Cover
Titel
Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook


Herausgeber
Erll, Astrid; Nünning, Ansgar
Reihe
Media and Cultural Memory/Medien und kulturelle Erinnerung 8
Erschienen
Berlin 2008: de Gruyter
Anzahl Seiten
VIII, 441 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Thießen, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH)

„Handbooks celebrate the success stories of academic life“, eröffnen Wulf Kansteiner und Harald Weilnböck ihren Beitrag zu diesem Band (S. 229). Für das vorliegende Handbuch dürfte die Feierstimmung besonders groß gewesen sein: Forschungen zur kulturellen Erinnerung erfreuen sich bekanntlich größter Beliebtheit. In dieser Popularität und kaum übersehbaren Vielfalt des Feldes liegt allerdings auch die Herausforderung an ein Handbuch. Die Herausgeber möchten Schneisen schlagen in das Erinnerungs-Dickicht und Orientierung geben über Forschungsfelder und Konzepte. Mit diesem Anliegen stehen sie nicht allein, liegen doch bereits Handbücher zum Thema vor, nicht zuletzt die hervorragende Einführung von Astrid Erll selbst.1 Was also bringt der Band Neues?

Mit den Stichworten des Untertitels sind zwei Leitlinien aufgeworfen, an denen sich dieses Buch messen lassen will: Denn Interdisziplinarität setzt einen internationalen Austausch voraus und damit eine Überwindung von Sprachbarrieren, wie sie Astrid Erll und Ansgar Nünning in ihren Vorbemerkungen fordern. Beiden Prämissen kommen die Herausgeber mit ihrem Band konsequent nach: Sämtliche Beiträge sind in Englisch verfasst und mit durchschnittlich sieben bis zehn Seiten bemerkenswert kurz. Dank dieser Seitendisziplin ist die Vielfalt beachtlich. Nach dem ersten Kapitel mit Länder- und vergleichenden Studien wartet der Band in den folgenden Abschnitten mit geschichts-, literatur-, sozial-, politik- und medienwissenschaftlichen Beiträgen sowie mit Zugängen aus der Philosophie, der Sozial- und Kognitionspsychologie auf. Im Gegensatz zu Veröffentlichungen, die unter Interdisziplinarität allein den Austausch zwischen Geschichts-, Medien- oder Literaturwissenschaftlern subsumieren, erweitert dieser Band das Forschungsfeld also erheblich. „Cultural Memory“ versteht Erll folglich in einem positiven Sinne als „wide umbrella term“ (S. 1), da sich mit seiner Bandbreite eine große Schnittmenge für „interdisciplinary exchange“ eröffne (S. 3).

Von diesem Austausch – nicht zuletzt mit den Neurowissenschaften, die in diesem Band von Hans J. Markowitsch präsentiert werden – wird eine Entwicklung befördert, die als Tendenz des Bandes festzuhalten ist: Kulturelle Erinnerungen werden kaum noch als gespeicherte Eindrücke oder Bilder analysiert, sondern als Prozess und (Re-)Konstruktion. „We must remember“, fasst Jeffrey K. Olick zusammen, „that memory is a process and not a thing.“ Kollektive Erinnerungen würden stets neu verhandelt, sie seien also etwas „we do, not something […] we have“ (S. 159). Diese Beobachtung gilt ebenso für individuelle Erinnerungsprozesse, wie Siegfried J. Schmidt am Zusammenhang von Erinnerung und Identität nachweist. Eine Unterscheidung von individuellem und sozialem Gedächtnis sei daher kaum weiterführend, denn „memory and remembering become social not by the fact that they are located at a place beyond actors, but by the fact that they become co-oriented via reflexive processes of expectations and imputations which give rise to the impression that nearly everybody in society thinks about the past in that and no other way“ (S. 197).

Aber lässt sich in solchen Fällen noch von Erinnerungen sprechen? Haben wir es nicht vielmehr mit Konstruktionen, ja mit Erzählungen zu tun, die sich an kulturelle Muster anpassen, wie die Literaturwissenschaftlerin Birgit Neumann vermutet (S. 341), bzw. die sich an kollektiven „schemes“ orientieren, wie Jürgen Straub aus sozialpsychologischer Sicht feststellt (S. 221)? „People“, so fährt Straub fort, „transform a given thing into a phenomenon which can be and is worth being memorized, a meaningful and therefore communicable experience.“ (ebd.) Im kommunikativen Gedächtnis werden daher bevorzugt Erinnerungen abgerufen, die sich in kulturelle „cognitive schemata or categories“ einpassen lassen, wie auch Gerald Echterhoff nachweist (S. 271). In solchen Anpassungsleistungen zeigt sich Erinnern folglich als Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Gesellschaft, so dass Harald Welzer vom kommunikativen Gedächtnis als Relais spricht, „that subjectively safeguards coherence and continuity“ (S. 292). Zu ähnlichen Beobachtungen kommt auch die Generationenforschung, die Jürgen Reulecke in seinem Beitrag resümiert. So weise der zentrale Begriff „Generationalität“ eine Doppelbedeutung auf – generationelle Verortungen seien sowohl ein Prozess der individuellen Selbst- als auch der Fremdzuschreibung durch andere.

