: Lusoria. Ein Römerschiff im Experiment. Rekonstruktion, Tests, Ergebnisse. Hamburg 2008 : Koehler/Mittler Verlag, ISBN 978-3-7822-0976-2 128 S. € 24,90

Aßkamp, Rudolf; Schäfer, Christoph (Hrsg.): Projekt Römerschiff. Nachbau und Erprobung für die Ausstellung "Imperium, Konflikt, Mythos 2000 Jahre Varusschlacht". Hamburg 2008 : Koehler/Mittler Verlag, ISBN 978-3-7822-0977-9 152 S. € 24,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Günther, Institut für Alte Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Die „Experimentelle Archäologie“, vor einigen Jahren noch ein von der Wissenschaft euphemistisch gebrauchtes Synonym für die eher mildtätig belächelten Aktionen der „Re-Enactment“-Gruppen, bildet mittlerweile ein herausragendes Forum für einen fruchtbaren Dialog der traditionell stark geisteswissenschaftlich ausgerichteten Altertumswissenschaften und der oft als „kulturlos“ bezeichneten naturwissenschaftlichen Fächer. Hier wie dort ist die immer noch einflussreiche „Zwei-Welten-Theorie“ des britischen Physikers und späteren Publizisten Charles Percy Snow aus dem Jahre 1959 jedoch längst der Erkenntnis gewichen, dass Fortschritte, gerade in der quellenarmen Periode des Altertums, heute kaum noch ohne Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden vonstatten gehen können, umgekehrt aber auch die Naturwissenschaften von diesen Ergebnissen profitieren und die daraus gewonnenen Erkenntnisse ein realitätsnahes Abstimmen ihrer Methoden ermöglichen.1 Insofern stellen der Nachbau der beiden Römerschiffe, die unter der Leitung von Christoph Schäfer in Regensburg 2003/04 und in Hamburg 2007/08 in monatelanger Arbeit entstanden, und die damit durchgeführten Experimente ein Paradebeispiel für den Ertragreichtum einer solchen Zusammenarbeit dar.

Im „Lusoria“-Band widmet sich Schäfer schwerpunktmäßig der Erprobung eines bereits seit 2004 fahrtüchtigen spätantiken Kriegsschiffes, der „Navis Lusoria“, die an der Universität Regensburg nach dem Vorbild der Mainzer Schiffsfunde rekonstruiert wurde. Während die konkreten Tätigkeiten und Probleme beim Schiffsnachbau bereits in einem eigenen Band, der zur Schiffstaufe am 1. August 2004 erschien, ausführlich behandelt wurden 2, geht Schäfer zunächst kompakt auf den archäologischen Befund ein (S. 9-19). Hierbei ist neben der konkreten Fundsituation der 1981 bei einem Hotelbau in Mainz entdeckten Schiffswracks und deren Datierung Ende des 4. Jahrhunderts bzw. Anfang des 5. Jahrhunderts n.Chr. mit Hilfe der Dendrochronologie sowie der Münzfunde insbesondere die historische Einordnung des „Lusoria“-Typs interessant. Die vornehmlich aufgrund der Darstellung auf Münzen durchgeführte Analyse um die Entwicklung der „Navis Lusoria“ als Standardtypus für die spätantike flottengestützte Grenzverteidigung und die Diskussion um die Interpretation des Untergangs der Mainzer Römerschiffe im Rahmen der germanischen Eroberung von Mainz 406/07 n.Chr. liefern das (leider) nur lückenhafte historische Fundament, dessen Verbreiterung und Vertiefung das zentrale Ziel der Rekonstruktion und Erprobung des Schiffstyps darstellte.

