U. Brunotte u.a. (Hrsg.): Männlichkeiten und Moderne

Titel
Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900


Herausgeber
Brunotte, Ulrike; Herrn, Rainer
Reihe
Gender Codes 3
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
€ 28,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Hoffmann, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart

Männer haben ein Geschlecht und Männlichkeit(en) eine (bzw. viele) Geschichte(n). Für die Erweiterung der Frauen- und Geschlechtergeschichte in Richtung Mann und Männlichkeiten stehen eine Vielzahl an Publikationen, die in den vergangenen fünf bis zehn Jahren im deutschen Raum erschienen sind: Mit Wolfgang Schmales „Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450-2000)“ und Ernst Hanischs „Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts“ liegen seit 2003 zwei Überblickswerke vor. 1 Und die „Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten“ von Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz (erschienen erstmals 2005) hat 2008 bereits ihre zweite Auflage erfahren. 2 Robert Connells Konzept „hegemonialer Männlichkeit“ bietet den historischen Men’s Studies heute einen etablierten theoretischen Rahmen, der von Historikerinnen und Historikern kritisch fortentwickelt worden ist, wofür neben den genannten etwa der von Martin Dinges 2005 herausgegebene Sammelband „Männer – Macht – Körper“ steht. 3

Auch der zu besprechende Sammelband arbeitet mit Connells Konzept „hegemonialer Männlichkeit“. Mit der Zeit von 1880 bis 1925 und dem deutschen Raum nimmt „Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900“ eine Periode in den Blick, die für die Formierung „hegemonialer Männlichkeit“ in der Moderne entscheidend gewesen sei, argumentieren die Herausgeber Ulrike Brunotte und Rainer Herrn (mit Bezug auf Connell und andere). Sie sprechen von „Erschütterungsdiskurse[n]“ um 1900, welche „die bürgerlich-hegemonialen Männlichkeitsstereotype umgeben, aus[ge]lösch[t] und neu definier[t]“ hätten (S. 17). Als Gründe für diese „Krise“ (S. 19) geben Brunotte und Herrn an: 1. die Frauenemanzipation; 2. „das Aufkommen neuer Wissensgebiete, die […] die Verwissenschaftlichung der Geschlechterdifferenzen“, insbesondere von Männlichkeit vorangetrieben hätten; und 3. „das Aufkommen […] sozialer Bewegungen“ (wie der Frauen-, Arbeiter-, Jugend- und Homosexuellenbewegung), „die das überkommene Patriarchat in Frage [ge]stell[t]“ hätten (S. 17). Das Ziel der Veröffentlichung ist es, diese „Erschütterungsdiskurse“ nachzuzeichnen: „In den Beiträgen dieses Bandes wird transdisziplinär den zum Teil konträren Diskursen, Reaktionsbildungen, Reformbewegungen und Utopien nachgegangen, in denen sich die Imagination einer vermeintlichen Krise hegemonialer weißer Männlichkeiten in Gesellschafts- und Wissensordnungen, in ästhetischen und politischen Diskursen, in der Konkurrenz von Körpermodellen und performativen Inszenierungen mediatisiert und dynamisiert. […] Dabei soll nach dem systematischen Ort von Genderkonstruktionen in der modernen Gesellschaft gefragt und die Geschlechterordnung modernetheoretisch erfasst werden.“ (S. 19).

Der Sammelband vereint 16 Aufsätze plus die Einführung der Herausgeber Brunotte und Herrn. Die Beiträge decken ein breites Spektrum an „Wissenskulturen um 1900“ ab. Die Wissenschaften stellen mit acht Beiträgen den umfangreichsten Block. Wissenschaftliche Männlichkeitskonstruktionen analysieren Cornelia Klinger (Philosophie), Sabine Mehlmann (Darwinismus, Psychiatrie), Christina von Braun (Psychologie, Ökonomie), Jay Geller (Psychoanalyse), Marilyn Reizbaum (Kriminologie, Sexualwissenschaft), Ulrike Brunotte (Religionswissenschaft), Hubertus Büschel (Ethnologie) und Tanja Paulitz (Ingenieurwissenschaft). Mit Männlichkeiten in Kunst und Literatur befassen sich vier Aufsätze: von Birgit Dahlke (Jugendbewegung), Bettina Mathes (Faust-Rezeption), Joseph Croitoru (Simson-Rezeption) und Inge Stephan (Kältekult). In drei Beiträgen geht es um Homosexualität, und zwar bei Claudia Bruns (Eulenburgskandal), Martin Lücke (Homosexuellenbewegung) und Rainer Herrn (Magnus Hirschfeld). Ute Frevert schreibt über das Militär „als Schule der Männlichkeiten“. Neben hegemonialen nehmen einzelne Beiträge also auch marginalisierte, d. h. jüdische oder homosexuelle Männlichkeiten in den Blick, was Connells Ansatz entspricht. Dass sich auf diesem Weg die Logik des Hegemonialen nachvollziehen lässt, demonstriert etwa Lücke überzeugend an den komplizenhaften Positionen des Homosexuellen-Aktivisten Friedrich Radszuweit. Positiv fallen außerdem die Beiträge von Dahlke und Bruns auf, die Ikonographien des Männlichen um 1900 auf einem methodisch reflektierten Niveau analysieren (Bruns politische Karikaturen und Dahlke den Jugendkult im proletarischen wie im bürgerlichen Milieu). Wohl nicht zuletzt derentwegen enthält die Publikation zahlreiche qualitativ hochwertige Abbildungen, teilweise sogar in Farbdruck. Wie überhaupt das sorgfältige Lektorat auffällt, das dem Leser allfällige, aber ärgerliche Unachtsamkeiten erspart.

