J. Führer: Ludwig VI. von Frankreich und die Kanonikerreform

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Titel
König Ludwig VI. von Frankreich und die Kanonikerreform.


Autor(en)
Führer, Julian
Reihe
Europäische Hochschulschriften Rh. 3, 1049
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 59,70
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Schoebel, Landesarchiv Greifswald

Der Titel dieser Berliner Dissertation von 2003 ist auf den ersten Blick leicht irreführend. Zwar behandelt der Autor ausführlich das Verhältnis Ludwigs VI. von Frankreich zur Kanonikerreform im beginnenden 12. Jahrhundert in der französischen Krondomäne, doch geht es ihm zudem um eine Neuverortung dieses Herrschers in der Verfassungs- und Kirchengeschichte. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern Robert II. und Philipp I. oder seinem Nachfahren Ludwig VII. zählt Ludwig VI. nicht gerade zu den französischen Königen, die in der Geschichtsforschung ein breites Interesse hervorgerufen haben. Ein nicht unwesentlicher Grund dafür war der unzureichende Bearbeitungsstand der einschlägigen Quellen. So erschien erst vor wenigen Jahren eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Ausgabe seiner Urkunden, die in weiten Teilen die maßgebliche Grundlage der vorliegenden Untersuchung bildet. Das nun geschlossen ediert vorliegende Urkundenkorpus und eine Untersuchung der einzelnen Stücke hinsichtlich der Beteiligung des Herrschers an Diktat oder Unterfertigung ermöglichen einen neuen Blick auf die Herrschaft Ludwigs VI.

Im Grunde besteht die Untersuchung aus drei größeren Teilen, deren erster Ludwig VI. als Herrscher und seinem Handlungsspielraum gewidmet ist (S. 42-112). Hier wird der geographische Rahmen der Untersuchung abgesteckt, der sich mit dem Herrschaftsbereich deckt, in dem Ludwig VI. eigene Rechte geltend machen und durchsetzen konnte. Nach einer ausführlichen Behandlung der neueren Urkundenedition von Jean Dufour und umfangreichen Studien zum Protokoll, zur Titulatur, zum Diktat und zum Eschatokoll der Urkunden Ludwigs VI. vermag Führer nach der Behandlung der engeren Krondomäne an den Fällen Clermont, Brügge, Maguelonne, Saint-Guilhem-le-Désert, Nantes, Bordeaux und Dijon schlüssig nachzuweisen, dass aufgrund des urkundlichen Befundes, "anders als es eine kartographische Darstellung auf der Basis der Edition nahelegt" (S. 97), eine Intervention des Königs außerhalb der Krondomäne sich nur in Bordeaux nachweisen lässt, und dort keineswegs den Anschluss Aquitaniens bedeute sondern vielmehr in einem Zusammenhang mit dem Erwerb des Herzogtitels durch die Heirat mit Eleonore zu sehen ist. In allen anderen Fällen ist eine Intervention nicht nachzuweisen oder wie in Brügge sehr fraglich. Nicht nur der Raum, sondern auch das persönliche Umfeld bestimmte die Handlungsspielräume des Herrschers. So sind in den wichtigen Hofämtern und Funktionen im Umkreis des Herrschers nur einige wenige Familien nachweisbar, unter denen die der Familie Garlande mit dem Kanzler Stephan und die Familie de la Tour de Senlis herausragen.

Im zweiten Hauptteil (S. 113-197) werden die Kanonikergemeinschaften in der Krondomäne auf ihre Beziehungen zu Ludwig VI. vorgestellt und auf der Basis urkundlicher Interventionen des Herrschers der Versuch unternommen, ein mehr oder weniger intensives Interesse oder Desinteresse Ludwigs VI. an der jeweiligen Institution herauszuarbeiten. Neben den Kanonikerverbänden von Arrouaise und Prémontré, die freilich ihre Kongregationen erst unter Ludwigs Nachfolger ausbauten, und vor allem den regulierten Stiften bei den Bischofsstädten wie St. Quentin bei Beauvais, St. Martin vor Laon, St. Vincent bei Senlis, St. Jean bei Sens, St. Jean-en-Vallée bei Chartes, St. Côme und Damien in Tours nimmt das Stift St. Victor bei Paris den größten Umfang der Untersuchung ein. Hierfür sind weniger die außergewöhnlich gute Quellenlage, sondern vielmehr die wechselvollen Ereignisse im Zusammenhang mit der Frühgeschichte dieses Stiftes ausschlaggebend. Die inzwischen sehr gut erforschten Vorgänge um die Gründung Wilhelms von Champeaux und die Förderung durch die Pariser Bischöfe, die Auseinandersetzung mit dem königlichen Kanzler Stephan von Garlande und die Ermordung des Priors Thomas bieten eine geradezu ideale Folie, vor der sich die Haltung Ludwigs VI. gegenüber den Regularkanonikern, zumal in seinem engsten Umfeld, gut beleuchten lässt. Zugleich öffnen diese Vorgänger schlagartig einen sehr detaillierten Blick auf die Herrschaftsverhältnisse am königlichen Hof. In kaum einem anderen Fall zeigt sich das schwankende und wohl eher zurückhaltende Verhältnis des Königs zur Kanonikerreform besser, selten wird deutlicher, wie sehr sein Verhalten von ihm nahestehenden Personen wie beispielswiese dem Pariser Bischof oder dem Kanzler bestimmt ist. Im Vergleich mit den anderen Stiften zeigt Führer, welch entscheidende Rolle bei der Kanonikerreform das persönliche Umfeld spielt. Vor allem den Bischöfen wie Ivo von Chartres oder Bischof Bartholomäus von Laon, die selbst die Kanonikerreform in ihren Diözesen betrieben, haben Interventionen Ludwigs VI. zugunsten der von ihnen reformierten Stifte erwirken können. Fehlte eine solche bischöfliche Protektion, lassen sich zumeist auch keine oder nur sehr geringe königliche Begünstigungen nachweisen. Doch nicht nur die personellen Verflechtungen sondern auch die ureigensten Interessen des Herrschers waren durch die Kanonikerreform berührt, wie der Autor vor allem am Bruch mit den reformfreundlichen Kreisen um den Bischof von Paris und den ihm nahe stehenden Viktorinern im Jahr 1128 nachweist. Gleiches lässt sich bei den Kollegiatstiften in Beauvais und in Dreux beobachten, da dort königliche Interventionen offenbar allein auf die Wahrnehmung königlicher Rechte zurückgehen.

Als Gegenpol zu den Kanonikern rücken im dritten Teil (S. 199-268) die klösterlichen Gemeinschaften in den Blick. Auffallend ist, dass die traditionell in der besonderen Gunst des französischen Königtums stehenden Benediktinerklöster sich hinsichtlich königlicher Gunstbeweise in keiner Wiese von anderen geistlichen Gemeinschaften unterschieden. Auch sie waren ebenso wie andere vom aktuellen Wohlwollen des Herrschers und seiner Umgebung sowie vom direkten Zugang zu Ludwig IV. abhängig. Besonders deutlich wird dies bei St. Germain-des-Prés, das über diesen Zugang nicht verfügte und sich durch Fälschungen auf ältere Könige Rechte zuschrieb, die es bei Ludwig VI. nicht erwirken konnte. Wie stark bestimmte persönliche Konstellationen das Wohlwollen Ludwigs VI. beeinflussen konnten, zeigt auch Suger von St. Denis. Zog seine Erhebung zum Abt gegen den Willen Ludwigs VI. noch keine unmittelbaren Folgen nach sich, so hat sich das Verhältnis nach der mit der Unterstützung des Königs erfolgten Inkorporation des Klosters Argenteuil deutlich abgekühlt. In dieser Zeit sind dann auch keine Urkunden Ludwigs für St. Denis mehr nachzuweisen, und auch Suger scheint nun auf Fälschungen auf Karl den Großen zurückzugreifen. Während das Verhältnis zu den Cluniazensern nicht zuletzt vom Aufstieg und Fall der Familie Garlande beeinflusst ist, treten die Zisterzienser erst gegen Ende seiner Herrschaft in das Blickfeld und das Wohlwollen des Königs.

Das vor allem auf die Lebensbeschreibung Ludwigs VI. durch Abt Suger von St. Denis zurückgehende Bild der älteren Forschung, die in Ludwig den im Vergleich zu seinem Vater Philipp I. energischen Kirchenpolitiker und Reformer sieht, ist nach dieser Studie ebenso überzeichnet und unrichtig wie die Forschungsmeinung, die Ludwig als einen Zauderer in kirchenpolitischen Fragen begreift. Das Bild ist wesentlich differenzierter zu betrachten, und hierbei wird das Verhalten des Herrschers nicht zuletzt auch von der Tatsache bestimmt, wem seine Gunstbeweise gelten. Die Begünstigung von Kanonikergemeinschaften lag dabei stärker im bischöflichen und königlichen Interesse als die von streng hierarchisch gegliederten Klosterverbänden.

Fassen wir das Ergebnis der Dissertation zusammen. Sie bietet einen guten und umfassenden Überblick der geistlichen Institutionen im Herrschaftsgebiet König Ludwigs VI. von Frankreich. Dabei ist der Autor durchaus auf der Höhe der aktuellen Forschung. Verdienstvoll ist die Gesamtschau, denn bei der Behandlung der einzelnen Institutionen kommt er nur selten über bereits Bekanntes hinaus, was sich besonders bei St. Victor vor Paris zeigt. Indem er jedoch den Blick stärker als bisher geschehen auf Ludwig VI. und die ihn handlungsleitenden Umstände und Personen richtet, vermag er durchaus das bisher in der Forschung vorherrschende, ein wenig indifferente Bild dieses Königs zu schärfen. Doch ist die Erkenntnis wirklich neu, Ludwig VI. habe im Vergleich zu seinem Sohn weitaus weniger in die kirchlichen Belange eingegriffen und die Bischöfe weitgehend gewähren lassen, habe sich stärker um einen Interessensausgleich in der Île-de-France bemüht, indem er einer zu starken Dominanz der großen Familien entgegenzuwirken suchte? Auch die Veränderungen in und nach der großen Krise von 1127-1133 mit dem Sturz des Kanzlers Stephan von Garlande sind seit langem gut erforscht. Dennoch ist es falsch, das Verdienst der Arbeit über Gebühr zu schmälern. Sie ist nicht mehr aber auch nicht weniger als eine auf breiter Quellen- und Literaturgrundlage sorgfältig erarbeitete Studie zu einem zentralen Aspekt der Kirchenpolitik Ludwigs VI. und damit ein Beitrag zu einer politischen Biografie dieses bisher nur wenig von der Forschung beachteten Herrschers.

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