D. Dahlmann u.a. (Hrsg.): Überall ist der Ball rund

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Titel
Überall ist der Ball rund - Die zweite Halbzeit. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa


Herausgeber
Dahlmann, Dittmar; Hilbrenner, Anke; Lenz, Britta
Erschienen
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Zeller, DFG Forschungsprojekt Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Sportes und der Körperkultur in der Sowjetunion, Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg

Wie jeder weiß, war es Sepp Herberger, der den Ball für rund erklärte. Christoph Biermann präzisierte mit Blick auf die Fußballtaktik, dass der Ball deshalb rund sei, da nur so das Spiel die Richtung ändern könne.1 Mit ihrem Sammelband reihen sich Dittmar Dahlmann, Anke Hilbrenner und Britta Lenz nun bereits zum zweiten Mal 2 in diese illustre Runde fußballphilosophischer Propheten ein und wenden sich erneut der osteuropäischen Fußballgeschichte zu. Wer es noch nicht wusste, weiß es jetzt: Auch im östlichen und südöstlichen Europa wurde und wird Fußball gespielt. In den meisten Regionen war und ist dieser Sport ähnlich populär wie in Deutschland.

„Überall ist der Ball rund – die zweite Halbzeit“ möchte Anstöße für weitere Forschungen zur Sport- und Fußballgeschichte in Osteuropa geben. Für eine „geschlossene Gesamtdarstellung“ sei es zu früh, da zunächst eine „solide Basis für die Forschung“ geschaffen werden müsse (S. 8). Was aber genau darunter zu verstehen ist, lassen die Herausgeber unter Verzicht auf einen konzeptionellen Rahmen völlig im Unklaren. Auch die Gliederung der Aufsätze nach Nationalstaaten ist hierbei wenig hilfreich, da das komparative Potential, das in einzelnen Artikeln schlummert, nicht ausgeschöpft und mögliche Thesen nicht zusammengefasst werden.

Der Schwerpunkt liegt auf der Vor- und Zwischenkriegszeit: Acht Texte sind der Anfangszeit des Zuschauersports Fußball in Russland und der Sowjetunion, Polen, Lettland, Rumänien, Österreich (jüdischer Fußball) und der Schweiz (Arbeitersport) gewidmet. Ekaterina Emeliantsevas solider Artikel zum Fußball im späten Zarenreich räumt mit einseitigen Zuschreibungen auf: Weder habe der Sport eine rein demokratisierende Wirkung entfaltet, noch eindeutig Klassenunterschiede vertieft. Britische Fachkräfte, die in den neuen Industriestandorten in Moskau und St. Petersburg arbeiteten, führten das Fußballspiel im späten 19. Jahrhundert ein. Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde es vor allem im Rahmen bürgerlicher Vereinskultur gepflegt. Selbst das Publikum, das sich in den 1910er-Jahren mehr und mehr zu den Spielen einfand, hatte zunächst einen bürgerlichen Hintergrund. Beispiele sozialer Abgrenzung, z.B. durch die Erhöhung des Mitgliedsbeitrags der Moskauer Vereine, relativiert Emeliantseva aber überzeugend mit Belegen für die Mechanismen sozialer Durchlässigkeit. So habe es etwa zahlreiche Verbindungen zwischen Jugendlichen aus offiziellen Fußballklubs und solchen gegeben, die in den zahlreichen „wilden Vereinen“ außerhalb des formalen Spielbetriebs spielten.

Britta Lenz beschreibt anschaulich die Anfänge des Fußballs in Krakau. Die dynamische Entwicklung des polnischen Fußballs im frühen 20. Jahrhundert führt sie auf die hohe Dichte polnischer Bildungsinstitutionen im galizischen Teil des geteilten Polens zurück. Schüler- und Studentenvereine bildeten die Vorläufer der seit 1908 rivalisierenden Krakauer Fußballklubs Crakovia und Wisła. Der Fußball sei in höheren Gesellschaftsschichten sehr beliebt gewesen und entsprechend gefördert worden. Die Rivalität zwischen Crakovia und Wisła nahm im Laufe der Zeit an Schärfe zu, was nicht zuletzt im geflügelten Wort des „Heiligen Krieges“ zum Ausdruck kam. Bogdan Popa zeichnet in einer anschaulichen Kollektivbiographie den typischen Karriereweg rumänischer Fußballspieler von den städtischen Brachflächen und Schulen in die Kader der neuen Profivereine der 1930er-Jahre nach. Die Professionalisierung im Fußball habe so neue Formen sozialen Aufstieges ermöglicht. Matthias Marschik führt in die interessante Geschichte des jüdischen Fußballs im Wien der Zwischenkriegszeit ein. Neben jüdischen Vereinen wie Hakoah und Austria Wien hätten jüdische Sportoffizielle maßgeblich zur Professionalisierung des Fußballs in Österreich beigetragen. Gerade das zionistische Hakoah habe durch seine Erfolge Anhänger weit außerhalb des jüdischen Lagers angezogen, aber auch antisemitische Reaktionen zur Folge gehabt.