Hernach nimmt Schäfer zur Diskussion um die korrekte Rekonstruktion der „Navis Lusoria“ Stellung (S. 20-23), die durch die Publikation der Grabungsbefunde durch Ronald Bockius im Jahr 2006 neu entfacht wurde.3 Da der Regensburger Nachbau noch nicht auf diese neuen Erkenntnisse, insbesondere zum Längen- und Breitenverhältnis des Schiffes, zurückgreifen konnte 4, sind die erstmalig erhobenen Leistungsdaten nur unter Vorbehalt in der Diskussion um die korrekte Schiffsrekonstruktion zu nutzen, könnten jedoch – so Schäfer – „trotz oder gerade wegen der oben skizzierten Kontroverse“ (S. 23) einen wertvollen Beitrag hierzu leisten. Den kurzen und reich bebilderten Bemerkungen zum Schiffsbau (S. 24-38) und zu den ersten Erfahrungen auf dem Wasser (S. 39-46) folgt eine ausführliche Beschreibung der Testfahrten mit Studierenden der Universität Hamburg (S. 47-76). In Bild und Text werden sowohl die Fahrten unter Ruder als auch unter Segel eindrucksvoll geschildert sowie erste Erkenntnisse hinsichtlich der Reisegeschwindigkeit und der Manövrierfähigkeit der „Navis Lusoria“ formuliert. So habe sich in den Versuchen unter Ruder eine Höchstreisegeschwindigkeit von über 5 Knoten ebenso wie eine von einer ungeübten Besatzung, die auch in der Antike vor allem aus Landsoldaten bestanden haben dürfte, leicht und schnell zu erlernende gute Steuerfähigkeit des Schiffes gezeigt. Auch die durch ein mobiles, ursprünglich für den America’s Cup entwickeltes Meßsystem erhobenen Daten zur Beseglung hätten wichtige Erkenntnisse zur erstaunlich vielseitigen Segelfähigkeit und Wendigkeit der „Navis Lusoria“ auf den stark mäandrierenden Flüssen des „nassen Limes“ geliefert.5

Im Kapitel zu den Widerstandsversuchen in der Schiffbau-Versuchsanstalt Potsdam erläutert Schäfer anschließend die Tests an einem Modell der „Navis Lusoria“, die zur Ergänzung und Kontrolle der Versuchsfahrten durchgeführt wurden (S. 77-88). Hierbei stechen sowohl die Höchstgeschwindigkeit von maximal 8 Knoten als auch die diese Höchstgeschwindigkeit relativierenden Daten der zu erbringenden Ruderleistung hervor, die eine durchschnittliche Reisegeschwindigkeit von 4-5 Knoten als realistisch erscheinen lässt, da bei höheren Geschwindigkeiten die exponentiell steigende Leistungskurve die antike Schiffsmannschaft schnell an ihre Leistungsgrenze gebracht haben dürfte.

Mit den „Folgerungen der Testfahrten für das spätantike Verteidigungskonzept“ (S. 89-108) greift Schäfer dann die vorherigen Einzelergebnisse auf und ergänzt dadurch die anfangs gezeichneten historischen Entwicklungslinien zur spätantiken Grenzverteidigung. So führen ihn die Leistungsdaten der „Navis Lusoria“ in Verbindung mit dem literarischen Quellenmaterial zur Konstruktion eines zweiten spätantiken Verteidigungssystems zu Wasser, das jenes zu Lande ergänzte, jedoch eine gänzlich unterschiedliche Taktik zur Feindbekämpfung anwandte. Während es bei der Landverteidigung mit den zahlreichen befestigten Städten gegolten habe, möglichst ein Festsetzen der Invasoren im Reichsland zu verhindern, sei das flussgestützte Verteidigungssystem um eine möglichst effektive Vorabwehr der Feinde bemüht gewesen, was durch die leichte Manövrierfähigkeit der „Navis Lusoria“ entlang der zahlreichen Burgi in Flussnähe gut zu bewerkstelligen gewesen sei. Insofern zeichnet der Band, der durch ein sehr nützliches Glossar zu den Begriffen der Schiffersprache ergänzt wird (S. 123f.), insgesamt ein deutliches Bild vom Erkenntnisgewinn durch die realitätsnahe Erprobung des Schiffnachbaus.

