P. M Judson: Guardians of the Nation

Cover
Titel
Guardians of the Nation. Activists on the language frontiers of imperial Austria


Autor(en)
Judson, Pieter M.
Erschienen
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Haslinger, Herder-Institut, Marburg; Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Obwohl die Analyse und Reflexion der nationalen Frage in der Habsburgermonarchie immer wieder im Zentrum des historiografischen Interesses stand, hat sich gerade in den letzten Jahren unser Bild von Nationalisierungsprozessen wesentlich verändert. 1 In diesen Kontext ordnet sich das Werk von Pieter Judson nahtlos ein. Als Ausgangspunkt dient Judson die Feststellung, dass selbst in den westlichen Teilen der Habsburgermonarchie die „Sprachgrenzen“ nicht als objektiv feststellbare Tatsachen zu fassen sind – trotz statistischer Daten und kartografischer Visualisierungen. Die Versuchsanordnung, auf der die Analyse von Judson vor diesem Hintergrund aufbaut, ist nicht nur für Zentral- und Osteuropa um 1900 repräsentativ: In den untersuchten Regionen fielen Außen- wie administrativen Binnengrenzen in der Regel nicht mit imaginierten sprachlichen Trennlinien zusammen, die damit aus zeitgenössischer Sicht disponibel und gestaltbar blieben, vor allem da andere kulturelle Marker als Differenzierungskriterium nur in geringem Maße zur Verfügung standen. Die Beispiele, die Judson zur Instrumentalisierung seiner Thesen heranzieht, sind Südböhmen, das heutige österreichisch-slowenische Grenzgebiet im Bereich der Steiermark und zu manchen Themen auch Südtirol. Unter den Vereinen fokussiert Judson vor allem auf den Deutschen Schulverein, den Verein Südmark, den slowenischnationalen Cyril- und Method-Verein und die regionalen Nationalvereinigungen deutsch- und tschechischnationaler Provenienz in den böhmischen Ländern.

In diesen Regionen bot die Sprachpräferenz der Lokalbevölkerung im Gelände nur grobe Anhaltspunkte zu einer Definition ansonsten diffuser „nationaler“ Gemeinschaften. Die Prämisse, dass die Konnationalen entlang der Sprachgrenze stärker in eine umfassende nationale Konfrontationssituation eingebunden seien als Personen im Binnenland und daher in ihrer Gesinnung „aufrechter“, fand zwar in literarisch-publizistischen Werken ihren Ausdruck, wie dem so genannten Grenzlandroman, den Judson an einigen Beispielen auf seine argumentative Struktur und Semantik hin untersucht. Anhand zahlreicher Beispiele verdeutlicht Judson in sehr plastischer Weise, wie sich die nationalen Aktivisten mit vielfältigen Formen „nichtnationalen“ Verhaltens konfrontiert sahen: mit Gleichgültigkeit gegenüber nationalen Botschaften und Konzepten, mit verschiedensten Varianten von Mehrsprachigkeit oder mit „abweichendem“ sozialen Kontaktverhalten bis hin zu „Mischehen“. Vor allem war in der Bevölkerung eine Einstellung nicht abrufbar, die die Aktivisten der Vereine vorzufinden hofften, nämlich das Gemeinschaftsgefühl einer im Kampf um die gesamtnationale Existenz an exponierter Stelle verankerten „Grenzbevölkerung“. Sie waren vielmehr mit einer Bevölkerung konfrontiert, die wenig Sinn für nationale Erziehung und den Wert einer modernisierenden Botschaft entwickelt hatte (S. 81). Die Verwunderung, Ratlosigkeit und Frustration darüber ist in den Zitaten, die Pieter Judson präsentiert, mit Händen zu greifen.

