Titel
The Street as Stage. Protest Marches and Public Rallies since the Nineteenth Century


Herausgeber
Reiss, Matthias
Reihe
Studies of the German Historical Institute
Erschienen
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
₤ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Fraunholz, Lehrstuhl für Technik- und Technikwissenschaftsgeschichte, Technische Universität Dresden

Der Siegeszug der Neuen Kulturgeschichte hat die in den 1970er-Jahren boomende historische Protestforschung für geraume Zeit auf eine Nischenexistenz verwiesen. Ihre Nähe zur Arbeiterbewegungsforschung machte sie insbesondere nach 1990 unmodern. Dass sich aber das neue Interesse an Symbolen, Ritualen, Narrativen und Raum auch hervorragend durch die Beschäftigung mit Protestereignissen stillen lässt, verdeutlicht der vorliegende, von Matthias Reiss herausgegebene Band zu Protestmärschen und öffentlichen Kundgebungen auf eindrucksvolle Weise. Das Buch geht auf eine vom Deutschen Historischen Institut London organisierte Konferenz zurück, die Protestforscher und Protestpraktiker zusammenführte. Insgesamt 17 Beiträge beleuchten die verschiedensten Facetten der Thematik, wobei die Schwerpunkte in zeitlicher Hinsicht im 20. Jahrhundert, in geografischer Hinsicht in Westeuropa und den USA liegen. Positiv hervorzuheben ist insbesondere die komparative Anlage der meisten Aufsätze, wobei oft transnationale Bezüge hergestellt werden.

Nach der Einführung des Herausgebers, in der der Forschungsstand kursorisch zusammengefasst und übergreifende Ergebnisse der Einzelbeiträge herausgearbeitet werden, eröffnen Stephen Reicher und Clifford Stott den theoretischen Teil des Buches mit einem Beitrag zur Sozialpsychologie, in dem sie ihr Forschungsprogramm vor allem in Abgrenzung zur älteren Massenpsychologie eines Gustave Le Bon entwickeln.1 Entschieden treten sie pathologisierenden Interpretationen entgegen, die mangelnde Urteilsfähigkeit, primitive Gewalttätigkeit und beliebige Manipulierbarkeit anonymer Massen konstatieren. Aus Sicht der Historischen Geografie verweist David Gilberts Beitrag auf die Ortsspezifität von Protestmärschen. Obwohl sich die Anti-Globalisierungsbewegung mittels moderner Kommunikationstechnologie global vernetzt und traditionelle Protestformen weltweit adaptiert werden, sind Protestmärsche immer auch Kämpfe um die Bedeutung konkreter Plätze und Straßen, symbolische Ortsaneignungen mit eigenen Mikro-Geografien. Der Berliner Protestforscher Dieter Rucht weist darauf hin, dass sich eine soziologische Herangehensweise, die auf Protestereignisanalyse fokussiert ist, kaum von strukturgeschichtlichen Zugängen unterscheidet. Während aber der Historiker die Kontingenz von Protestereignissen betone, seien Soziologen stärker an generellen Verhaltensmustern interessiert. Demonstrationszüge werden als fester Bestandteil eines weltweiten Protestrepertoires präsentiert, ihre Attraktivität in der sie konstituierenden Ortsveränderung gesehen: Der Protestmarsch erreicht meist große Publika, erleichtert die Integration von Sympathisanten und symbolisiert zugleich ein „Vorwärtsschreiten“. Bei langen Märschen lässt sich zudem Opferwille demonstrieren. Soziologen betreiben andererseits mittels Zufallsstichproben die quantitative Auswertung von Protestereignissen, die kategorisiert und klassifiziert werden. In diesem Zusammenhang wird eine Protesttypologie vorgeschlagen, die sich an der Form der Konfliktaustragung orientiert und zwischen appellativen, prozeduralen, demonstrativen, konfrontativen und gewalttätigen Protesten unterscheidet. Korreliere man Protesthäufigkeiten mit strukturellen Bedingungen wie der Unterdrückungsintensität, so zeige sich kein linearer Zusammenhang, entscheidend sei vielmehr die relative Deprivation. Generell seien aber die konditionalen Faktoren, die latente Konflikte in manifeste Proteste umschlagen lassen, bisher wenig erforscht.

