C.-P. Clasen: Augsburger Textilarbeiterstreiks

Titel
Streikgeschichten. Die Augsburger Textilarbeiterstreiks 1868-1934


Autor(en)
Clasen, Claus-Peter
Reihe
Studien zur Geschichte des bayerischen Schwaben 38
Erschienen
Augsburg 2008: Wißner-Verlag
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Koller, School of History, Welsh History and Archaeology, Bangor University

Die historische Streikforschung hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine Durststrecke durchlaufen. Zusammen mit der Arbeitergeschichte ist sie Ende der 1980er-Jahre aus der Mode geraten, erschien einem Zeitgeist, der durch neoliberale Wirtschaftsvorstellungen und postmodernen Kulturalismus geprägt war, als verstaubt und, trotz der anhaltenden Bedeutung des Phänomens Streik, nicht mehr zeitgemäß. Dadurch verpasste die bis Anfang der 1990er-Jahre stark quantitativ ausgerichtete Streikforschung den Anschluss an neuere historiographische Tendenzen wie die Geschlechtergeschichte, Diskursgeschichte, Transnationalitätsgeschichte oder Geschichte der Emotionen weitgehend oder, um den Spieß umzudrehen, diese Ansätze ließen ein Untersuchungsfeld brachliegen, das für ihre Fragestellungen reichhaltiges Material bieten würde. Zwar sind in den letzten Jahren einige Publikationen zur historischen Streikforschung erschienen, die teilweise neuere Ansätze fruchtbar machen1, und es finden außerhalb des deutschen Sprachraumes auch wieder entsprechende Tagungen statt, von einer eigentlichen Renaissance der historischen Streikforschung kann aber einstweilen wohl nicht gesprochen werden.

Claus-Peter Clasen, der Verfasser des anzuzeigenden Buches, ist bereits mit mehreren Monographien zur Augsburger Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an die Öffentlichkeit getreten, unter anderem mit Abhandlungen zu Gesellenstreiks im 17. und 18. Jahrhundert.2 Im vorliegenden Band befasst er sich mit den Arbeitskämpfen in Augsburgs Textilindustrie, die um die Jahrhundertwende rund 25 Fabriken umfasste, von denen zwischen dem ersten größeren Konflikt im Jahre 1868 und dem Ende der Weimarer Republik praktisch jede mindestens einmal von einem Streik betroffen war. Clasen stützt sich dabei auf die Akten verschiedener einschlägiger Archive wie auch auf die Lokalpresse und einige gedruckte Quellen.

Ausgehend von der Prämisse, dass jeder Streik ein Drama für sich war, rekonstruiert Clasen Anlass, Verlauf und Ergebnis der einzelnen Arbeitskämpfe ausführlich. Er schildert dabei die Organisations- und Aktionsformen der Streikenden, ihre Forderungen und Ultimaten, die Rolle lokaler Gewerkschaftsführer, die Handlungsweisen und Kampfmittel der betroffenen Unternehmer, die Haltung der städtischen und staatlichen Behörden, den Einsatz von Polizei und gelegentlich von Militär und die Ergebnisse im Wandel von Einzelvereinbarungen zu Flächentarifen. Insgesamt lassen sich vier Streikperioden feststellen, nämlich 1868 bis 1870, 1882 bis 1883, 1903 bis 1912 und 1919 bis 1924. Die erste Phase hing mit der Ausbreitung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und der Kritik an den Verhältnissen in der Textilindustrie zusammen. Die beiden nächsten Streikphasen waren teilweise mit der günstigen Konjunktur verbunden, die zweite auch mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung. 1912 fanden sich die drei Richtungsgewerkschaften der Textilindustrie (sozialdemokratische, christliche und hirsch-dunckersche) sogar zu einer imposanten öffentlichen Kundgebung zusammen. Die Streikphase nach dem Ersten Weltkrieg stand dann im Kontext der krisenhaften Entwicklung der frühen Weimarer Republik und der Hegemonialkämpfe zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten auch in der Textilarbeitergewerkschaft. Neben diesen Makroprozessen spielten indessen, wie Clasen überzeugend darlegt, für das Ausbrechen eines Streiks stets auch spezifisch auf die betroffene Fabrik bezogene Faktoren eine entscheidende Rolle.

