Titel
Historische Archäologie.


Autor(en)
Frommer, Sören
Reihe
Tübinger Forschungen zur historischen Archäologie
Erschienen
Büchenbach 2007: Dr. Faustus
Anzahl Seiten
S. 394
Preis
€ 45,00
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Natascha Mehler, Universität Wien

Sören Frommer hat sich mit dem Anliegen, die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit als eine geschichtswissenschaftliche Methode zu definieren und die Grundlagen des Faches zu überarbeiten einer äußerst schwierigen Aufgabe unterzogen. Zunächst sei der Inhalt der Arbeit zusammengefasst.1

Die Arbeit ist in drei große Teile gegliedert: Der erste Teil befasst sich mit einer Methodenanalyse der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit in Deutschland und stellt die theoretischen Grundlagen des Faches ausführlich dar. Im Anschluss daran leitet der zweite Teil, eine Analyse von Fachpublikationen hinsichtlich ihrer historischen Interpretationen, zum dritten und letzten Teil über, der Lösungen für die angesprochenen Probleme präsentieren und das Fachgebiet methodologisch umreißen soll.

Kapitel 1 widmet sich der Entstehung der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit und ihrer Standortpositionierung gegenüber der Geschichte bzw. Geschichtswissenschaft. Dabei konstatiert Frommer der Mittelalter- und Neuzeitarchäologie eine „Methodenlücke“ und einen „inhaltsleeren Konsens“ (S. 16–18), zwei Kernpunkte seiner Arbeit, und nimmt beide Missstände zum Anlass, die Methoden des Faches zu analysieren und zu kritisieren. Sprachlich differenziert er dabei zwischen der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit in ihrer bisherigen – nach Frommer traditionellen Ausrichtung – und der Historischen Archäologie, die für ihn eine geschichtswissenschaftliche Archäologie (S. 27) darstellt. Für sie verlangt er mit seiner Arbeit nach einer erkenntnistheoretischen Neuorientierung. Kapitel 2 behandelt die methodenorientierte Forschungsgeschichte und die Paradigmen der Ur- und Frühgeschichte im deutschsprachigen Raum und stellt diesen Entwicklungsverlauf der Geschichtswissenschaft gegenüber. Sein Überblick beginnt mit den Anfängen der prähistorischen Archäologie in der Mitte des 19. Jahrhunderts und setzt sich mit der Entstehung des Positivismus und seinem prägenden Einfluss auf die Archäologie fort. Es folgen Überblicke über die methodologischen Grundlegungen der traditionellen Ur- und Frühgeschichte, die Neuorientierung des Faches nach dem Zweiten Weltkrieg und die marxistisch geprägte Archäologie der DDR. Kapitel 3 beschäftigt sich mit Fragen nach Quellen und Methode in der Publikationspraxis der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit. Mit statistischen Auswertungen versucht Frommer zu ergründen, wie hoch der Anteil an Interpretation bei einigen ausgewählten Publikationen des Faches ist. Damit kritisiert er die reinen Materialvorlagen der traditionellen Archäologie, die oft nur „Abstraktion statt historischer Individualität“ zum Inhalt haben (S. 105). Als Grundlage für seine multivariaten Analyse dienen ihm elf Bücher, ein – wie er meint – repräsentatives Quellenspektrum. Zu Recht kritisiert er, dass Schriftquellen so gut wie nie mit Funden in Zusammenhang gebracht werden sondern fast immer mit Befunden (S. 124, 135). Dieses Kapitel – und damit auch der erste Teil der Arbeit, der der Kritik an der traditionellen Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit dient – endet mit einem Vorschlag einer „Systematik der historischen Quellen auf der Grundlage ihrer Materialität“ (Abb. 26).

Im zweiten Teil versucht Frommer, Lösungen für die angesprochenen Probleme näher zu kommen. Den ersten Vorschlag dazu liefert er in Kapitel 4, indem es darum geht, Hermeneutik und materielle Wirklichkeit zusammen zu führen, um eine archäologische Hermeneutik zu erarbeiten (S. 181). Auch hier beginnt er mit einer Wissenschaftsgeschichte der Hermeneutik und konzentriert sich dabei auf die Grundfragen der materiellen Hermeneutik. Da er die deutschsprachigen Theoriediskussionen in einer „semiotischen Sackgasse“ sieht (S. 171ff.), bietet Frommer als Lösung eine neue Formulierung an und spricht nun von „materieller Hermeneutik“, die er im Folgenden als historische Methode der Archäologie definiert (S. 208). Kapitel 5 setzt seine Ausführungen zur materiellen Hermeneutik fort. Hier lautet nun sein Ziel, die materielle Hermeneutik heuristisch zu komplettieren, und auch hierfür zieht er wieder die Statistik zu Hilfe. Hier wird das Buch erstmals praxisnäher und geht auf Aspekte wie z.B. Kulturschichten, Störungen und Verfüllungen ein. Wie im anderen statistischen Kapitel 3 erklärt er auch hier seine Methode der Datenaufbereitung, erläutert seine Faktorenanalyse und gibt die Datenbasis im Anhang wieder. Im Kapitel 6 untersucht Frommer den Umgang bzw. die Verwendung von Statistik in der traditionellen Mittelalter- und Neuzeitarchäologie, wobei er sich an der sozialwissenschaftlichen Praxis von statistischen Anwendungen orientiert. Frommer bemängelt, dass die erkenntnistheoretische Rolle der Statistik bislang wenig diskutiert wurde und fordert generell zur Verwendung statistischer Methoden auf. Mit Kapitel 7 schließt der zweite Teil der Arbeit. Hierin bespricht er die Auswertungsarbeit des Archäologen, den Weg der Funde und Befunde von der Grabung zur Publikation. Er kritisiert einige Beispiele von subjektiver Befunddokumentation als eines der Probleme bei Grabungen, fordert eine Standardisierung von Befundbeschreibungen und konstatiert der Denkmalpflege eine strukturelle Überforderung. Für ihn hat die historische Quellenwerterschließung drei Grundaufgaben zu erfüllen: Kohärenz, Korrespondenz und Ausschöpfung.