Diese geradezu konstruktivistische Perspektive fußt nicht allein auf Studien der Neurowissenschaften. Sie geht ebenfalls auf Forschungen zurück, die sich einzelnen Akteuren und konkreten Kontexten kultureller Erinnerungen annehmen. Hilfreich sind hierzu etwa die Überlegungen von Barbie Zelizer zu „Journalism’s Memory Work“, in denen sie unterschiedliche Darstellungsformen von Journalisten differenziert. Weiterführend ist auch der Beitrag der Herausgeberin zu den Medien des kulturellen Gedächtnisses. Erll unterscheidet intra- und intermediale Strategien der Vergangenheitsrepräsentation in Literatur und Film und weist nach, dass Erzähl- und Ästhetisierungsmuster ein Faktor für die Fixierung von kulturellen Erinnerungen sind. Während solche Phänomene auch in den Beiträgen von Renate Lachmann und Herbert Grabes als „intertextuality“ untersucht werden, geht Erll einen Schritt weiter: Denn mediale Deutungsangebote sind nur die eine Seite der Medaille, ihre Wirkungen eine andere. Am Beispiel von Vermarktungsstrategien, multimedialen Vermittlungs- und Inszenierungsformen der Filme „Der Untergang“ und „Das Leben der Anderen“ macht Erll Vorschläge, wie sich die Rezeption kollektiver Erinnerungen analysieren lässt. Weitere Anregungen gibt ein Beitrag aus politikwissenschaftlicher Perspektive. Obgleich „Geschichts-“ und „Vergangenheitspolitik“ in der Forschung seit langem hoch im Kurs stehen, bleibe ihre Erforschung bisher einseitig, wie Erik Meyer kritisiert. Öffentliche Erinnerungen würden meist nur auf der Deutungsebene untersucht, so dass Geschichts- und Vergangenheitspolitik erstaunlich wenig mit Politik zu tun hätten, sogar „politics without policy“ seien (S. 178). Eine Analyse kollektiver Erinnerungsprozesse müsse hingegen „financial and legal preconditions as well as the interest of political systems to resolve conflicts“ berücksichtigen (S. 179).

Während klassische Erinnerungs-Konzepte meist mit Dichotomien wie „Gedächtnis“ versus „Geschichte“ (Pierre Nora) oder „kommunikatives“ versus „kulturelles Gedächtnis“ operierten (Jan Assmann, vgl. auch dessen Beitrag auf S. 109-118), erweitern die hier versammelten Aufsätze den Untersuchungsgegenstand erheblich: Die Hervorhebung des Prozesscharakters von Erinnerungen, der Blick auf die (mediale) Vielfalt ihrer Vermittlungsformen und auf fließende Übergange zwischen verschiedenen Ebenen der Erinnerung sind nur drei der wichtigsten Leitlinien, mit denen das Buch seine Konturen erhält. Zukünftige Studien, so hebt Jay Winter hervor, sollten diesen Weg weiter gehen und „the intersection of the public and the private“ in den Blick nehmen (S. 65). Geradezu vorbildlich ist hierfür Martin Zierolds Aufsatz, in dem die Pluralisierung medialer Erinnerungen beschrieben wird. In modernen Gesellschaften bestehe mit Presse, Radio, Fernsehen und Internet nicht nur eine Vielzahl an Erinnerungsmedien. Zugleich müssten ihre unterschiedlichen Produktions- und Distributionsbedingungen sowie die Komplexität ihrer Wirkungsweisen berücksichtigt werden: „The same media offer can be employed completely differently in divergent systematic contexts.“ (S. 402)

Angesichts der bemerkenswerten Bandbreite fällt ein Resümee schwer, zumal nicht auf sämtliche Beiträge der insgesamt 40 (!) Autoren eingegangen werden kann. Mit seiner internationalen Bilanz weist dieser Band auf jeden Fall nach, dass das kulturelle Gedächtnis eines jener „Konvergenzfelder“ ist2, auf dem der interdisziplinäre Austausch ebenso anregend wie weiterführend sein kann. Die hier versammelten Studien zeigen gleichwohl auch, was noch zu tun ist: Der Weite des Sammelbegriffs „cultural memory“ entspricht die terminologische Vielfalt der Aufsätze, die zwar eindrucksvoll den Forschungsstand entfalten, jedoch wenig zu einer einheitlichen Begrifflichkeit oder gemeinsamen Theoriebildung beitragen. Insofern hätte man sich einen intensiveren Austausch zwischen einigen Autoren vorstellen können, zumal deren Beiträge zahlreiche Berührungspunkte aufweisen. Hierzu wäre zu überlegen, ob der Band nicht ein einleitendes Theorie-Kapitel vertragen hätte. Jean-Christophe Marcels und Laurent Mucchiellis Auseinandersetzung mit Maurice Halbwachs wäre für eine solche Einführung ebenso gut geeignet gewesen wie die Aufsätze von Dietrich Harth, Alon Confino und Pim den Boer. So allerdings entwerfen viele Beiträge stets aufs Neue die Genealogie von Maurice Halbwachs zu Pierre Nora und den Assmanns, auf der dann die eigenen Ansätze aufbauen. Diese Kritik mag etwas ungerecht sein, da der Band ja gerade jenen Überblick bieten will, an den die zukünftige methodische Zusammenarbeit anknüpfen kann. Für solche Erkundungen und Präzisierungen des kulturellen Gedächtnisses legt dieses Handbuch zumindest eine gute Grundlage.

Anmerkungen:
1 Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskultur. Eine Einführung, Stuttgart 2005.
2 Harald Welzer / Hans J. Markowitsch, Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung, Stuttgart 2005, S. 23-38.