Ähnliches gilt für den Band zum zweiten Römerschiffbau, der unter der Ägide von Schäfer im Rahmen der 2009 stattfindenden Großausstellung „Imperium – Konflikt – Mythos. 2000 Jahre Varusschlacht“ an der Universität Hamburg initiiert wurde. Hier sind es die Schiffsfunde aus Oberstimm in der Nähe von Ingolstadt, die zur Rekonstruktion eines kaiserzeitlichen römischen Kriegsschiffes des 1. Jahrhunderts n.Chr. führten und nähere Erkenntnisse zum Verteidigungskonzept in der frühen Kaiserzeit, also auch zur Zeit der Varusschlacht, liefern sollten. Zunächst stellt Rudolf Aßkamp die Konzeption der auf drei Orte (Haltern am See, Kalkriese und Detmold) verteilten Ausstellung „Imperium – Konflikt – Mythos. 2000 Jahre Varusschlacht“ und die damit verbundene Einordnung des Schiffsbauprojekts vor (S. 10-19). Hier ist es vor allem die Beschreibung der römischen Schiffshäuser in Haltern-Hofestatt, welche die Frage nach dem marinen Verteidigungskonzept in Germanien aufwirft und wohl Anstoßpunkt zur Rekonstruktion eines frühkaiserzeitlichen Schiffstyps im Rahmen des Jubiläums gab (S. 10–14), während die Vorstellung der drei Ausstellungsorte eher der Werbung denn der Erhellung der Fragestellung dient. Die genaue Analyse der Schiffsfunde aus dem bayerischen Oberstimm übernehmen daraufhin Sandra Altmann und Ronald Bockius (S. 20-39). Dabei zeichnen sie nicht nur die glücklichen Fundumstände der fast vollständig erhaltenen Rümpfe der beiden einreihigen Schiffe sowie die Datierung aufgrund dendrochronologischer Daten an das Ende des 1. Jahrhunderts n.Chr. nach, sondern untersuchen auch das antike Baukonzept des Schiffstyps, der sich in mediterraner Nut-Feder-Bauweise präsentiert und sich – im Vergleich mit anderen Schiffsfunden – als zweckmäßiger, planvoll konstruierter, aber dennoch rasch zu bewältigender Bau im militärischen Kontext erweist.

Nach Vorstellung der Analyse der gefundenen und für den Nachbau nachgestalteten Schiffsnägel durch Nicolas H. Bings und Christoph Schäfer (S. 40-43) widmen sich Gerrit Wagener und Carolin Gross der reich bebilderten Darstellung des Rekonstruktionsprozesses des Schiffswracks 1 aus Oberstimm (S. 44-71). Der Baubericht umfasst dabei sowohl die ersten Anfänge mit der Auswahl des Holzes und dem Schnitt des Kiels als auch den äußerst komplexen Außen- und Innenausbau des Schiffes, der von Studierenden der Universität Hamburg sowie der Werft Jugend in Arbeit e.V. in Hamburg-Harburg durchgeführt wurde. Ebenso wird die in diesem Zusammenhang gut begründete Rekonstruktion der verlorenen Teilstücke des Schiffswracks, vor allem des Vor- und Achterstevens, dargelegt. Zudem seien schon in dieser Phase zahlreiche Erkenntnisse, etwa zur auch antiken schiffsbautechnischen Effizienzsteigerung bei Handwerksarbeiten gewonnen worden, die ein realitätsnahes Bild der militärischen Schiffsproduktion aufzeigten. Die im Gegensatz zur „Navis Lusoria“ im Vorhinein durchgeführten Widerstandstests in der Schiffbau-Versuchsanstalt Potsdam werten Rainer Grobert und Christoph Schäfer aus (S. 72-92). Hierbei hätten sich besonders die erstaunlich geringen Widerstandswerte des schmalen Militärschiffes vom Typ Oberstimm ebenso wie die etwa mit der „Navis Lusoria“ vergleichbare Reisegeschwindigkeit von 4-5 Knoten und die Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit durch das Leistungsvermögen der Schiffsmannschaft deutlich gezeigt.