Die folgenden Fallstudien zum protestintensiven 19. Jahrhundert widmen sich so unterschiedlichen Themen wie dem Hambacher Fest (Pia Nordblom), Protesten der tschechischen Nationalbewegung (Hugh LeCaine Agnew) und dem Suffragettentum im internationalen Vergleich (Brigitta Bader-Zaar). Ging es bei dem vormärzlichen Großereignis um die Umwidmung eines traditionellen, öffentlichen Festes, das mit einem Demonstrationsmarsch eröffnet wurde, dessen Kern aber die zahlreichen politischen Reden bildeten, so können in den Beispielen aus Böhmen unterschiedliche Protestformen identifiziert werden: Offizielle Zeremonien, wie die Rückkehr der Wenzelskrone nach Prag, werden durch die Teilnahme von Nationalisten zu politischen Manifestationen, die Grundsteinlegung des Nationaltheaters durch den Rekurs auf eine mythologische Symbolik zum nationalen Fest. Daneben kam es zu spontanen, gewalttätigen Protestdemonstrationen, die sich gegen Symbole deutscher Vorherrschaft richteten, sowie zu einer Serie politischer Großveranstaltungen gegen neue Steuern, die von Arbeiterprotesten flankiert wurden und zur Ausrufung des Notstands führten. In beiden Fallbeispielen werden Formen politischer Kommunikation deutlich, in denen sich die Akteure rituell bemühten, mit Zeichen der Dominanz öffentlichen Raum zu besetzen. Der transnationale Vergleich des Suffragettentums in Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Deutschland, Österreich und Frankreich erweitert das Spektrum untersuchter Demonstrationszüge um die Sonderform der petititionierenden Prozession sowie um Hinweise zu den Ungleichheitskategorien Geschlecht und Rasse. Insgesamt geriet die Zurschaustellung selbstbewusster Weiblichkeit im öffentlichen Straßenraum zum sensationellen Spektakel und provozierte zuweilen gar gewalttätige Angriffe des männlichen Publikums. Dabei waren die Aktionen der dem sozialdemokratischen Milieu nahe stehenden moderaten Mittelklasse-Suffragetten in Kontinentaleuropa weniger militant als ihre angloamerikanischen Pendants. Stets war man um die Präsentation von Respektabilität bemüht, der unmittelbare Erfolg der Aktionen blieb jedoch auf das Erleben weiblicher Kollektivität beschränkt.

Das Kapitel zur Zwischenkriegszeit eröffnet ein vergleichender Beitrag von Adam R. Seipp zur Straßenpolitik in München und Manchester im Kontext der Demobilisierung nach dem Ersten Weltkrieg. Beide Nachkriegsgesellschaften sahen sich mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert, da in beiden Fällen nicht nur Veteranen vehement Sozialreformen einforderten. Das Fortbestehen von Kriegsgesetzen beschränkte die Möglichkeiten legaler politischer Mobilisierung und führte zu Straßenprotesten, deren Artikulationsrepertoire durch die Dominanz einer patriotischen Populärkultur begrenzt wurde. In München kanalisierte die antisemitische Agitation Regierungskritik auf die jüdische Minderheit, in Manchester wurde dagegen der weibliche Teil der Bevölkerung rhetorisch ausgegrenzt. Daran anschließend widmet sich Matthias Reiss den Protestmärschen britischer Arbeitsloser auf London, die zwischen den Weltkriegen eine Blüteperiode erlebten. Interessant ist an diesem Beispiel vor allem, dass es sich nicht um primär städtische Ereignisse handelte, sondern um entbehrungsreiche Überlandmärsche, die sich mit einer christlichen Märtyrer- und Pilgersymbolik verknüpfen ließen. Als Sternmärsche konzipiert beinhalteten diese Demonstrationen zahlreiche Zwischenstopps und Versammlungen in der Provinz, die auch Fundraising-Zwecken dienten, darüber hinaus aber einer breiten Öffentlichkeit bildliche Impressionen der Armut vermittelten. Gewalt als ästhetisches Mittel und Propaganda als ein Aspekt von Gewalt werden dagegen in Sven Reichardts Ausführungen zu faschistischen Märschen in Italien und Deutschland fokussiert, die ein Extrakt seiner preisgekrönten Dissertation darstellen.2 Der systematische Vergleich von Strafexpeditionen und Landpropaganda, Stadtbesetzungen und Straßenaufmärschen offenbart Gewalt als integralen Bestandteil des faschistischen Lifestyles. Dem Plädoyer für den Nutzen einer praxeologischen Faschismustheorie kann man sich nur anschließen.