Clasen rekonstruiert sämtliche der vorgefundenen Arbeitskämpfe detailgetreu und arbeitet im Resümee auch Gemeinsamkeiten – etwa ihren durchweg gewaltfreien Verlauf – und Unterschiede heraus, ohne der Versuchung eines wie auch immer gearteten Masternarrativs zu erliegen. Hingegen ist es bedauerlich, dass er an sich nahe liegende neuere Ansätze nicht in seine Analyse mit einbezieht. Um nur zwei Punkte zu nennen: Der Struktur der Textilindustrie entsprechend war bei vielen Arbeitskämpfen eine beträchtliche Zahl, teilweise gar die Mehrheit der Streikenden weiblich. In den Streik- und Gewerkschaftsführungen hingegen waren Frauen offensichtlich nie vertreten, ebenso wenig unter den Referenten der Streikversammlungen – letzteres im Unterschied zu anderen zeitgenössischen Arbeitskämpfen in der Textilindustrie, etwa dem bekannten Wiener Appreturarbeiterinnenstreik von 1893. Umso mehr hätte es sich angeboten, die Geschlechterrollen im Streikgeschehen, etwa auch an Versammlungen und bei Demonstrationsmärschen, genauer unter die Lupe zu nehmen und beispielsweise der Frage nachzugehen, inwiefern die vorgefundenen Organisationsprinzipien mit dem Männerbundskonzept adäquat beschrieben wären. Zum zweiten konstatiert Clasen unter den Streikenden auch eine große Zahl von Ausländern. Viele Textilarbeiter in Augsburg stammten etwa aus Böhmen und anderen Teilen der Habsburgermonarchie, der Schweiz oder, in der ersten Streikphase, anderen deutschen Staaten und mussten bei den Arbeitskämpfen nicht nur mit dem Verlust ihrer Arbeitsplätze, sondern auch mit der Ausweisung rechnen. Im Sinne des „transnational turn“ in der Arbeitergeschichte, wie er schon verschiedentlich angemahnt worden ist3, hätte dieser Aspekt eine genauere Untersuchung verdient, etwa hinsichtlich der Frage, inwiefern diese migrierenden Arbeiter Vermittler einer transnationalen Streikkultur waren (etwa auch im Vergleich zur geographischen Mobilität streikender Handwerksgesellen der Vormoderne) und ob ihr Mittun einen Einfluss auf die Unterstützung der Streiks durch die lokale Bevölkerung, aber auch auswärtige Arbeiterorganisationen hatte. Durch den Einbezug dieser und weiterer Aspekte hätten die Augsburger „Streikgeschichten“ über ihre regionalhistorische Relevanz hinaus stärker in die aktuelle Forschungslandschaft eingepasst werden können.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Sjaak Van der Velden, Stakingen in Nederland. Arbeidersstrijd 1830-1995, Amsterdam 2000; Christian Koller, „Die russische Revolution ist ein reines Kinderspiel gegenüber derjenigen in Albisrieden!“ Der Arbenzstreik von 1906 in mikro- und kulturhistorischer Perspektive, in: Historische Anthropologie 11 (2003), S. 370-396; Michael Kittner, Arbeitskampf. Geschichte, Recht, Gegenwart, München 2005; Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Hamburg 2007; Julia Casutt-Schneeberger, Der Einfluss des Konjunkturzyklus auf die Streikaktivität in Deutschland, Österreich und der Schweiz von 1901 bis 2004, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 18 (2007), S. 80-100; Sjaak Van der Velden u.a. (Hrsg.), Strikes Around the World. Case Studies of 15 Countries, Amsterdam 2008.
2 Claus-Peter Clasen, Streiks und Aufstände der Augsburger Weber im 17. und 18. Jahrhundert, Augsburg 1993; ders., Streiks der Augsburger Schuhknechte. Freiheit und Gerechtigkeit, Augsburg 2002.
3 Vgl. etwa Marcel Van der Linden, Transnational Labour History. Explorations, Aldershot 2003; ders., Transnationale Arbeitergeschichte, in: Gunilla Budde u.a. (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 265-275.