S. Krakowski: Das Todeslager Chełmno/Kulmhof

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Titel
Das Todeslager Chełmno/Kulmhof. Der Beginn der "Endlösung"


Autor(en)
Krakowski, Shmuel
Erschienen
Göttingen 2007: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
236 S.
Preis
€ 22.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mathias Beer, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen

Am 19. März 1943 wandte sich der Reichsstatthalter und Gauleiter der NSDAP im Reichsgau Wartheland, Arthur Greiser, mit einem Schreiben an Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Darin heißt es unter anderem: „Ich habe vor einigen Tagen das frühere Sonderkommando Lange, das heute unter dem Befehl des SS-Hauptsturmführers Kriminalkommissar Bothmann steht und als Sonderkommando in Kulmhof, Kreis Warthbrücken, seine Tätigkeit am Ende d. Mts. einstellt, besucht, und dabei eine Haltung der Männer des Sonderkommandos vorgefunden, die ich nicht verfehlen möchte, Ihnen, Reichsführer-SS, zu gefälligen Kenntnis zu bringen. Die Männer haben nicht nur treu und brav und in jeder Beziehung konsequent die ihnen übertragene schwere Pflicht erfüllt, sondern darüber hinaus auch noch haltungsmäßig bestes Soldatentum repräsentiert“ (S. 124). Mit der in jeder Beziehung konsequent durchgeführten Pflicht umschreibt Greiser die Tätigkeit des Personals im Vernichtungslager Chełmno. Das kleine polnische Dorf, das nach dem Überfall Deutschlands auf Polen den deutschen Namen Kulmhof erhielt, liegt im Kreis Kolo am Fluss Ner, rund 70 Kilometer nordwestlich von Łódź. Bis zum Kriegsausbruch 1939 lebten dort rund 250 polnische Bauern. Nachdem sie größtenteils vertrieben worden waren, wurden im Dorf vor allem „Heim-ins-Reich-geholte“ Wolhynien-Deutsche angesiedelt.

Das in Chełmno eingerichtete Vernichtungslager unterscheidet sich durch mindestens drei Merkmale wesentlich von den anderen fünf nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Es war im Unterschied zum Generalgouvernement das einzige Vernichtungslager, das in dem nach dem Polenfeldzug dem Deutschen Reich eingegliederten Reichsgau Wartheland bestand. In Chełmno wurde am 8. Dezember 1941, und damit am frühesten, die systematische Ermordung von Juden aufgenommen. Darauf zielt der Untertitel des Buches von Krakowski – „Der Beginn der ‚Endlösung’“. Zudem erfolgte die Tötung der Opfer mit Hilfe von Gaswagen. Dabei handelte es sich um Lastkraftwagen, auf deren Fahrgestell ein luftdicht abgeschlossener Kastenaufbau montiert war. In ihnen wurden durch das Einleiten der Motorabgase des Fahrzeugs Menschen gezielt durch CO-Vergiftung getötet. In den zeitgenössischen Dokumenten werden die Fahrzeuge „Sonderwagen“, „Spezialwagen“, „Sonderfahrzeuge“ oder „S-Wagen“ genannt. Während der zwei ‚Betriebsphasen’ des Lagers (Dezember 1941 bis März 1943 und April 1944 bis Januar 1945) wurden im Vernichtungslager Chełmno (bestehend aus dem sogenannten Schloss und dem Waldlager) mindestens 152.000 Menschen getötet, vor allem Juden aus dem Warthegau und insbesondere aus dem Ghetto in Łódź, aber auch Sinti und Roma aus dem Burgenland, russische Kriegsgefangene und tschechische Kinder aus Lidice.

Aber nicht nur bezogen auf seine Lage, den frühen Zeitpunkt der Inbetriebnahme des Lagers und die eingesetzte Tötungstechnik erweist sich das Vernichtungslager Chełmno als Sonderfall. Auch forschungsgeschichtlich betrachtet nimmt Chełmno eine Sonderstellung unter den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ein. Im Vergleich zu den anderen Lagern ist der Forschungsstand zu Chełmno als dürftig zu bezeichnen. Es liegen wenige Publikationen zu diesem Lager vor. Die einzige monographische Untersuchung ist eine polnische Publikation von 1946.1 Der Autor ist ein Richter, der Chełmno im Rahmen der Kommission zur Untersuchung deutscher Kriegsverbrechen in Polen untersuchte. Hinzu kommen einige deutsche Beiträge, darunter jener von Shmuel Krakowski in der 1983 erschienenen Dokumentation „Nationalsozialistische Massentötung durch Giftgas“.2 Erst in jüngster Zeit findet das Vernichtungslager Chełmno größere Aufmerksamkeit in der Forschung.3