Anke Hilbrenner formuliert in ihrem Aufsatz zum ostjüdischen Fußball ein Kernanliegen des Sammelbandes, das auch in der Einleitung hätte aufgegriffen werden können. Auf findige Weise schreibt sie gegen die Vorstellung der Rückständigkeit des Ostens an, die auch die deutsche Sportberichterstattung bis heute dominiere. Ihr Fallbeispiel ist geschickt gewählt: Innerhalb der jüdischen Turn- und Sportbewegung hätte sich in den 1910er-Jahren der moderne englische Fußballsport gerade unter den als rückständig geltenden Ostjuden verbreitet. Deren vermeintliche Rückständigkeit, die sich ganz konkret durch einen Mangel an Turngerät ausdrückte, machte sie erst zum Träger eines Sportes, der zum Inbegriff der Moderne werden sollte.

Zweiter Weltkrieg, Nachkriegszeit und Gegenwart sind in einzelnen Artikeln ebenfalls im Sammelband vertreten. Alexander Chertov schreibt über den Fußball im belagerten Leningrad. Zu Recht setzt er die später als „Blockadespiel“ bekannt gewordene Partie Dynamo Leningrads vom Frühjahr 1942 in einen Zusammenhang mit anderen Kriegsmythen wie etwa dem Kiewer „Todesspiel“ desselben Jahres. Diese Legenden folgen derselben Logik sowjetischer Erinnerungskultur der Nachkriegszeit und beschäftigen Fans und Vereine bis heute. Durch Zusammenschau von Erinnerungen, Zeitungs- und Archivquellen gelingt Chertov eine unaufgeregte Rekonstruktion des Blockadespiels, die sich auf überzeugende Weise ihrer Grenzen bewusst ist. Die Einsicht etwa, dass den Spielern unter den Bedingungen der Unterernährung einfach die Kraft gefehlt habe, länger als jeweils 30 Minuten pro Halbzeit zu spielen, konterkariert die euphorische Darstellung in der sowjetischen Presse. In weiteren Sportereignissen des Jahres 1943 erkennt Chertov eine schrittweise Normalisierung des öffentlichen Lebens. Wünschenswert wäre ein noch stärkerer Fokus auf der Nachkriegszeit gewesen. Schließlich entfaltete das Ereignis erst in der Retrospektive seine volle ideologische Bedeutung.

Mit Blick auf die politische Funktion sportlicher Wettkämpfe im Kalten Krieg erteilt Dittmar Dahlmann der häufig behaupteten politischen Neutralität des Sportes eine klare Absage. Sein Fallbeispiel ist das Länderspiel der sowjetischen und der deutschen Nationalmannschaft vom 21. August 1955 in Moskau. Haarfein zeichnet er die sportdiplomatischen Debatten vor allem der deutschen Seite nach und findet so ausreichend Belege für seine These. Die propagandistische Bedeutung habe angesichts der bevorstehenden Reise Konrad Adenauers vom September 1955 auf der Hand gelegen. Dies leuchtet ein, ist aber auch ein recht vorhersehbares Ergebnis. Lohnenswerter wäre es sicherlich gewesen, auch andere Handlungsebenen zur Darstellung zu bringen, um dort nach politischen Bedeutungen zu fahnden: Die Begegnungen der Sportler etwa oder die Rezeption durch das Publikum. Zweifelsohne kann man die Einladung zum Länderspiel als diplomatischen Winkelzug der sowjetischen Führung interpretieren, die der deutschen Seite gar nicht recht war. Die Frage, was dieses Spiel für die Fans bedeutete (nicht zu verwechseln mit der Frage, wie Fans in den Medien inszeniert wurden), ist aber gerade angesichts des ansteigenden Aktionsradius der Sportrezeption durch erste Fernsehübertragungen besonders interessant. Über Befragungen von Zeitzeugen könnte man nicht minder politische Bedeutungen dieses Länderspiels erschließen, die nicht den Weg in die Zeitung fanden. Denn viele ältere Moskauer Fußballfans erinnern sich an dieses Länderspiel bis heute.