Der Abschnitt zu städtischen Märschen durchbricht die ansonsten chronologische Gliederung des Bandes. Städtische Protestereignisse werden auch in anderen Beiträgen des Bandes thematisiert, die hier gruppierten Aufsätze eint aber ihr expliziter Bezug auf städtische Protestgeografien. Christian Koller identifiziert in seiner Analyse Zürcher Demonstrationszüge zwischen 1830 und 1940 unterschiedliche Protestphasen. Waren zunächst bürgerliche und ländliche Proteste durchaus erfolgreich, so brach ab den 1880er-Jahren eine Ära der Dominanz sozialdemokratischer Aktionen an, die seit den 1920er-Jahren von einer „pluralistischen Straßenpolitik“ abgelöst wurde. Während faschistische und kommunistische Parteien 1940 verboten wurden, zeigte sich die zunehmende Integration der Sozialdemokraten durch das Mitführen von Schweizer Flaggen auf Demonstrationszügen. Zuvor war man zwar stets um Disziplin und die Darstellung von Respektabilität bemüht, die alljährlichen Märsche am Maifeiertag aus den Arbeiterbezirken auf das Stadtzentrum konnten aber als symbolische Attacken gedeutet werden. Das Überschreiten der Limmat kam demnach einer Inbesitznahme bourgeoisen Raumes gleich. Als politisches Herz der USA und durch die unmittelbare Nähe zu den Zentren der Macht ist die Washingtoner Mall als Protestort prädestiniert. Sie spielte daher auch in den von Simon Hall analysierten Bürgerrechts- und Antikriegsmärschen der 1960er-Jahre eine Rolle. Während es der schwarzen Bürgerrechtsbewegung 1963 durch die sorgfältige Orchestrierung des Events und eine positive Medienberichterstattung gelang, Sympathien in der Mehrheitsgesellschaft für ihren Marsch auf Washington zu wecken, war den Initiatoren der Vietnam-Proteste vier Jahre später geringerer Erfolg beschieden. Gegenkulturelle Spaß-Aktionen wie das Schmücken von Gewehrläufen mit Blumen, das Verbrennen von Musterungsbescheiden oder eine symbolische Teufelsaustreibung vor dem Pentagon sorgten für wirkmächtige Bilder, wurden aber als „unamerikanisch“ empfunden und verhinderten eine breitere Solidarisierung. Pop-Art-Elemente beinhalteten auch die oppositionellen Proteste in Belgrad und Sofia im Winter 1996/97, die Nikola D. Dimitrov anschließend schildert. Performances, die Verwendung von Puppen, symbolische Straßenblockaden und das an traditionelle Rügebräuche erinnernde Krachschlagen erwiesen sich dort aber als erfolgreiche Taktiken im Bemühen, Straßenprotest als Korrektiv der Politik zu etablieren. Die Ortsbezogenheit von Demonstrationsmärschen ist in Neil Jarmans Beitrag zu den Protesten im nordirischen Friedensprozess von herausragender Bedeutung. Seit dem späten 18. Jahrhundert veranstaltet der Oranier-Orden Märsche zum Gedenken an einen militärischen Sieg der Protestanten, die auch katholische Nachbarschaften durchqueren, seit den 1980er Jahren regt sich dagegen Widerstand bei der Wohnbevölkerung, der sich zuweilen zu Ausschreitungen in ganz Nordirland ausweitete. Die dominante Raumaneignung, das Festhalten der paramilitärischen Formationen an traditionellen, unveränderten Routen gibt dem Beharren auf einem unveränderten Status der Protestanten Ausdruck. Erst Ende der 1990er-Jahre wurde die in der alljährlichen Marschsaison ausbrechende Gewalt durch eine vermittelnde Polizeitaktik beruhigt.