Zu einem direkten Vergleich mit der „Navis Lusoria“ avancierten dann auch die ersten Testfahrten unter Riemen und Segel, die Christoph Schäfer und Gerrit Wagener tagebuchartig erläutern (S. 93-113) und die durch einen Erfahrungsbericht des Crewmitglieds Astrid Otte ergänzt werden (S. 114-117). Die große Wendigkeit, flexible Steuerung und hohe Geschwindigkeit des Nachbaus stellen hierbei die Hauptergebnisse aus den Testversuchen dar und lassen den Oberstimm-Typus als eine ähnlich schlagkräftige, flexibel einsetzbare Schiffseinheit wie die „Navis Lusoria“ erscheinen. Eine Auswertung dieser Testfahrten in zweifacher Form schließt sich nahtlos an: Zunächst beschreibt Gerrit Wagener die „Einsatzfelder der Oberstimm-Schiffe“ (S. 118-128). Aus der Funktion des Kastells Oberstimm als logistische Versorgungsbasis leitet sie auch den Einsatzbereich der Oberstimm-Schiffe ab, den sie jedoch nicht pauschal im Transport- oder Versorgungswesen sieht, für das der Schiffstyp überhaupt nicht geeignet gewesen sei, sondern aufgrund der Testfahrten in differenzierter Sichtweise im Eskort-, Informations- und Grenzsicherungswesen plausibel verortet. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die Messgeräte-Auswertung durch Hans Moritz Günther und Alexander Christopher Wawrzyn (S. 129-147). Sowohl unter Riemen als auch Segel hätten sich so die Robustheit und hohe Lenk- sowie Geschwindigkeitsfähigkeit des Schiffes gezeigt, wobei die hohe Einsatzrate des Segels zu einer spürbaren Entlastung der Rudermannschaft geführt habe. Im direkten Vergleich mit der drei Jahrhunderte später eingesetzten „Navis Lusoria“ träten die vielen Gemeinsamkeiten hinsichtlich Höchstgeschwindigkeit, Manövrierfähigkeit und Segeleinsatz deutlich zutage, wohingegen die kleinen Unterschiede in weiteren Testreihen noch genauer untersucht werden müssten. Dass dieser noch intensivere Vergleich der beiden Militärschiffe hoffentlich nach dem Varusschlacht-Jubiläumsjahr 2009, in dem das Militärschiff aus Oberstimm eine zentrale Vermarktungsrolle spielen wird, angegangen werden kann, bleibt die große Hoffnung, nicht nur des Rezensenten.

Ingesamt betrachtet, erweisen die beiden Bände die Zukunftsfähigkeit der „Experimentellen Archäologie“, die auf natur- wie geisteswissenschaftlich solider Grundlage zu neuen Forschungserkenntnissen führt und zudem publikumswirksam die Relevanz von Geschichte und Kultur in der angeblich so „kulturarmen“ postmodernen Gesellschaft deutlich macht.

Anmerkungen:
1 Zu einer Abrechnung mit der Zwei-Welten-Theorie Snows aus soziologischer Sicht vgl. jüngst den Beitrag von Rudolf Stichweh, Die zwei Kulturen? Eine Korrektur, in: FAZ, 2. Dezember 2008, abzurufen unter: <http://www.faz.net/s/RubE3BF7B6B26F443E5990C9BA42301A0C9/Doc~E9D91EF18FA2F4783829BAB92312B1ACA~ATpl
~Ecommon~Scontent.html>, (21.12.2008).
2 Hans Ferkel / Heinrich Konen / Christoph Schäfer, Navis lusoria, St. Katharinen 2004.
3 Ronald Bockius, Die spätrömischen Schiffswracks aus Mainz, Mainz 2006.
4 Für den Nachbau dienten die älteren Arbeiten von Olaf Höckmann als Grundlage. Vgl. hierfür das Literaturverzeichnis (S. 127) am Ende des Bandes.
5 Vgl. dazu auch den Anhang (S. 111-122) mit den technischen Details der Windtests.

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