unerschütterliches Vertrauen in der Wirkungsmächtigkeit Brüssels wegen der Beitrittsperspektive bzw. des “norm setting“ vorherrscht. Victoria Reinhardt optiert zwar für die Perspektive der Area Studies, zeigt sich aber als eine kritische Beobachterin der EU-Strategien und nicht als kulturologische Transformationspessimistin.

Nationale Fallstudien wie die hier anzuzeigende über die jüngste Geschichte Moldovas sind ebenso wie Regionalstudien oder Politikfeldanalysen mit mehreren inhärenten Dilemmata konfrontiert, die zum Teil auch die EU selbst beschäftigen. Die weniger zeithistorische als politikwissenschaftliche Frage, ob die EU Reformen und Transformation nur verstärken oder auch selbständig induzieren konnte und kann, unterstellt, dass die „Reformfähigkeit“ eines Landes bzw. der „Reformwille“ sich als unabhängige Variablen bestimmen lassen. Gerade Moldova ist ein gutes Beispiel des Gegenteils: Das dortige kommunistische Regime hat sich 2003 mangels überzeugender Alternativen auf eine anfänglich noch ziemlich leere EU-Rhetorik eingelassen (wenn auch nur, um zu verhindern, dass die politische Opposition dies zur Plattform macht). Dennoch hat die Verwendung der Rhetorik eine gewisse normative Wirkung entfaltet. Das zweite Dilemma (für akademische Beobachter wie für die EU-Bürokratie) besteht darin, dass sich die wirkliche Umsetzung von europäischen Normen kurz- und mittelfristig kaum beurteilen lässt. Bei dem Problem der „papierenen“ oder simulierten Reformmaßnahmen spielen außerdem so viele einheimische, regionale und internationale Faktoren eine substantielle Rolle, dass das Urteil, ob die EU hier Entscheidendes geleistet hat bzw. wichtige „windows of opportunity“ ausgelassen hat, schlussendlich eine Ansichtssache bleibt.

Gleiches gilt auch für Reinhardts überaus kompetente Darstellung und kritische Analyse der EU-Politik vis-à-vis Moldova seit 1991. Sie bemängelt das Streben der EU nach allgemein gültigen Ansätzen für Ländergruppen, die wie z.B. im Rahmen der European Neighbourhood Policy (ENP) teilweise unterschiedlicher nicht sein könnten, ohne dabei dem üblichen Pessimismus von Experten der Area Studies über die Ignoranz „Europas“ zu verfallen oder einseitige Lösungen anzubieten. Die im Buch präsentierten Einschätzungen basieren aber zumeist auf einer nüchternen Strategieanalyse und nicht auf einer objektivierbaren Wirkungsanalyse. Dies tut der Studie keineswegs Abbruch, da man den Ausführungen und Schlussfolgerungen – auch den subjektiven eigenen Urteilen – meist nur zustimmen kann, z.B. bezüglich der Überschätzung von NGOs als „die Zivilgesellschaft“, die beidseitige (bewusste) Fehlinterpretation der ENP durch Brüssel und Chişinău oder die Konzeptlosigkeit der EU jenseits der Osterweiterung bis 2003. Lediglich die Erklärung der schwachen Gegeneliten von heute aus den Deportationen der 1940er- und 1950er-Jahre, die uneingeschränkte Würdigung der integralen Übernahme des Aktionsplans der European Neighbourhood Policy als nationale Reformagenda sowie die positive Beurteilung der Stabilisierungswirkung des 30%-igen Anteils der Gastarbeiterrücküberweisungen an die Volkswirtschaft von Moldova, müssten hinterfragt werden. Angesichts der empirischen Unwägbarkeiten der vorhandenen Zahlen (Schönung der Zahlen durch die zuständigen Behörden sowie massive Schattenwirtschaft, kriminelle Geschäfte und illegale Gastarbeit in rekordverdächtigem Umfang) wäre eine quantitative Wirkungsanalyse wenig mehr als ein Glasperlenspiel. Es ist der Autorin positiv anzurechnen, dass sie sich hierauf nicht einlässt und stattdessen auf ihre eigene nüchterne Analyse von strategischen Entscheidungen und lokalen Sachverhalten setzt.

Ihre Analyse lässt sich gewinnbringend auch und vor allem als eine Entwicklungsgeschichte der EU-Strategien für Moldova (und teils für vergleichbare osteuropäische Nichtbeitrittsländer) lesen – von Partnerschafts- und Kooperationsabkommen über Stabilitätspakt, „Wider Europe“ und Nachbarschaftspolitik hin zu European Neighbourhood and Partnership Instrument und neue Ostpolitik. Die Autorin überzeichnet dabei vielleicht den Unterschied zwischen der amerikanischen Bereitschaft, Moldova als Teil Südosteuropas zu betrachten und der diesbezüglichen Zurückhaltung der Europäischen Union. Für die EU waren die politik-strategischen Konsequenzen einschneidend gewesen: Als südosteuropäisches Land hätte Moldova Aufnahme in den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess und schließlich auch eine Beitrittsperspektive beanspruchen können. Die Aufteilung der EU-Strategieentwicklung in einen transformationsoptimistischen, universalistischen Washingtoner Konsensus, einen eher auf Armutsbekämpfung und Institutionenbildung ausgerichteten Monterrey Konsensus (2002-2005) und einen heutigen Brüsseler Konsensus leuchtet ein. Die Aufteilung und die dahinter liegenden Erkenntnisse sagen jedoch mehr über die Stimmungslage und strategischen Paradigmen bei der EU als über die tatsächlichen Transformationsfortschritte in einem relativ unbedeutenden Land wie Moldova aus.

In den Kapiteln 5 und 6 verfolgt die Autorin aufgrund obiger Prämissen der Nichtquantifizierbarkeit der EU-Förderung genau diese Lerneffekte für beide Seiten, die Frage der Kongruenz von Transformationsbedürfnissen und EU-Programmschwerpunkten sowie das wenig erforschte Thema der Selbsteinschätzung und des EU-Bildes nationaler Entscheidungsträger. (Die vollständigen Interviews aus den Jahren 2003 und 2006/7 finden sich ebenso wie die mit wichtigen EU-Repräsentanten und Botschaftern von EU-Staaten im Online-Anhang des Buches.) Die Analyse in den Bereichen Staatlichkeit, Institutionenaufbau, Bildung, Wirtschaftsreformen, Landwirtschaft, Sozialpolitik und ähnlichem geht deutlich über die Ebene der Katalogisierung und Analyse von Fördervorhaben hinaus. Gerade dieser letzte Teil, wenn auch nur ein Bausteinchen im Feld der jüngsten Europäisierungsgeschichte, sollte für Repräsentanten westlicher Regierungen und europäischer Organisationen in Moldova zur Pflichtlektüre werden. Die konstatierten Schwachstellen – z.B. die mangelnde Förderkontinuität, die Verzögerung in der Anpassung von Förderprioritäten oder die einseitige Fokussierung auf die hauptstädtischen Staatsinstitutionen – sind durchaus von Belang für die nächste Phase der Europäisierung der Republik Moldova. Hiermit hat die Autorin der Forschung, aber sicherlich auch ihrem Mutterland angesichts des bekanntlich mangelhaften institutionellen Gedächtnisses und der zähen Lernfähigkeit (inter)nationaler Bürokratien einen großen Dienst geleistet, auch wenn die Finalität der bilateralen Beziehungen zwischen Brüssel und Chişinău weiterhin eine offene Frage ist.

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