Cover
Titel
Geschichte im Fernsehen. Eine Untersuchung zur Entwicklung des Genres und der Gattungsästhetik geschichtlicher Darstellungen im Fernsehen 1995 bis 2003


Autor(en)
Lersch, Edgar; Viehoff, Reinhold
Reihe
Schriftenreihe Medienforschung der LfM 54
Erschienen
Berlin 2007: Vistas Verlag
Anzahl Seiten
338 S.
Preis
€ 21,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Meyen, Institut für Kommunikationswissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München

Was hat es nicht für Schlachten gegeben zu diesem Thema. Geschichte im Fernsehen und der Teufel in Gestalt des Redakteurs Guido Knopp: Das hat Feuilletons, Kulturkritik sowie Historikertage bewegt (etwa in Konstanz) und manche Kollegen aus der akademischen Forschung ganz tief in die Formulierungskiste greifen lassen. Unvergessen: „Geschichtspornographie“ (Wulf Kansteiner) und „Verwahrlosungsfernsehen“ (Norbert Frei).1 Wenn sich der Rauch solcher Debatten gelegt hat, kommt die empirische Sozialforschung und nimmt den Streithähnen mit Schaubildern und Tabellen die Lust am Weiterkämpfen. Edgar Lersch und Reinhold Viehoff fragen, ob sich die „Visualisierung der Geschichte“ und die „affektive Überformung von Informationsangeboten“ negativ auf die „inhaltlichen Aussagen von historischen Dokumentationen“ sowie auf ihre „Präzision“ auswirken (S. 77). Rund 200 Seiten später kommen die beiden Professoren vom Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zu dem Ergebnis, dass die Fernsehmacher alles tun, um „das Beste“ aus „den historischen Stoffen herauszuholen“. Von einer „Verflachung der historischen Inhalte bei einer Aufbereitung für das Fernsehen“ könne folglich keine Rede sein (S. 280).

Doch der Reihe nach. Bemerkenswert ist zunächst der Auftraggeber der Studie. Die Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen wird aus Rundfunkgebühren finanziert und hat eigentlich den privaten Rundfunk zu beaufsichtigen. In der Diskussion um das Geschichtsfernsehen sind diese Sender bisher nicht aufgefallen. Die Studie von Lersch und Viehoff stützt sich zwar auf ein denkbar „weites Verständnis von geschichtlichen Sendungen“ (für 2003 wurde zum Beispiel alles erfasst, was „in irgendeiner Weise ein Geschichtsthema“ berührt, S. 86), an dem Befund aber, dass historische Themen auf RTL, Sat.1, ProSieben und VOX keine Heimat haben 2, hat dies nichts geändert (S. 96f., 241f.). Dies erklärt den Begründungsaufwand, den Lersch und Viehoff im ersten Kapitel unter der Überschrift „Die Ziele des Projektes“ betreiben, um ihre Studie im Allgemeinen und den Geldgeber im Besonderen zu legitimieren. Sie stellen die Debatte um das Geschichtsfernsehen dabei in den Kontext des Dualen Rundfunksystems (Stichwort: „Konvergenz nach unten“, S. 12), bemühen Jürgen Habermas und behaupten, dass „der öffentliche Gebrauch der Historie für die Selbstorientierung der Gesellschaft“ eine „besondere Bedeutung“ habe (S. 20) – eine deutlich größere als zum Beispiel eine Fußballübertragung (S. 18). Wer Angebote für den öffentlichen Diskurs sowie für das Identitäts- und Emotionsmanagement der Zuschauer als zentrale Aufgabe der Massenmedien sieht, mag an dieser These zweifeln, sie hat aber offenbar genügt, die Fördertöpfe der Landesmedienanstalt zu öffnen, obwohl Geschichtsfernsehen in ihrem Zuständigkeitsbereich eigentlich gar keine Rolle spielt.

Historikern, Medienleuten und allen sonst am Thema Interessierten kann der Entstehungshintergrund egal sein. Sie bekommen eine kenntnisreiche Einführung in den „diskursiven Kontext“ („Geschichte, Erinnerungskultur, Medien“, S. 29-41) sowie eine Studie, die weit über das Phänomen Knopp hinausgeht und allein schon durch ihren empirischen Aufwand alles in den Schatten stellt, was bisher über Geschichtssendungen im Fernsehen publiziert worden ist. Lersch und Viehoff haben das Angebot der wesentlichen Sender in den Jahren 1995, 1999 und 2003 untersucht und liefern eigentlich drei Studien auf einmal: erstens eine Komplettanalyse aller 682 Sendungen aus dem Jahr 2003, die in irgendeiner Weise „einen Bezug zu einem historischen Ereignis oder einer Person“ haben (S. 94), zweitens einen Drei-Jahres-Vergleich der nicht-fiktionalen Beiträge, die auf einem Geschichtssendeplatz oder in entsprechenden Reihen gelaufen sind (insgesamt 848 Sendungen), und drittens eine „Analyse der Ästhetik“ (S. 94) – exemplarisch für 154 ausgewählte Sendungen und ebenfalls im Vergleich der drei Untersuchungsjahre.