Zunächst bildete das Schulwesen den zentralen Aktivitätsbereich der Vereine. Judson zeigt an mehreren Beispielen, dass die Einrichtung selbstfinanzierter Schulen darüber hinaus von den Vereinen jedoch auch als „Territorialanspruch in der lokalen Landschaft“ empfunden wurde (S. 25), von den nationalen Konkurrenten wiederum als eine Verletzung eigener Ansprüche. Dies zog Gegengründungen nach sich, was wiederum die Bildungslandschaft in kompetitiver Form verdichtete. In einzelnen Fällen dienten Schulgebäude auch als Zielscheibe vandalistischer Akte. Solche lokalen Ereignisse präsentierte die Presse als Konflikte von gesamtnationaler Relevanz; diese Artikel dienten damit, so Judson in seiner Bewertung, der „heroischen Beschreibung des Lebens an der Sprachgrenze“ (S. 54). Wie Judson betont, war es gerade das geschickte Zusammenspiel zwischen Aktivisten, die lokale Zusammenstöße durchaus provozierten, und der noch weitgehend für ein städtisches Publikum erscheinenden Presse, das die "Sprachgrenze" für ein breites Publikum als Ort existentieller Konfrontationen stilisierte. 2

In der Folge passten die Vereinsnetze ihr Tätigkeitsprofil den vorgefundenen Bedingungen an und versuchten mit unterschiedlichen Strategien und über materielle Anreize, die Grundlagen für eine Akzeptanz der eigenen nationalen Botschaft im lokalen Rahmen zu verbessern; die ständige Beobachtung der Aktivitäten der konkurrierenden Seite war Teil dieses Szenarios. In einigen wenigen Beispielfällen führte dies die Vereine von der „defensiven Selbstbewahrung zur aggressiven Kolonisierung“ (S. 103). Judson belegt dies vor allem am Beispiel eines Siedlungsprojekts in der Gemeinde St. Egydi, die zwischen der heutigen slowenisch-österreichischen Grenze und Maribor/Marburg gelegen ist, aus deutschnationaler Sicht eine strategische Lage aufwies und in der der Verein „Südmark“ ein vergleichsweise ambitioniertes Ansiedlungsprogramm für Deutschsprachige durchführte. Unterstützt wurde dies durch die Popularisierung von St. Egydi als Demonstrationsobjekt für die Virulenz nationaler Bedrohung – Judson bezeichnet dies in etwas zu ironisierender Weise als den „ersten nationalistischen Themenpark“ (S. 127). Die Kreativität der Nutznießer dieser Ansiedlungsaktion (wie die Weiterverpachtung des erworbenen Grundes durch deutsche Ansiedler an slowenische Bauern) konnte vom Verein ebenso wenig verhindert werden wie die sprachliche Assimilation vieler Ansiedler in die slowenischsprachige Bevölkerung im Dorf (S. 137).

Die Bemühungen der Aktivisten hatten vor allem dann Erfolg, wenn eine nationalisierende Rhetorik mit ökonomischen Entwicklungsperspektiven verknüpft wurde. Als eines der wenigen Beispiele für eine relativ „erfolgreiche“ Nationalisierung des ländlichen Raumes präsentiert Judson die Region um den südböhmischen Wallfahrtsort Höritz, in dem der Böhmerwaldbund die Errichtung eines Passionsspieltheaters nach dem Muster von Oberammergau unterstützte (S. 159-164). In diesem Zusammenhang verweist Judson allgemein auf Strategien zur touristischen Erschließung von „gefährdeten“ Sprachgrenzgebieten, die darauf abzielten, den privaten Konsum und die Freizeitaktivitäten zu lenken. Eigene Reiseführer visualisieren auch eine nationale Landschaft und grenzten sie entsprechend von fremdnationalen Gebieten ab (S. 145).

Während des Krieges konstatiert Judson schließlich einige widersprüchliche Entwicklungen – ein höheres Maß an Politisierung, das sich jedoch weit weniger in Gewaltakten niedergeschlagen habe und zu Kriegsausbruch durchaus von einem gemeinsamen Patriotismus und geteilter dynastischer Loyalität kanalisiert wurde (S. 220). Eine neue nationale Polarisierung ergab sich jedoch bereits durch die militärischen Niederlagen an der Ostfront im Bereich Galiziens. Zudem eröffnete die Kriegswirtschaft, so Judson, den nationalen Aktivisten viele neue Tätigkeitsfelder (was jedoch zum teils dramatischen Rückgang der Mitgliederzahlen in einem gewissen Widerspruch steht).