Andreas Prokopf schreibt über polnische Hooligans der Gegenwart auf eine Weise, die mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet. Ihr Verhalten und ihre Fansymbolik brächten ihre Gewaltbereitschaft, ihren Rassismus und ihren Antisemitismus zum Ausdruck. Sie grenzten sich aus und würden von der Gesellschaft ausgegrenzt. Falsch ist diese Einschätzung sicher nicht – sie kommt aber zu simpel und einseitig daher. Von anderen Fußballfans erfährt man etwa nur, dass sie sich nicht mehr ins Stadion trauen. Überraschend wenig ist auch über Weltsicht und Motive der gewalttätigen Protagonisten selbst zu lesen. Die interessanten Hinweise auf die Fremd- und Selbstwahrnehmungen von Fangruppen und „das Binnenethos“ (S. 117) von Hooligans verpuffen angesichts fehlenden eigenen Interviewmaterials. An nur einem Beispiel wird die vielfältige und widersprüchliche Natur von Fankultur im historischen Wandel deutlich: Angesichts des Todes von Papst Johannes Paul II. hätten sich rivalisierende Fußballanhänger zu gemeinsamen Trauerveranstaltungen getroffen. In diesem Moment seien Werte zu Tage getreten, die von der Mehrheitsgesellschaft keineswegs abgelehnt würden: „Patriotismus, Treue und Glauben“. (S. 117)

Sebastian Balta verfasst eine unterhaltsame Vereinsgeschichte des rumänischen Studentenvereins Universitatea Cluj. Es ist ein großes Vergnügen, seine wunderbar anekdotenreiche Erzählung „unvergessener Spielzeiten“ zu lesen. Allerdings verzichtet er vollständig auf eine analytische Durchdringung seines Gegenstandes. Grundsätzlich hat man bei solch einem Stoff zwei Möglichkeiten: Entweder man möchte einen Forschungsbeitrag zur Erinnerungs- und Freizeitkultur verfassen, in deren Kontext Mythen und Anekdoten Sinn schaffen und damit nicht zwangsläufig vergangenes Geschehen eins zu eins widerspiegeln. Dann müsste man erklären, was diese Geschichten nun eigentlich bedeuten. Oder das Anliegen besteht darin, ein fußballbegeistertes Publikum allein durch die Kraft der Geschichten zu verzaubern. Für den Sammelband insgesamt stellt sich also hier die Frage, an welches Publikum man sich denn eigentlich richten möchte. Bleibt diese Frage im Vorfeld unbeantwortet, so besteht die Gefahr, dem wissenschaftlichen Lesepublikum zu leicht, reinen Fußballfans aber zu sperrig zu erscheinen.

Das analytische Potential des Forschungsgegenstandes Fußball ist immens und deutet sich auch in so manchem der Artikel an. Mit Hilfe des multidimensionalen Gegenstands Fußball ließe sich aus interdisziplinärer Perspektive einiges zum Zustand osteuropäischer Gesellschaften sagen, gerade im Zusammenhang mit den Wirkmechanismen einer global verzahnten kulturellen Fußballpraxis. Im modernen Stadion werden keineswegs nur Meisterschaften ausgespielt. Die besprochenen Texte zur Zwischenkriegszeit thematisieren auf die eine oder andere Weise gesellschaftliche Aushandlungsprozesse in der Arena des modernen Sports. Das Ringen um den sportlichen Sieg ruft die alten Kategorien Nation, Klasse, Geschlecht, Religion und Generation auf die Tagesordnung. Gleichzeitig reflektieren die Aufsätze die lokale Adaption eines sich globalisierenden Sportes.3 Die Nachkriegszeit zementierte mit der Einführung und Ausweitung von Fernsehübertragungen jenen globalen Charakter des Fußballs und machte den Weg frei für kulturelle Transfers, die weltweit zur Entstehung organisierter Fankultur führten und damit den Zuschauersport revolutionierten. Über lokale Wirkzusammenhänge aus Zuschauergewalt, Medienberichterstattung, staatlicher Exekutivkraft und individueller Sinngebung von Fans ließe sich der Zuschauersport Fußball als Prisma verwenden, das unser Verständnis osteuropäischer Gesellschaften und der Moderne vertiefen helfen könnte.

Der Band „Überall ist der Ball rund – die zweite Halbzeit“ lässt hingegen die Ergebnisse der einzelnen Artikel im Ungefähren und bleibt so eine lose Zusammenstellung bisweilen recht instruktiver Ansätze und amüsanter Geschichten. Das Fazit nach 90 Minuten: Unentschieden. Warten wir auf die Verlängerung.

Anmerkungen:
1 Christoph Biermann, Der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung ändern kann. Wie moderner Fußball funktioniert, Köln 1999.
2 Dittmar Dahlmann / Anke Hilbrenner / Britta Lenz (Hrsg.), Überall ist der Ball rund. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa, Essen 2006; Vgl. dazu die Rezension von Robert Kindler in: H-Soz-u-Kult, 26.05.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-2-138>.
3 Siehe etwa Barbara Keys, Globalizing Sports: National Rivalry and International Community in the 1930s, Cambridge, MA 2006.

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