Der unbefriedigende Forschungsstand, die langjährige Beschäftigung mit dem Komplex Chełmno und offensichtlich auch der biographische Bezug zu den Geschehnissen bilden den Ausgangspunkt für die von Shmuel Krakowski vorgelegte Studie. Dabei greift der zunächst als Chefarchivar am Jüdischen Historischen Institut in Warschau und dann als Direktor des Yad Vashem-Archivs in Jersualem tätige Historiker auf drei Quellengruppen zurück. Erstens zieht er die spärliche polnische, hebräische, jiddische sowie deutsche Literatur (Quelleneditionen, Forschungsergebnisse und Selbstzeugnisse) heran. Gerade letztere entspricht aber nicht immer dem neusten Forschungsstand.4 Hinzu kommt zweitens die aufgrund der im Januar 1945 vom Lagerpersonal vorgenommenen gezielten Aktenvernichtung nur geringe Zahl an überlieferten Dokumenten. Und schließlich wertet Krakowski drittens vor allem die im Yad-Vashem-Archiv als Kopien vorliegenden Unterlagen von unterschiedlichen polnischen Ausschüssen zur Untersuchung von Naziverbrechen sowie die Verfahren aus, die seit 1959 vor deutschen Gerichten gegen Verantwortliche des Massenmordes im Warthegau sowie gegen Angehörige des Lagerpersonals in Chełmno durchgeführt worden sind.

Von dieser Quellengrundlage ausgehend, aus der insbesondere Zeugenaussagen und Selbstzeugnisse (viel zu) ausgiebig zitiert werden, ist es Ziel der Studie, nicht nur die Geschichte des Lagers, also seine Entstehung, die Organisation, das Personal, die Zuständigkeiten, die gerichtliche Verfolgung der Täter und die Formen der Erinnerung an das Lager darzustellen. Krakowski versucht auch die Geschichte des Lagers in den Kontext des Vernichtungsprozesses der Juden im Warthegau zu stellen, wobei er besonders auf die Geschichte der Ghettos in Łódź eingeht. Beiden Anliegen dienen die im Anhang bereitgestellten Karten, ein Lageplan des Lagers, zeitgenössische Fotos über die Deportationen aus dem Ghetto Łódź sowie Bilder der in Chełmno eingerichteten Gedenkstätte.

Die eher mit Empathie für die Opfer berichtende und zitierende als analysierende Studie ist in insgesamt neun chronologisch angeordnete Kapitel gegliedert. Zunächst wird die Geschichte der jüdischen Bevölkerung auf dem Gebiet des Reichsgaus Wartheland vor dem Zweiten Weltkrieg bis zum Beginn der Vernichtung knapp umrissen. Die Errichtung des Lagers, die ersten Deportationen und der Beginn der Tötungen in Chełmno, die „Liquidierung der Gemeinden in den Provinzstädten“ sowie die Phasen der Deportationen aus dem Ghetto Łódź bis zur endgültigen Liquidierung des Ghettos im Frühjahr 1944 werden in den folgenden Kapiteln geschildert. Spätestens hier wäre der Ort gewesen, wo auf die Sonderstellung des Lagers Chełmno im Rahmen der nationalsozialistischen Vernichtungslager hätte deutlicher eingegangen werden können. Mit der eingesetzten Tötungstechnik der Gaswagen, welche die Studie nur randständig streift, und dem Lagerpersonal erweist sich Chełmno nämlich als wichtiges Bindeglied zwischen dem nationalsozialistischen Euthansieprogramm und dem seit Ende 1941 in den Vernichtungslagern industriell durchgeführten Genozid. Dem Raub jüdischen Besitzes, der Auflösung des Lagers im Januar 1945 und der gerichtlichen Verfolgung der Täter geht die Studie jeweils in einem eigenen Kapitel nach. Im Nachwort legt Krakowski eine bereits bekannte Bilanz der Opferzahlen vor, versucht Besonderheiten des nationalsozialistischen Völkermords im Warthegau zu benennen, um abschließend in Stichworten die Geschichte der Erinnerung an das Vernichtungslager zu schildern, deren vorerst letzte Station das 1990 eröffnete Museum darstellt.

Krakowski kann mit seiner Studie das selbst gesteckte Ziel, den Informationsstand zum Vernichtungslager Chełmno zu erweitern und zu vervollständigen sowie auf den „gebührende(n) Stellenwert der Tragödie von Chełmno“ (S. 10) im Rahmen des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms aufmerksam zu machen, sicher erreichen. Die mit dem Titel suggerierte Geschichte des Vernichtungslagers Chełmno liegt damit aber (noch) nicht vor. Sie bleibt ein Desiderat der Forschung.

Anmerkungen:
1 Władysław Bednaz, Obóz straceń w Chełmnie nad Nerem, Warschau 1946. Deutsche Übersetzung: Das Vernichtungslager zu Chełmno am Ner, Warschau 1949.
2 Shmuel Krakowski: In Kulmhof. Sationierte Gaswagen, in: Eugen Kogon u.a. (Hrsg.), Nationalsozialistische Massentötung durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1983, S. 110-145, 313f.
3 Lucja Pawlicka-Nowak (Hrsg.), The Extermination Center für Jews in Chełmno-on-Ner in the Light of the Latest Research. Symposium Proceedings, September 6-7, 2004. Konin 2004; Peter Klein, Kulmhof/Chełmno, in: Wolfgang Benz / Barbara Diestel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 8: Riga-Kaiserwald, Warschau, Vaivara, Kauen (Kaunas), Plaszów, Kumhof/Chełmno, Belzec, Sobibór, Treblinka, München 2008, S. 301-328.
4 Vgl. u.a. Michael Alberti, Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland 1939-1945, Wiesbaden 2006.

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