Die große Stärke der Arbeit von Pieter Judson ist die hohe Sensibilität für die Tragfähigkeit analytischer Begriffe und das virtuose „Gegenlesen“ nationaler Konzepte aus der lokalen Perspektive. Insofern verwundert es zuweilen, dass die Ergebnisse und Thesen ohne die Konsultation lokaler Quellen oder einer maßgebenden Zahl von Publikationen der konkurrierenden slowenischen, tschechischen oder italienischen Vereine entwickelt wurden. Die wesentliche, in vielen Fällen ausschließliche Grundlage bildet die Vereinspublizistik der deutschen Verbände. Diese Beschränkung bewirkt zum einen, dass es sich hier nicht um Regional- oder Lokalstudien im klassischen Sinne handelt, sondern dass die lokale Gesellschaft auf der Grundlage ihrer Wahrnehmung durch die analysierten Aktivisten wiedergegeben wird und die institutionellen Rahmenbedingungen und die in der Tat zurückhaltend agierenden staatlichen Repräsentanten zu wenig in das Gesamtbild integriert sind. Auch wird die klare Stadt-Land-Dichotomie, die sich in der Vereinspresse wiederfindet, fast zwangsläufig reproduziert, zumal keine Brennpunkte nationaler Auseinandersetzungen aus großstädtischen oder teilindustrialisierten Regionen in die Untersuchung miteinbezogen wurden. Schließlich verbleibt auch die Gruppe der „Aktivisten“ in Hinblick auf ihre Binnendifferenzierung, Organisationsstruktur und die Einbettung in die gesamtnationale Bewegung etwas im Schematischen. Die untersuchten Netzwerke sind in Hinsicht auf ihre Binnendifferenzierung nur ein Teil einer sprachbasierten bzw. sprachreferenzierten Bewegung, die, wie auch Judson zeigt, mit dem städtischen Raum eng verzahnt ist, und ihre Erfahrungen werden vor allem über Printmedien rückvermittelt. 3

Wenn man sich dieser Beschränkung der Studie, die Pieter Judson in seiner Einleitung vielleicht deutlicher hätte machen können, jedoch bewusst ist, bietet die Arbeit Anknüpfungspunkte, die klar über den behandelten historischen wie regionalen Kontext hinausweisen. Sie vermittelt nicht nur ein sehr überzeugendes Bild der Genese nationaler Konfrontation im lokalen Rahmen und erschließt die daran geknüpften Denk- und Handlungslogiken. Sie vollzieht auch in einer weiteren Hinsicht einen Perspektiven- und Paradigmenwechsel: Die „kleinen nationalistischen Kriege“ (S. 1) finden hier nicht mehr zwischen konsolidierten nationalen Gesellschaften statt, sondern zwischen Vertretern unterschiedlicher Erfahrungs- und Sozialisationshorizonte. Judson entwickelt ein sehr plastisches Modell der Implantierung ethnischer Konflikte in einem Umfeld, in dem die nationalen Aktivisten gegenüber ihrer eigentlichen Zielgruppe, der lokalen bäuerlichen Bevölkerung an der Sprachgrenze, normativ auftraten.

Anmerkungen:
1 Unter einer ganzen Reihe von Studien sollen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – folgende Arbeiten exemplarisch genannt werden: Jeremy King, Budweisers into Czechs and Germans. A local history of Bohemian politics, 1848-1948, Princeton 2002; Keely Stauter-Halsted, The nation in the village. The genesis of peasant national identity in Austrian Poland, 1848-1914, Ithaca 2001; Thomas Götz, Bürgertum und Liberalismus in Tirol 1840-1873. Zwischen Stadt und „Region“, Staat und Nation (= Italien in der Moderne, Bd. 10), Köln 2001; Lawrence Cole, „Für Gott, Kaiser und Vaterland”. Nationale Identität der deutschsprachigen Bevölkerung Tirols, 1860-1914, Frankfurt am Main 2000; Kai Struve, Bauern und Nation in Galizien. Über Zugehörigkeit und soziale Emanzipation im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005; Tara Zahra, Kidnapped Souls. National indifference and the battle for children in the Bohemian Lands, 1900-1948, Ithaca 2008.
2 Siehe hierzu den im selben Jahr wie die Arbeit von Judson erschienenen Doppelband: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, 2. Teilband: Die Presse als Faktor der politischen Mobilisierung (= Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 8/ 2), Wien 2006.
3 Vgl. hierzu Cathrine Albrecht, The rhetoric of economic nationalism in the Bohemian boycott campaigns of the late Habsburg monarchy, in: Austrian History Yearbook 32 (2001), pp. 47-67.

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