H. Kozińska-Witt, Krakau in Warschaus langem Schatten

Cover
Titel
Krakau in Warschaus langem Schatten. Konkurrenzkämpfe in der polnischen Städtelandschaft 1900–1939


Autor(en)
Kozińska-Witt, Hanna
Reihe
Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropas
Erschienen
Stuttgart 2008: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
231 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simon Hadler, Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien

Sich mit der Krakauer Stadtgeschichte zu beschäftigen, gerade die Zeit um 1900 betreffend, ist keine einfache Aufgabe. Allzu groß ist der Mythos dieser Stadt, der sich nicht nur auf das lukrative touristische Selbstbild auswirkt, sondern auch auf weite Teile des wissenschaftlichen Outputs, der diesen Mythos der geistigen und kulturellen Hauptstadt der Polen meist nicht kritisch hinterfragt.1 Diesen vorgefertigten Bildern und dem damit verbundenen Narrativ versucht nun die Autorin des Buches, welches aus dem Projekt „Kulturelle Pluralität, nationale Identität und Modernisierung in ostmitteleuropäischen Metropolen 1900-1930“ am Geisteswissenschaftlichen Zentrum „Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas“ an der Universität Leipzig hervorging, auf unterschiedliche Art zu entgehen.

Zuallererst wird der Krakauer Alleinvertretungsanspruch auf polnische Hauptstadtehren schon durch die vergleichende Perspektive mit Warschau entzaubert. Bis zur Gründung der 2. Republik erschien Warschau als sehr fern am Horizont liegend, wie Hanna Kozińska-Witt den polnischen Historiker Maciej Janowski zitiert (S. 191). Umso mehr musste das städtische Selbstbild mit den neuen Realitäten eines zentralistischen polnischen Staates kollidieren. Die Krise der Identität Krakaus – die Aufgaben eines „polnisches Piemonts“ hatten sich erledigt – fiel mit finanziellen und rechtlichen Problemen der Stadt wie auch des jungen Staates zusammen. Warschau bot sich als Projektionsfläche gekränkten städtischen Selbstbewusstseins, wie auch – in Gleichsetzung mit der nicht selten zu recht ungeliebten Regierungspolitik – als Angriffsfläche an.

Die Ursachen für das ausgeprägte Konkurrenzverhältnis der beiden Städte führen zurück in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Die Dreiteilung Polens hatte unterschiedliche rechtliche und administrative Strukturen sowie regionale Mentalitäten hervorgebracht, welche sich auch in der Zwischenkriegszeit nicht abschaffen ließen. Im Gegenteil, das Selbstbewusstsein des neuen Zentrums brachte die Antinomien nur noch mehr hervor. Diese Kontinuitäten zu verdeutlichen ist ein besonderes Verdienst der Autorin. Es ist dies der zweite jener Forschungsparameter, welche sich dem Fortschreiben mythischer Narrative widersetzen, indem das positiv konnotierte „Krakau um 1900“ durch den erweiterten zeitlichen Rahmen problematisiert werden kann.

Der dritte dementsprechende Ansatz ist Kozińska-Witts verwaltungsgeschichtliche Perspektive. Denn dadurch entgeht sie der fortgesetzten Tradierung einer normativen Stadtgeschichte, indem sie vielmehr auf deren rechtliche und politische Bedingungen verweist. Hierfür widmet die Autorin der ausführlichen Behandlung der Rechtslage der Krakauer Kommune, ihren Abhängigkeiten zuerst von Wien und später von Warschau und auch der Vorstellung einflussreicher Personengruppen – von den Juristen und den Wirtschaftswissenschaftlern bis hin zu den die Stadtentwicklungskonzepte maßgeblich prägenden Stadtpräsidenten – besonders viel Platz. Das Buch bietet einen kenntnisreichen Einblick in die strukturellen Voraussetzungen städtischer Politik und auch, wie dieser Handlungsspielraum ausgenutzt werden konnte. So unternahm die politische Führung Krakaus immer wieder den Versuch, wirtschaftliche Standbeine abseits des Kultur-, Bildungs- und Tourismusbetriebs zu schaffen. Doch ob es nun der Ausbruch des 1. Weltkriegs war oder die administrative Gliederung der 2. Republik, immer wieder wurden diese Pläne durchkreuzt. So blieb der Stadt „nur“ ihre Bedeutung als nationaler Erinnerungsort. Doch auch in dieser Hinsicht dauerte es einige Zeit, bis die in Krakau nahezu perfektionierte Inszenierung von Geschichte an die neue Lage angepasst wurde. Kozińska-Witt geht exemplarisch auf einige Feierlichkeiten ein, vom Besuch Kaiser Franz Josephs 1880 über das 500jährige Jubiläum der Schlacht von Grunwald (Tannenberg) 1910 bis hin zum Kavalleriefest 1933 und dem Begräbnis Józef Piłsudskis 1935. Die beiden letzten der angeführten Beispiele veranschaulichen dabei neue Nuancen des Krakauer Gedächtnisses. Der militärische Charakter der Feierlichkeiten und die Figur Piłsudskis stellten nicht nur eine an Tadeusz Kościuszko anknüpfende Kontinuität polnischer Kriegshelden her, sondern betonten auch die Rolle der Stadt als Ausgangspunkt heroischer militärischer Aktionen. Mithilfe dieser invented traditions fand Krakau wieder seinen Platz im gesamtstaatlichen nationalen Gedächtnis.