Kein Zweifel: Ihr wichtigstes Ziel haben die Auftragnehmer erreicht („auf Basis empirisch gesicherter Daten mehr über das Angebot an Geschichtssendungen im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland, ihren Umfang und ihren Wandel sowohl im öffentlich-rechtlichen wie privatkommerziellen Sektor zu erfahren“, S. 22). Lersch und Viehoff bestätigen, dass das Thema Geschichte im Fernsehen auf dem Vormarsch ist (S. 271), und zeigen, dass sich hier ein „fester Gestaltungskanon“ herausgebildet hat (S. 241), zu dem Zeitzeugen gehören (das dominante Gestaltungselement, S. 188), ein Kommentar aus dem Off, Musik, Originalaufnahmen und Dokumente (S. 241, 275). Trotzdem wird Geschichte auch im Fernsehen vor allem durch das Wort vermittelt (im „Modus der Erzählung“, bei dem Bilder vor allem Illustration seien, S. 220). Es ist natürlich unmöglich, die Fülle der Untersuchungsdetails auch nur annähernd angemessen wiederzugeben. Nur ein Beispiel ohne jede Differenzierung etwa nach Sendern: Während Personalisierung (leicht) und Ästhetisierung (signifikant) im Untersuchungszeitraum abgenommen haben, wurde mehr dramatisiert (also szenisch rekonstruiert oder fiktional dargestellt, S. 228).

Wenn Lersch und Viehoff am Ende beklagen, dass die „eingesetzten Medien“ (vor allem „Materialien aus Spielfilmen und Fernseharchiven“) häufig nicht kontextualisiert werden, und von den Fernsehmachern verlangen, hier „Medienaufklärung im direkten Sinne“ zu betreiben (S. 276) und den Zuschauer außerdem auf den „Konstruktionscharakter der Vergangenheitsbeschreibung“ hinzuweisen (S. 279), dann ist dies durch die empirischen Befunde allerdings nicht wirklich gedeckt. Dies gilt auch deshalb, weil die Untersuchungsziele zwei und drei nur teilweise erreicht worden sind. Lersch und Viehoff hatten sich vorgenommen, die „Deskription und Analyse des Angebots“ mit einer Analyse der „redaktionellen Rahmenbedingungen“ zu verbinden und außerdem die „triadische Balance“ zwischen Zuschauererwartungen, Medienlogik und Gütekriterien historischer Forschung „zu erklären und zu verstehen“ (S. 23). Dazu fehlt zum einen eine Theorie (etwa: Schimanks Akteur-Struktur-Ansatz) und zum anderen empirisches Material. Während einige (wenige) Fernsehmacher an einem Workshop teilgenommen haben, der im Buch ausführlich dokumentiert (aber kaum interpretiert) wird und so immerhin Aufschluss über die Arbeitsbedingungen und das Selbstverständnis von Geschichtsjournalisten gegeben werden kann, bleibt die Zuschauerseite komplett ausgeblendet. Lersch und Viehoff ist zugute zu halten, dass sie um diese Leerstelle wissen (S. 26f.).

Für alle, die bisher den Graben zwischen den Konstruktionsnormen in Geschichtswissenschaft und Fernsehen beklagt haben, enthält das Buch eine besondere Pointe. Zur Logik empirischer Sozialforschung (oder von Auftragsstudien) gehört offenbar, die Leser mit einem Wust an Tabellen und vertexteten Daten zu konfrontieren. Wer sich dort durchkämpft (oder die Seiten einfach überblättert), wird am Ende mit einem differenzierten Bild der „Geschichte im Fernsehen“ belohnt.

Anmerkungen:
1 Sven Felix Kellerhoff, Zu viel „Geschichtspornographie“ im Fernsehen, in: Die Welt vom 22. September 2006.
2 Jürgen Wilke, Fünfzig Jahre nach Kriegsende: die Rethematisierung im deutschen Fernsehen 1995, in: Jürgen Wilke (Hrsg.), Massenmedien und Zeitgeschichte, Konstanz 1999, S. 260-276.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension