A. Leo: "Das ist so'n zweischneidiges Schwert hier unser KZ ..."

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Titel
"Das ist so'n zweischneidiges Schwert hier unser KZ ...". Der Fürstenberger Alltag und das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück


Autor(en)
Leo, Annette
Erschienen
Berlin 2008: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
185 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Kwaschik, Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales/ Centre interdisciplinaire d'études et de recherches sur l'Allemagne, Paris

Der Luftkurort Fürstenberg und das Dorf Ravensbrück waren bis zum Jahr 1952 durch die Landesgrenze zwischen Mecklenburg-Strelitz und Brandenburg-Preußen administrativ voneinander getrennt. Die Grenze, die durch die Stadt und den Schwedtsee verlief, bot Anlass zu zahlreichen administrativen Streitigkeiten. Für die Zeit nach 1945 aber bekommt sie eine erinnerungsgeschichtliche Bedeutung. Denn sie trennt den Alltag der Fürstenberger vom früheren Frauenkonzentrationslager Ravensbrück.

Die fünfunddreißig Interviews, die Annette Leo in den Jahren 1999/2000 mit FürstenbergerInnen geführt hat, sind Streifzüge in dieses Grenzland.1 Hinter den kommentierten Zusammenschnitten der Interviews, aus denen das Buch in seinem Hauptteil besteht, steht Leos langjährige Erfahrung mit Oral-History-Interviews sowie ihre enge Einbindung in die Umorientierung der Gedenkstättenarbeit nach 1990. Aus den Interviews entwickelt Leo eine außerordentlich dichte Erzählung der Erinnerungsgeschichte Ravensbrücks. Die Sensibilität, mit der die Autorin vorgeht, sowie die Subtilität ihrer Darstellung verleihen dem Text einen eigenen Ton, der in den aktuellen Diskussionen um Erinnerungs- und Gedächtniskulturen durch seine zurückhaltende Nachdenklichkeit besticht.

Leo zeichnet in mehreren thematisch oder personell untergliederten Kapiteln das lebendige Porträt einer brandenburgischen Kleinstadt in den Wirren der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, das in vielen Abschnitten – trotz aller offensichtlichen Unterschiede – an Marcel Ophüls’ Dokumentarfilm-Chronik einer französischen Provinzstadt aus den Jahren 1940 bis 1944 erinnert. Sie zeigt, wie die Nachbarschaft zu einem KZ zum Alltag wird und wie vielfältig die Abgrenzungsprozesse und Distanznahmen retrospektiv sind. DDR-Mythen werden hinterfragt, wie in der widersprüchlichen und letztlich nicht zu rekonstruierenden Rettungsgeschichte Rosa Thälmanns, deren Komplexität beispielhaft ist. Erzählt werden auch die Ausnahmen, wie die Geschichte des siebzehnjährigen Lehrlings, der Häftlinge mit Lebensmitteln versorgte. Und der Leser erfährt viel über die Aufseherinnen aus Fürstenberg und Umgebung, die in den letzten Jahren verstärkt in Ausstellungen und Sammelbänden behandelt worden sind, und mehr noch über die mentalen Rehabilitierungsprozesse, welche die Interviewten anstrengen.2

Nachdrücklich bestehen die Interviewten auf ihrem Opferstatus und versuchen, ihren Erinnerungen in der Konstruktion eines historisch unbelasteten Alltags ein eigenes Terrain zu verschaffen. Das unverbundene Nebeneinander sich widersprechender Erinnerungen verweist auf Schutzfunktionen und Abspaltungsprozesse und die Bedeutung, die der Psychoanalyse für erfahrungsgeschichtliche Arbeiten zukommt. Projektionen, Übertragungen und Gegenübertragungen sind hier Teil der Quelle und der Forschung.3 In ihrem Schlusswort „Der Schnitt durch den Boden“ resümiert Leo ihre Schwierigkeiten, Fürstenberger für ein Gespräch zu gewinnen. Gern hätte man an dieser Stelle mehr gelesen über die Gesprächserfahrungen Leos, gehören doch auch diese zum „Bodenprofil“ der freigelegten Erinnerungsschichten. Denn das Thema des Buches ist nicht der Wissensstand der Fürstenberger Bürger von den Geschehnissen im KZ, sondern die lebensgeschichtliche Thematisierung von zwei gesellschaftlichen Brüchen 1945 und 1990 in der Wahrnehmung von Ravensbrück.

Die Spannungen zwischen Fürstenberger Alltag und der Erinnerung an Ravensbrück waren im Jahr 1991 in der Auseinandersetzung um den Bau eines Supermarktes an der Straße der Nationen, ungefähr einen Kilometer vor dem Eingang der Gedenkstätte, sichtbar geworden. Die Proteste, die vorwiegend von Verfolgtenverbänden aus dem In- und Ausland kamen, sowie die Reaktionen der internationalen Presse hatten eine breite Öffentlichkeit geschaffen. Die Mahnwache von Häftlingsfrauen und die Demonstration von rund 600 Fürstenberger Bürgern, die sieben Stunden lang den Verkehr auf der B 96 blockierten und auf Transparenten den Erhalt von Arbeitsplätzen forderten, waren eine Auseinandersetzung um die Grenze zwischen Fürstenberg und Ravensbrück.4

