J. Dobler: Zwischen Duldungspolitik und Verbrechensbekämpfung

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Titel
Zwischen Duldungspolitik und Verbrechensbekämpfung. Homosexuellenverfolgung durch die Berliner Polizei von 1848 bis 1933


Autor(en)
Dobler, Jens
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Verlag für Polizeiwissenschaft
Anzahl Seiten
618 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norman Domeier, Europäisches Hochschulinstitut Florenz

Eine Geschichte von Verfolgern und Verfolgten will Jens Dobler mit seinem Buch „Zwischen Duldungspolitik und Verbrechensbekämpfung. Homosexuellenverfolgung durch die Berliner Polizei 1848-1933“ vorlegen. Doch entgegen der von ihm halbherzig vertretenen Dichotomie traditioneller Homosexualitätsgeschichte liefert er vor allem Belege für erstaunliche Kooperationen und symbiotische Beziehungen zwischen Polizei und Homosexuellen, die weniger von Verfolgung als von polizeilicher Protektion des schillernden homosexuellen Lebens in Berlin bis 1933 sprechen lassen.

Doblers 2008 an der Technischen Universität Berlin verteidigte Dissertation (Betreuer: Wolfgang Benz und Rüdiger Lautmann) ist die erste umfassende Untersuchung des Verhältnisses von Polizei und Homosexuellen in Deutschland. Konzeptionell verbindet sie die beiden von der Geschichtswissenschaft nach wie vor stiefmütterlich behandelten Felder (Homo-)Sexualitätsgeschichte und Polizeigeschichte. Durch ihre Nähe zum Untersuchungsgegenstand sind beide Forschungsfelder noch immer nicht unproblematisch: Polizeigeschichte wegen ihrer institutionellen Verbindungen zur Polizei, Homosexualitätsgeschichte wegen ihrer Entstehung aus der homosexuellen Emanzipationsbewegung. Dobler gelingt jedoch der Spagat, seine Studie ergeht sich weder in Details der Polizeibürokratie, die auch die Quellenlage nicht mehr hergegeben hätte, noch ist der politische Kampf um die rechtliche Besserstellung Homosexueller sein Leitmotiv.

Die Studie basiert zum einen auf umfangreichem Quellenmaterial, vor allem aus dem Landesarchiv Berlin und dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, mit dem die Tätigkeit des Berliner Homosexuellendezernates rekonstruiert wird, das 1885 gegründet wurde und zeitgenössisch auch als „Päderastenabteilung“ firmierte. Zum anderen wurde die ganze Bandbreite zeitgenössischer Publikationen der Homosexuellenbewegung zur Analyse herangezogen. Aus diesen beiden Hauptquellen ergibt sich, was bisher eher vermutet denn belegt worden ist: die starke formelle wie informelle Zusammenarbeit zwischen Berliner Homosexuellendezernat und homosexuellen Lobbygruppen wie dem „Wissenschaftlich-humanitären Komitee“ unter Magnus Hirschfeld oder dem „Bund für Menschenrecht“ unter Friedrich Radszuweit. Die engen Kooperationen kann Dobler an den jeweiligen Leitern des Homosexuellendezernates überzeugend herausarbeiten. Insofern ist seine Entscheidung nachvollziehbar, die Arbeit nicht nur chronologisch, sondern auch biographisch an den Dezernatsleitern Leopold von Meerscheidt-Hüllessem (1885-1900), Hans von Tresckow (1900-1911), Heinrich Kopp (1911-1923) und Bernhard Strewe (1923-1933) auszurichten. Für die Zeit von 1848 bis 1885 orientiert er sich an der Biographie des polizei- und geheimdienstlichen Faktotums Wilhelm Stieber.

Durch den biographischen Zugriff haben allerdings viele randständige Details („Familie, Kindheit, Jugend“) einen Weg in die Arbeit gefunden, die es oft erschweren, dem roten Faden des Verhältnisses zwischen Polizei und Homosexuellen zu folgen. Dobler kann jedoch plausibel argumentieren, dass die Toleranz der Berliner Polizei gegenüber Homosexuellen über alle politischen Brüche zwischen 1848 und 1933 hinweg nicht zuletzt auf die homophilen Persönlichkeiten der Leiter des Homosexuellendezernates zurückzuführen ist. Diese besaßen eine eigenständige Machtposition innerhalb der Berliner Polizei und in dem personalmäßig überschaubaren Homosexuellendezernat, das im Jahr 1914 aus einem Kriminalkommissar als Dezernatsleiter bestand, dem im Innendienst drei, im Außendienst sieben Unterbeamte im Range von Kriminalsekretären, Kriminalwachtmeistern und Kriminalkommissaranwärtern unterstellt waren. Daneben war dem Dezernat die sogenannte „Päderastenpatrouille“ mit zehn bis zwölf Kriminalschutzmännern, teils in Zivil, zugeordnet.

Wichtigste Rechtsgrundlage des Homosexuellendezernates war der berüchtigte Paragraph 175 des Reichsstrafgesetzbuches, der „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern unter Strafe stellte. Durch mehre Entscheidungen des Reichsgerichtes konkretisiert, wurden um 1900 darunter nur beischlafähnliche Handlungen verstanden. Homosexualität „an sich“ war keineswegs strafbar. In einer breiten Öffentlichkeit wurde dies jedoch erst, worauf Dobler hinweist, durch den Eulenburg-Skandal (1906-1909) diskutiert, der allen juristischen und sexualwissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz in Deutschland ein homophobes Weltbild bekräftigte, in dem Homosexualität generell verboten war. Wegen der homophoben Mentalität, folgert Dobler, könne von einer allgemeinen Homosexuellenverfolgung gesprochen werden, auch wenn es bis 1933 nur zu vergleichsweise wenigen Verurteilungen nach Paragraph 175 kam: „Gemeint waren alle, bedroht waren alle und betroffen waren alle“ (S. 547). Zur homophoben Grundstimmung in der Gesellschaft habe insbesondere der Glaube an einen Nexus von Homosexualität und Pädophilie beigetragen, eine Anschauung, die durch die Presseberichterstattung über sensationelle Fälle homosexuellen Kindesmissbrauchs wie den Haarmann-Fall (1924) immer wieder erneuert wurde. Dobler macht daran deutlich, dass Homosexuelle landläufig auch als gefährliche Kinder- und Jugendverderber galten.

Von der homophoben Mentalität der Deutschen hob sich die großzügige Duldungspolitik der Berliner Polizei gegenüber „ihren“ Homosexuellen umso schärfer ab. Nach Doblers Analyse sollte das Homosexuellendezernat drei Funktionen erfüllen: strafbare homosexuelle Handlungen gemäß Paragraph 175 bekämpfen, ein allzu öffentliches Auftreten von männlichen Prostituierten und Homosexuellen im Straßenbild verhindern und Homosexuelle vor Erpressungen und anderen Straftaten schützen. Dobler weist jedoch nach, dass die Päderastenpatrouille praktisch kaum mit Übertretungen des Paragraphs 175 beschäftigt war, während etwa die Diebstahlpatrouille der Berliner Polizei Tausende Diebstahldelikte zur Strafverfolgung brachte. Vielmehr ergibt sich, dass das Homosexuellendezernat als staatliches Überwachungs- und Repressionsorgan nur gegenüber homosexueller Prostitution fungierte – eine Funktion, die von der auf Respektabilität bedachten Homosexuellenbewegung ausdrücklich gutgeheißen wurde. Dagegen ermöglichte es allein die Duldungspolitik des Homosexuellendezernates, dass bereits im Kaiserreich in Berlin „Päderastenbälle“ mit teilweise mehr als 1000 Teilnehmern veranstaltet werden konnten, deren Glanz und Verruchtheit Beobachter aus Paris und London in Staunen versetzte.

Während das Homosexuellendezernat also praktisch keine Strafverfolgung nach Paragraph 175 betrieb, waren die Polizeibeamten, die nicht mit der Kontrolle homosexueller Prostitution beschäftigt waren, vor allem um den Schutz Homosexueller vor Straftaten bemüht, wie die Memoiren Hans von Tresckows belegen. Nichts wäre absurder, als sich Tresckow, Dezernatsleiter im Jahrzehnt der großen Berliner Homosexuellenskandale 1900-1911, als obersten Homosexuellenverfolger der Reichshauptstadt vorzustellen. Er operierte vielmehr als „Mann für alle Fälle“, um meist sozial hochstehende Homosexuelle aus den Fängen von Erpressern zu befreien und entsprechende Affären ohne öffentliches Aufsehen zu lösen. Bedauerlicherweise wirft Dobler erst im Fazit die wichtige Frage auf, ob das Berliner Homosexuellendezernat nicht eigentlich ein Erpressungsdezernat gewesen ist (bereits die Umstände seiner Gründung 1885 weisen darauf hin), dessen raison d’être im Schutz der höchsten Gesellschaftskreise vor Erpressern und in der Verhinderung von Skandalen lag, die die moralischen Grundlagen der monarchischen Staatsform bedrohen konnten, wie der nichtverhinderte Eulenburg-Skandal zeigte.

Auch was die „Öffentlichkeitsarbeit“ des Homosexuellendezernates betrifft, sind die Befunde erstaunlich. Obgleich sie die Vernichtung der homosexuellen Emanzipationsbewegung und ihrer Protagonisten auch ohne politischen Auftrag leicht hätten arrangieren können, fanden sich die Leiter des Homosexuellendezernates ideologisch meist auf Seiten von Homosexuellenbewegung und aufstrebender Sexualwissenschaft. Dobler verweist auf das erste eigenständige medizinische Werk über Homosexualität, Albert Molls 1891 veröffentlichtes Buch „Die conträre Sexualempfindung. Mit Benutzung amtlichen Materials“ – letzteres wurde dem Sexualwissenschaftler Moll von Leopold von Meerscheidt-Hüllessem, dem ersten Leiter des Homosexuellendezernates, bereitwillig zur Verfügung gestellt. Debatten über eine endgültige Beseitigung der Homosexualität mochten bis 1933 überall aufkommen, nur nicht, wie Doblers Studie leider oft nur zwischen den Zeilen zeigt, im Umfeld des Berliner Homosexuellendezernates. Dessen Leiter Hüllessem, Tresckow, Kopp und Strewe schrieben lieber Beiträge für bekannte Publikationsorgane der Homosexuellenbewegung und traten öffentlich für Abschaffung oder Modifikation des Paragraphen 175 ein. Heinrich Kopp wurde 1922 gar in dem der Homosexuellenbewegung nahestehenden Berliner „Institut für Sexualwissenschaft“ feierlich verabschiedet und von Magnus Hirschfeld als Idealbild des aufgeklärten Polizeibeamten gepriesen.

Wie war es um die öffentliche Meinung bestellt? Dobler erwähnt die bemerkenswerte Tatsache, dass die symbiotische Zusammenarbeit zwischen Berliner Polizei und Homosexuellenbewegung weniger von deutschen als von ausländischen Beobachtern wie dem französischen Schriftsteller Oscar Méténier registriert wurde. Dennoch geht er dieser Schlüsselfrage polizeilicher Tolerierungspraxis nicht nach, sondern begnügt sich mit der gewiss richtigen, aber abstrakt bleibenden Feststellung, die Art und Weise der Duldung des regen homosexuellen Milieus in Berlin sei zwischen Polizei und Homosexuellen permanent ausgehandelt worden. Eine Untersuchung der Tagespresse – auch im internationalen Vergleich – könnte hier mehr Klarheit schaffen.

Man hätte Jens Dobler mehr Mut gewünscht, das in diesem Fall konzeptionell wenig überzeugende Sowohl-als-auch von Duldungspolitik und Verbrechensbekämpfung ganz zugunsten der Duldungspolitik, d.h. der Protektion der Homosexuellen durch die Berliner Polizei bis 1933, aufzugeben. Wo sie aber dem Phänomen homophiler Polizei in einer homophoben Gesellschaft nachgeht, ist die Studie eine Innovation der Homosexualitätsgeschichte.

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