Im abschließenden Teil des Buches werden anhand von Demonstrationsmärschen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg neue Protestmodelle fokussiert. Holger Nehring vergleicht Ostermärsche der 1950er- und 1960er-Jahre in Großbritannien und Deutschland und betont dabei den Vorbildcharakter der britischen Anti-Nuklearwaffen-Proteste. Nahmen 1958 am Demonstrationszug zum Atomwaffenforschungszentrum Aldermaston nur wenige hundert Marschierer teil, so erlebte die Protestwelle wenige Jahre später mit einer Massenkundgebung auf dem Trafalgar Square ihren Höhepunkt. Auch direkte Aktionen gegen Waffenfabriken wurden im Umfeld der „Campaign for Nuclear Disarmament“ erörtert. Dies mag daran liegen, dass die Anti-Atomwaffenproteste ohne nennenswerte Mitwirkung der Labour Party organisiert wurden. In Deutschland dagegen lancierten SPD und Gewerkschaften die „Kampf dem Atomtod“-Bewegung. Die Betonung stiller Disziplin, von Normalität, Sachlichkeit und Rationalität kann aber auch auf die Erinnerung an eine unheilvolle deutsche Marschvergangenheit zurückgeführt werden. Diese wird wach gehalten durch Märsche der extremen Rechten im heutigen Deutschland, die Fabian Virchow einer Analyse unterzieht. Von NPD und Neo-Nazi-Kameradschaften organisierte Märsche haben in den letzten 25 Jahren drastisch zugenommen. Lag die durchschnittliche Teilnehmerzahl in den 1980er-Jahren bei etwa 300 Personen, können heute zwischen 2000 und 3000 Marschierer mobilisiert werden. Die rechte Szene betont die Relevanz von Märschen innerhalb ihres „Drei-Säulen-Konzepts“, bekundet den Willen zur Besetzung öffentlicher Räume und kann sich offenbar auf eine stabile Infrastruktur stützen. Marschteilnahmen fungieren als Initiationsakte, dienen der Rekrutierung neuer Kader und dem paramilitärischen Training. Sie erinnern somit teilweise an vormalige SA-Strategien. An französischen Beispielen macht Danielle Tartakowsky abschließend die Modernisierung von Straßendemonstrationen seit den 1980er-Jahren deutlich. In Frankreich erfüllten verschiedene erfolgreiche, gegen Gesetzesvorhaben gerichtete Massendemonstrationen die Funktion von Referenden der Zivilgesellschaft. Ein Trend zur direkten Aktion und zu langen Überlandmärschen sowie ein semantischer Wechsel von der Manifestation zum Marsch zeichnen sich ab. Insgesamt seien nationale Protestrepertoires aber in Auflösung begriffen. Wohnungslosenproteste, Techno-Umzüge, Gaypride-Paraden und Flashmobs lösen die Grenzen zur Spontanparty auf, offenbaren ein neues Verhältnis zum öffentlichen Raum und bedürfen keiner Bezugnahme auf historische Vorbilder aus der nationalen Protestkultur. Gleichzeitig erinnern sie aber an die Wurzeln des Demonstrationszuges im Volksfest.

Das große Verdienst des Buches ist, dass es die Diversität historischer Ausprägungen eines globalen Phänomens bewusst macht, indem es ein facettenreiches Spektrum an Protestmärschen methodisch reflektierter Analyse unterzieht. Dass die präsentierte Auswahl nicht allen Spezialinteressen gerecht wird und nicht jedes „neue Modell“ Erwähnung findet, lässt sich angesichts der geografischen und zeitlichen Breite des Bandes kaum vermeiden. Protestdemonstrationen wollen Öffentlichkeit für partikulare Interessen schaffen und Medieninteresse wecken. Sie bedeuten aber auch eine symbolische Aneignung öffentlicher Räume und treten über diese in Interaktion mit der Gesellschaft. Deutlich wird, dass Demonstrationszüge meist organisiert und choreographiert werden müssen, sich aber nur schwer steuern lassen. Identitäten und Ideen werden mit unbekanntem Ausgang in kollektive Aktion transformiert, ohne dass dabei die soziale Identität der Teilnehmer in der Menschenmenge verloren ginge. Pathologisierungsversuchen begegneten Protestierer zuweilen mit subversiver Kreativität aber auch mit komplexen Ritualen der Ordnung und Disziplin. Angesichts dieser Expressivität des Straßenprotests ist die sparsame Illustrierung des Bandes ein Wermutstropfen. Lediglich einige Karten und Stadtpläne werden zur leichteren räumlichen Verortung von Protestmärschen präsentiert. Auch dass die an der zugrunde liegenden Konferenz beteiligten Protestpraktiker nicht zu Wort kommen, kann man bedauern, ist bei der Gesamtkonzeption des Bandes aber nachvollziehbar.

Anmerkungen:
1 Gustave Le Bon, Psychologie des Foules, Paris 1895. (deutsch: Psychologie der Massen, Stuttgart 15. Aufl. 1982.)
2 Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002.