In vielerlei Hinsicht schien die Auseinandersetzung die gängigen Überlegungen zur DDR-Vergangenheitsbewältigung zu bestätigen: Gemessen am bundesdeutschen Modell, innerhalb dessen der negative Bezug auf das Dritte Reich bei gleichzeitiger Anerkennung der historischen Erbschaft identitätsstiftend war und ist, wurde postuliert, dass die DDR-Bürger infolge des Antifaschismus-Konzepts die Nazi-Diktatur nicht als Teil der eigenen Geschichte empfänden. Übersehen wurde in der Debatte um den Supermarkt, dass für die Fürstenberger an die Stelle des historischen Lagers die Gedenkstätte getreten war. Die Mahn- und Gedenkstätte des Frauenkonzentrationslagers ist nicht nur ein Symbol für die Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten, sondern ebenso, wenn nicht noch mehr, ein Symbol für die DDR und ihre Staatsideologie sowie für die „Russen“. Das Gelände um den ehemaligen Lagerbereich des Frauen-KZ Ravensbrück war seit 1945 von der sowjetischen Armee benutzt worden. Der Bau eines Supermarktes auf dem Gelände, das zuvor den Russen für Schießübungen gedient hatte, war zunächst wohl vor allem ein Triumph über die als Besatzer empfundenen Angehörigen der Roten Armee, die den Alltag der Fürstenberger nachhaltig prägten.

Diese Erinnerungsschicht markiert einen gewichtigen Unterschied zu anderen „KZ-Nachbarn“. So ist zwar richtig, dass viele DDR-Bürger erst nach 1989 mit dem in der Bundesrepublik jahrelang eingeübten Diskurs über individuelle Schuld und persönliche Verantwortung konfrontiert worden sind, die Reichweite eines solchen Erklärungsmodells aber ist begrenzt. In ihrer Zusammenstellung von Interview-Ausschnitten und in den fragenden und problematisierenden Kommentaren besteht Leo auf der Komplexität und Verflechtung der Erinnerungsnarrative. Sie zeigt, wie sich Erinnerungen über- und aneinanderlagern, wie Erinnerungsschichten sich formen und wie die Aufeinanderfolge von drei politischen Systemen und insbesondere die Konfrontation des DDR-Bürgers nach der Wende mit der Vergangenheitsbewältigung in der DDR und deren Verständnis im vereinten Deutschland auf die Erinnerungen zurückwirken.5

Gegen das Bild vom Schnitt durch den Boden in der Selbstbeschreibung der Autorin möchte die Rezensentin auf die Überlegungen des frühen Maurice Halbwachs in „Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen“ (1925) verweisen. Halbwachs vergleicht Erinnerungen mit den Steinen in römischen Häusern, die aus vergangenen Zeiten stammen. Wie vergangene Ereignisse in aktuellen Sinnsystemen üben sie eine neue Funktion aus, die von den Erfordernissen der Gegenwart bestimmt wird. Wenn das Erinnern ein „Akt des sozialen Denkens“ ist, eine von der Gegenwart ausgehende „psychische Rekonstruktion“ vergangener Ereignisse, so gehen Formen verloren. Denn nur, wenn erinnerte Bilder im individuellen Gedächtnis mit den aktuellen Vorstellungen und Wahrnehmungen in Beziehung stehen, können sie „erinnert“ werden.6

Leos Interviews zeigen, wie der mehrfache Wechsel des Referenzrahmens die Reproduktion und Rekonstruktion von Erinnerungen beeinflusst und so eine ununterbrochene Filiation der Erinnerungen, die Halbwachs als identitätsstiftend insinuiert, verhindert wird. Eine Auswertung der Erinnerungsbilder in diesem Sinne wäre eine Aufgabe nicht nur für die Erinnerungsgeschichte. Weiterführend wäre eine vertiefende Zusammenschau mit anderen „KZ-Nachbarn“ sowie eine Spezifizierung nach Schichten und Bildungsstand zur Kennzeichnung von Kollektivmentalitäten, Sozialprofilen und -charakteren interessant.

Anmerkungen:
1 Die Interviews wurden in den Jahren 1999/2000 gemeinsam mit Jens Schley in Fürstenberg, Neustrelitz, Frankfurt am Main und Berlin durchgeführt. Auf Wunsch der Interviewpartner (Jahrgänge 1912 bis 1933) wurden fast alle Namen verändert.
2 Vgl. v. a. Simone Erpel (Hrsg.), Im Gefolge der SS: Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück, Berlin 2007.
3 Vgl. Alexander von Plato, Geschichte und Psychologie. Oral History und Psychoanalyse. Problemaufriss und Literaturüberblick, in: Historical Social Research 29, 4 (2004), S. 79-119.
4 Katharina Barnstedt, Der Supermarkt in Ravensbrück. Zur Kontroverse um den Bau eines Einkaufszentrums, 1991, in: Insa Eschebach u.a. (Hrsg.), Die Sprache des Gedenkens. Zur Geschichte der Gedenkstätte Ravensbrück 1945-1995, Berlin 1999, S. 209-323.
5 Vgl. Annette Leo, Nachbarn des KZ – Befragungen in Fürstenberg, in: Dachauer Hefte 24, 4 (2008), S. 272-276.
6 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 1985, S. 132.

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