Nach diesen oft sehr ausschweifenden Ausführungen will der Autor mit seinen Kapiteln 8 und 9, die den dritten und letzten Teil der Arbeit bilden, seine Ergebnisse darlegen. Frommer versucht hier, sein Verständnis von Historischer Archäologie zu definieren. In Kapitel 8 geht es noch einmal um die Publikationspraxis. Archäologische Arbeiten stellen für ihn mikrogeschichtliche Arbeiten dar, sie sollten allerdings zur Makrogeschichte beitragen. In Kapitel 9 definiert er nun sein Verständnis von Historischer Archäologie. Für ihn ist sie die paradigmatische Weiterentwicklung aus der traditionellen Archäologie und hat die Aufgabe, aus Materie Geschichte zu machen. Sie unterscheidet sich von der Ur- und Frühgeschichte, die für ihn einen begrenzten Aussagegehalt vor allem für die vorneolithischen Zeiten hat (S. 340f.), in der Qualität der integrativen Heuristik. Somit definiert er Historische Archäologie folgendermaßen: „Historische Archäologie ist die auf der Grundlage materieller Kontexte arbeitende Geisteswissenschaft“ (S. 341). Frommer endet mit Vorschlägen von historischen Methoden zur Quellenwerterschließung archäologischer Kontexte und ruft zur Diskussion auf.

Was Frommer mit Historischer Archäologie meint, wird zunächst nur aus dem Kontext klar: Es geht offenbar um die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit, doch im Verlauf der Arbeit wird deutlich, dass der Autor sich tatsächlich fast ausschließlich auf die Mittelalterarchäologie konzentriert und die Neuzeitarchäologie mit ihren teilweise unterschiedlichen Prämissen und methodischen Bedürfnissen außer Acht lässt. Wenn Frommer mit der Bezeichnung „Historische Archäologie“ eine direkte Übersetzung der „Historical Archaeology“ im Sinn hat – und dies bleibt leider ungeklärt – fehlt zunächst ganz klar die Abgrenzung bzw. Herausstellung der Gemeinsamkeit zur anglo-amerikanischen Perspektive auf das Fach. Dies ist dann besonders wichtig, wenn man eine neue bzw. junge Bezeichnung (Historische Archäologie) für ein etabliertes Fach (Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit) verwendet, welche sich im deutschsprachigen Europa noch nicht zufriedenstellend durchgesetzt hat. Frommer blickt zwar hin und wieder auf anglo-amerikanische Beiträge, jedoch kaum aus dem Bereich der „Historical Archaeology“. Auch wenn die „Historical Archaeology“ in einigen Bereichen andere Schwerpunkte als die Historische Archäologie setzt: Viele Aspekte, die Frommer in seiner Arbeit zu Recht kritisiert (z.B. die „Methodenlücke“), wurden dort bereits vor Jahrzehnten angesprochen.2 Solche und andere inhaltlichen Stolpersteine erschweren es dem Leser, einen Einstieg in das Buch zu finden und die vielen sprachlichen Unebenheiten erlauben bis zum Schluss keinen wirklichen Zugang.

Zur formalen Gestaltung des Buches ist anzumerken, dass dem Buch deutlich das Fehlen einer professionellen Text- und Bildredaktion anzumerken ist. Dadurch hätten viele Satz- und Layoutfehler, zu kleine Abbildungen und widersprüchliche bzw. unklare Textpassagen vermieden werden können.

Sören Frommer hat, wie er selbst anmerkt (S. 30f.), eine polarisierende Arbeit verfasst. Seinen Denkansätzen, Interpretationen und Kritiken zu folgen ist die Entscheidung eines jeden Lesers. Vieles ist nicht neu, sondern lediglich anders formuliert. Trotzdem ist es ein mutiges Werk, das in Teilen Impulse für die stockenden Methoden- und Theoriediskussionen, unter denen die Historische Archäologie nach wie vor leidet, liefern kann. Oftmals bietet Frommer gute Überblicke (z.B. Forschungsgeschichte, Statistik) und kritische Stellungnahmen. Für eine wirkliche Grundlegung der Historischen Archäologie fehlen dem Buch neben durchschlagenden neuen Ideen vor allem eine klare Vermittlung der Ergebnisse und die notwendige Leichtigkeit eines Klassikers. Ob es ein Versuch zur Grundlegung des Faches ist, wie der Titel verspricht, muss der Leser selbst entscheiden. Das Buch kann immerhin als Versuch gewertet werden, die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit zu einer prozessualen und vielleicht auch postprozessualen Archäologie weiterzuentwickeln.

Anmerkungen:
1 Kurzfassung: Sören Frommer, Historische Archäologie. Versuch einer methodologischen Grundlegung der Archäologie als Geschichtswissenschaft. Archäologisches Nachrichtenblatt 4/12, (2007), S. 356-360.
2 Siehe z.B. Kathleen A. Deagan, Neither History Nor Prehistory: the Questions that Count in Historical Archaeology. In: Historical Archaeology 22/1 (1988), S. 7-12.

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