Mit der Zusammenstellung seiner Beiträge hat „Männlichkeiten und Moderne“ eine wissenschaftshistorische Schlagseite, die man begrüßen oder bedauern mag. Von den Herausgebern Brunotte und Herrn ist sie nur zum Teil gewollt, denn nach eigenen Aussagen verfolgen sie ein „wissens(chafts)historische[s] Interesse“, das nach „der impliziten und expliziten Rolle von Geschlecht bei der Erschütterung und Neuformierung von wissenschaftlichem Wissen und nach dessen Wechselwirkung mit kulturellem Alltagswissen“ fragt (S. 20). Gemessen an den Referenzen muss Sigmund Freud als „graue Eminenz“ des Sammelbandes gelten – und mithin offensichtlich der Geschlechterdebatten um 1900: Fünf der 16 Beiträge enthalten nämlich mindestens eine Passage über Männlichkeiten in der Freudschen Theorie und Praxis (neben Geller auch Klinger, Mehlmann, von Braun und Mathes). Da die Autorinnen und Autoren jeweils unterschiedliche Aspekte herausarbeiten, leidet die Publikation zwar nicht an Redundanzen. Trotzdem wäre es für den Leser hilfreich gewesen, wenn die Herausgeber Brunotte und Herrn in der Einführung oder durch eine Gruppierung der Beiträge auf diese Querbezüge und die (alltagspraktische) Relevanz der Psychoanalyse aufmerksam gemacht hätten. Den eigentlich intendierten Bogen zum Alltagswissen schlagen tatsächlich nur wenige Beiträge: Frevert etwa, die mit dem Militär eine Masseninstitution der Zeit mit hoher gesellschaftlicher Anerkennung untersucht, oder Büschel, der Selbstzeugnisse von Ethnologen ausgewertet hat. Bruns und Stephan weisen immerhin darauf hin, wie bestimmte Männlichkeitsstereotype (der effeminierte Homosexuelle bzw. der Polarforscher als Eisheld) im Kaiserreich via Massenmedien Breitenwirksamkeit entfalten konnten. Die Frage, ob in dieser massenmedialen Diffusion von Männlichkeitsstereotypen das spezifisch Moderne am Geschlechterwissen um 1900 lag – eine These die auch Schmale in seiner „Geschichte der Männlichkeit“ vertritt –, bleibt in dem zu besprechenden Sammelband bedauerlicherweise unbeantwortet. 4 Um dem selbst auferlegten „modernetheoretisch[en]“ (S. 19) Anspruch gerecht zu werden, wäre eine Stellungnahme von den Herausgebern Brunotte und Herrn zu erwarten gewesen – zumal das Buch den Titel „Männlichkeiten und Moderne“ trägt.

Kann die These einer „Krise hegemonialer weißer Männlichkeiten“ (S. 19) um 1900, wie sie in „Männlichkeit und Moderne“ vertreten wird, insgesamt überzeugen? Ich denke, nein. Das gilt deshalb, weil die Herausgeber Brunotte und Herrn die Frage offen lassen, ob sie „Krise“ als historische (empirisch-deskriptive) oder heuristisch-analytische Kategorie verwenden, was meiner Einsicht beides der Fall zu sein scheint. Auf der heuristisch-analytischen Ebene fehlt in dem Sammelband dann die kritische Auseinandersetzung mit der „Männlichkeitskrise“ als heuristisch-analytischer Kategorie. Martschukat / Stieglitz führen in ihrer „Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten in der Neuzeit“ unter anderem die implizit essenzialistische Stoßrichtung gegen deren Einsatz an, wenn es sich nicht um einen historischen Quellenbegriff handelt. 5 Zum aktuellen Stand der Diskussion sei auf das jüngste Themenheft „Krise(n) der Männlichkeiten“ der Zeitschrift L’Homme verwiesen, das allerdings erst nach „Männlichkeiten und Moderne“ erschienen ist. 6 Auf der Faktenebene spräche außerdem einiges dafür, in den Männlichkeitsstereotypen um 1900 ein Phänomen der „longue durée“, nicht der „Krise“ zu sehen – eine Option, die in der Einführung von Brunotte und Herrn noch angedeutet wird, in den Beiträgen aber mit einer Ausnahme nicht mehr auftaucht. Nur Frevert betont, dass das soldatische Männlichkeitsleitbild bis in die Weimarer Zeit hinein im Wesentlichen stabil und unhinterfragt verblieben sei (S. 70, 73). Und wäre dann folgerichtig nicht der Erste Weltkrieg mit seinen abertausenden männlichen „Kriegskrüppeln“ in dem Band als Krisenmoment zu berücksichtigen gewesen? 7

Anmerkungen:
1 Wolfgang Schmale, Geschichte der Männlichkeiten in Europa (1450-2000), Wien 2003; Ernst Hanisch, Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien 2005.
2 Jürgen Martschukat / Olaf Stieglitz, „Es ist ein Junge!“. Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten in der Neuzeit, Tübingen 2005.
3 Martin Dinges, Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt am Main 2005.
4 Schmale, Geschichte, S. 152-153.
5 Martschukat / Stieglitz, Einführung, S. 81-90.
6 L’Homme 19,2 (2008).
7 Vgl. Sabine Kienitz, Körper – Beschädigungen. Kriegsinvalidität und Männlichkeitskonstruktionen in der Weimarer Republik, in: Karen Hagemann / Stephanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt am Main 2002, S. 188-207.