Titel
Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung


Autor(en)
Seibt, Gustav
Erschienen
München 2008: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Müller, Berlin

Dies ist – erstens – eine literaturhistorische Abhandlung über Goethes Verhältnis zu Napoleon. Zweitens ist es eine Spiegelung des heutigen europäischen Diskurses im historischen Material, also ein politisches Buch. Und drittens eine Erzählung. Der Autor reiht Fakt an Fakt und spekuliert nicht ins Blaue. Sein Verfahren ist materialistisch - Geschichte als Grundlage des Literaturverständnisses. Von Haus aus ist Gustav Seibt Journalist, er arbeitete als Feuilletonist für die FAZ, die Berliner Zeitung, die Süddeutsche Zeitung. Daher rühren sein Gespür für die Aktualität des Stoffs und der nüchterne, gleichwohl brillante Stil. Zugleich ist er Literaturhistoriker. Er recherchiert mit Phantasie; und bewährt sich in der geistvollen Kombination des Materials. Sein Buch über Goethe und Napoleon gehört in die respektable Reihe der literarischen Essays. Georg Knepler1 und Gunthard Born 2 haben in dieser Art über Mozart geschrieben, Wolfgang Heise über Hölderlin 3, Hildegard Hammerschmidt-Hummel über Shakespeare 4. Die Goethe-Monografien von Sigrid Damm 5 und W. Daniel Wilson 6 kommen Seibts essayistischer Methode am nächsten. Diese Bücher erheben den doppelten Anspruch, Wissenschaft und Literatur zu sein. Ihm stellt sich auch Gustav Seibt.

Seibt müßte, wäre er nur ein Universitätsgelehrter, mit dem Satz beginnen: „Dieses Buch stellt gewissermaßen eine vorläufige Analyse der politischen Intentionen, die Goethe, soweit auf der Grundlage heutigen Quellenstandes zu ermitteln ist usw.“ Stattdessen beginnt er so: „Zweimal schwebte Goethe in der Gefahr, sein Leben im Krieg zu verlieren. Der erste dieser Momente tödlicher Bedrohung war der Nachmittag der Kanonade von Valmy am 20. September 1792, der zweite die Nacht vom 14. auf den 15. Oktober 1806.“ Die lapidare Feststellung kaschiert und enthüllt zugleich die These, wegen der das Buch geschrieben wurde: Goethe war ein Bonapartist. Das wird auf 254 Seiten bewiesen.

Für Seibt ist unser größter Dichter ein politischer Parteimann, der sein poetisches Genie in den Dienst der Idee stellt, die er für die napoleonische hielt: die der europäischen Universalmonarchie. Diese Universalmonarchie vom Atlantik bis nach Rußland, glaubte er, stelle das feudale Föderalsystem in Frage, das durch die politische Zersplitterung Deutschlands im Gleichgewicht gehalten wurde. Universalmonarchie versus Föderalsystem. Ausführlich erörtert Seibt anhand der Schriften des österreichischen Aufklärers und späteren Metternich-Vertrauten Friedrich von Gentz und des Schweizer Historikers und preußischen Hof-Historiografen Johannes von Müller diesen historischen weltgeschichtlichen Gegensatz, und obwohl er sich den aktuellen Kommentar versagt, wird dem Leser unwillkürlich deutlich: Der alte Antagonismus ist auch der moderne. Die Zersplitterung Deutschlands war das Unterpfand für die Balance der west-östlichen Föderalsysteme (Bündnisse) bis 1989. Geht es seither um eine neue (bonapartistische) Universalmonarchie? Das ist ein Stoff, über den Politiker heute nachdenken könnten. Ihnen sei das Buch zur Lektüre empfohlen, aber sie werden es vermutlich nicht lesen. Goethe jedenfalls verschrieb sich dem Konzept der bonapartistischen Universalmonarchie. Ihm erschien Napoleon als der Erbe Friedrichs II., und der Weimarer Musenhof mit ihm selbst als Kaiser darin als das Erbe Voltaires. Beiden Kaisern, Napoleon und Goethe, war es in der fast rauschhaften Dichterphantasie aufgegeben, den Janustempel des Krieges zu schließen, so einen Schlußstrich unter die Wirren der Revolution zu ziehen und das Reich des Friedens einzuläuten. Wie Frankreich in der Politik, so sollte Deutschland in der Kunst die erste Rolle in Europa spielen. Die „Kunstperiode“, wie Heine sie später nannte, war eine Ausgeburt des Empire, das „Luftreich des Traumes“ die deutsche Bestimmung.

Der Erfurter Fürstenkongreß von 1808 war der Kristallisationspunkt dieser Illusion, deshalb widmet ihm Seibt fast 50 Seiten seines Buchs. Napoleon versammelte im September 1808 die politischen Autoritäten seiner Zeit, darunter den russischen und den österreichischen Kaiser und alle deutschen Zwergfürsten und Zaunkönige. Dort begegnete Goethe Napoleon und dessen hinkendem Mephisto, dem Außenminister Talleyrand - ein Faust-Tableau. Napoleon behandelte Literatur als ein Mittel der Politik. Zwischen den Verhandlungen mußten die Fürsten ins Theater. Er ließ ihnen durch die extra herbeizitierte Comédie française Abend für Abend die klassischen Königsdramen Corneilles, Racines und Voltaires vorführen, um sie in der Kunst des Regierens (und der Unterwerfung) zu unterweisen. In diesen Rahmen fällt Goethes Audienz bei Napoleon, bei der Napoleon bei „M. Göth“ ein Cäsar-Drama bestellt, ein besseres, s’il vous plaît, als Voltaires „La mort de César“. Seibts Darstellungskunst erreicht in der Analyse dieses Rendez-vous ihren Höhepunkt. Niemals ist diese Szene besser beschrieben worden.