Im letzten Kapitel wendet sich die Autorin schließlich der medialen Ebene der Auseinandersetzung zwischen den beiden Städten zu, indem sie auf die Rolle der Presse zu sprechen kommt. Die Konzentration auf die auflagenstärkeren Blätter bietet dabei eine Perspektive auf Diskussionen, die eine breite Öffentlichkeit einbezogen. Gleichzeitig erhält man einen Blick auf die Verschiebungen und das Ausstrahlen der Zentren der Presselandschaft. Dem Gesamtkonzept der Arbeit entsprechend liegt auch diesem Teil eine Analyse der (presse-)rechtlichen Voraussetzungen, wie auch der engen Verschränkungen mit der Politik zu Grunde. Damit lassen sich auch die in mancher Hinsicht heftigen Auseinandersetzungen zwischen Krakau und Warschau auf dieser Ebene erklären, welche anhand konkreter Fallbeispiele – wie etwa der Beamtendebatte – dargestellt werden. Gerade in diesem abschließenden Teil zeigt sich anschaulich, dass die Herausbildung gegenseitiger Stereotypen in einem komplexen Prozess vielfältiger Annäherungen der beiden Städte verwurzelt ist. So schreibt die Autorin am Ende: „Allem Anschein nach gehörte es kurz vor dem Zweiten Weltkrieg zum Allgemeingut jedes Krakauers, eine Reihe fragwürdiger Urteile über den Warschauer und seine Stadt auflisten zu können. Diese Situation veranschaulichte jedoch paradoxerweise zugleich den fortschreitenden Prozeß gegenseitiger Vernetzung der beiden Städte, einen Prozeß, der konfliktreich war und die Entstehung von Stereotypen begünstigte, mit denen sich das Bedürfnis, sich ‚ein Bild‘ zu machen, befriedigen ließ.“ (S. 189)

So bietet „Krakau in Warschaus langem Schatten“ einen vielschichtigen und fundierten Einblick in unterschiedliche, miteinander verwobene Sphären der Stadtentwicklung. Das Buch erzählt die Geschichte der Möglichkeiten und Grenzen autonomen kommunalen Handelns einer Stadt, die ihren peripheren Status nie akzeptieren konnte. Gerade in dieser Hinsicht macht sich die Verknüpfung von verwaltungsgeschichtlichen und kulturhistorischen Ansätzen bezahlt.

Angesichts der strukturellen Herangehensweise der Arbeit, der vergleichenden Perspektive und dem erweiterten zeitlichen Rahmen, aber auch bezüglich der Orientierung an dem Grazer SFB „Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900“ (1995–2004) in den kulturhistorischen Fragestellungen, hätte man auf eine noch kritischere Analyse hoffen können. Der Anspruch, Belange der jüdischen Bevölkerung nicht zu thematisieren, aber gleichzeitig anzunehmen, dass lange Zeit „der Tempel der nationalen Überlieferungen […] die loyalen Juden mit eingeschlossen“ (S. 117) habe oder noch in den 1930er-Jahren „ein prononcierter Antisemitismus“ von den Krakauer Lesern „einfach unerwünscht“ (S. 179) gewesen sei, lässt die Vorstellung eines konfliktfreien Klimas in der Stadt entstehen. Ähnlich wie bei der Rede vom „zweifelsfrei polnischen Charakter“ (S. 115) Krakaus erscheint dies etwas unreflektiert in einem Buch, welches über weite Teile so anschaulich zeigt, wie die Geschichte der Stadt immer wieder zur Konstruktion eines spezifischen Bildes der Stadt eingesetzt wurde. Doch abgesehen von diesen wenigen Inkonsequenzen (auch was die durchgängige Benutzung des Begriffs der galizischen „Autonomie“2 betrifft) hat Hanna Kozińska-Witt einen wichtigen Beitrag zur Einbindung der – lange Zeit nur regional ausführlich gewürdigten – Krakauer Stadtgeschichte in breite räumliche und zeitliche Zusammenhänge vorgelegt.

Anmerkungen:
1 Für eine ähnliche Einschätzung der Arbeiten zu Krakau um 1900 vgl. Nathaniel D. Wood, Urban Self-Identification in East Central Europe before the Great War: The Case of Cracow, in: East Central Europe 33 (2006), S. 11-31, hier S. 16.
2 Vgl. Harald Binder, Galizische Autonomie. Ein streitbarer Begriff und seine Karriere, in: Lukás Fasora u.a. (Hrsg.), Moravské vyrovnání z roku 1905 / Der Mährische Ausgleich von 1905, Brünn/Brno 2006. S. 239-266.

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