Unter dem Eindruck der Erfurter Begegnung wandelte sich Goethe zum „politischen Dichter“, freilich nicht zu einem oppositionellen Literaten. Er wurde der Dichter des Empire, das er freilich anders als Napoleon zu einem Empire des Friedens modelt. Goethes Gelegenheitsdichtungen an die österreichische Kaiserin Marie-Luise und Napoleons habsburgische Gattin Marie-Luise und die österreichische Kaiserin Maria Ludovica werden klug analysiert als politische Episteln über die Vision eines friedlich geeinten Europa. Napoleons Sturz im Jahre 1813 war für Goethe eine Katastrophe. Der Rußlandfeldzug erschütterte das geistige Fundament seiner Poesie. Fassungslos verfolgte er den Untergang seines Idols. Dem daraus folgenden romantisch-reaktionären Patriotismus-Diktat unterwarf er sich nicht. Er durchmusterte den neuen Weltzustand. Die Rückkehr zum alten, den der Wiener Kongreß betrieb, lehnte er ab. Er behauptete seine Weimarer Stellung und suchte neuen Einfluß in Berlin. Denn Friedrich Wilhelm III. war nun der mächtigste deutsche Fürst, ein Zwerg allerdings gegen Napoleon.

Das Buch über Goethes Berliner Ambitionen ist noch nicht geschrieben. Für das Berliner Königliche Theater am Gendarmenmarkt dichtete Goethe 1815 den bereits erwähnten „Epimenides“. Über seinen Freund Zelter ließ er sich über die Vorgänge berichten. Er entsandte seine Weimarer Schauspieler nach Berlin. Zur Eröffnung des neuen Schinkelschen Schauspielhauses brachte man seine „Iphigenie“ zur Aufführung, mit der Weimarerin Amalie Wolff in der Titelrolle. Ja, er schickte sogar einen neuen Prolog zur Eröffnung des Theaters, der eigentlich ein eigenes Monodram darstellte und Auguste Stich-Crelinger, der andre Star des Hauses, trug ihn vor. Berlin wurde darin als künftiger Musensitz gepriesen, als das neue geistige Zentrum Deutschlands nach dem Sturze Napoleons.

„So sind wir am Ziel nun: Er hat es gewollt,
Daß freudig geschehe, was Alle gesollt.“ 7

Wen meinte dieses „Er“? Napoleon, oder Friedrich Wilhelm IV. als dessen Erben? Der Dichter ließ es offen, aber die Vision der Universalmonarchie schrieb er ihm zu. Preußen erbte in der Tat den Weimarischen Bildungsanspruch, aber verhängnisvollerweise auch Napoleons militärischen Größenwahn mitsamt den bekannten Folgen.

Das Buch Seibts besteht aus zwei Teilen. In den ersten vier Kapiteln sichtet Seibt sein Material. Im zweiten Teil, der als fünftes Kapitel die Überschrift „Dieses Kompendium der Welt“ trägt, kommt die historische Erdenhaftung in Goethes Werk zur Sprache. Dieses Kapitel ist, leider muß man es feststellen, ein Torso geblieben. Weniges, darunter Goethes Übersetzung der Ode „Der fünfte Mai“ von Alessandro Manzoni, wird analysiert, ausführlicher „Dichtung und Wahrheit“ als Epochenbuch und apokryphe Erörterung der Empire-Problematik dargestellt, aber das Wichtigste ist nur gestreift: der „West-Östliche Divan“ und „Faust II“. Vielleicht drängte den Autoren die Zeit, vielleicht wäre es auch ein Schritt zu weit aufs literaturwissenschaftliche Glatteis gewesen. Seibt fragt vorsichtig, ob „Faust II“ nicht auch ein Napoleon-Buch wäre (S. 246). Ließe sich „Faust II“ als ein Kompendium der Zeitgeschichte lesen? Die Theater aktualisieren heute schamlos die Dichtung, indem sie sie auf das Prokrustes-Bett der Moderne spannen. Das führt zu Sensationen statt zum Verständnis. Seibt geht einen anderen Weg, der Einsichten ermöglicht, die nicht nur die Geschichte betreffen. Der Ost-Berliner Literaturwissenschaftler Gerhard Scholz versuchte vor Jahrzehnten in seinen Vorlesungen an der Berliner Humboldt-Universität eine geschichtsmaterialistische Deutung der Faust-Dichtung. 8 Er errichtete sein poetologisches Gebäude allerdings ohne die historische Fundierung, die das neueste Goethe-Buch liefert. Seibt andererseits scheint diesen östlichen Entwurf nicht zu kennen, vielleicht hätte er ihn ermutigt, den Torso seines „zweiten Kapitels“ zu vollenden und zugleich die Lücken in Scholz‘ gedankenreicher Poetologie zu füllen.

Anmerkungen:
1 Georg Knepler, Wolfgang Amadé Mozart. Annäherungen, Berlin 1991.
2 Gunthard Born, Mozarts Musiksprache – Schlüssel zu Leben und Werk, München 1985.
3 Wolfgang Heise, Hölderlin – Schönheit und Geschichte, Berlin 1988.
4 Hildegard Hammerschmidt-Hummel, Die verborgene Existenz des William Shakespeare, Freiburg 2001.
5 Sigrid Damm, Christiane und Goethe – eine Recherche, Frankfurt 1998.
6 W. Daniel Wilson, Geheimräte gegen Geheimbünde, Stuttgart 1991.
7 Goethes sämtliche Werke in 40 Bänden, 6. Bd. Stuttgart und Augsburg 1856, S. 427-438.
8 Gerhard Scholz, Faust-Gespräche, Leipzig 1983.