M. Lange: Antisemitic Elements in the Critique of Capitalism

Titel
Antisemitic Elements in the Critique of Capitalism in German Culture, 1850-1933.


Autor(en)
Lange, Matthew
Reihe
German Life and Civilization
Erschienen
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
€ 69,10
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Wyrwa, z. Zt. Gastprofessor am Fritz-Bauer-Institut an der Goethe Universität Frankfurt am Main

Mit seiner an der University of Wisconsin, Madison, vorgelegten Dissertation über die antisemitischen Motive in der Kapitalismuskritik von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Untergang der Weimarer Republik hat Matthew Lange ein Thema aufgegriffen, dass für die weiteren Perspektiven der Antisemitismusforschung von zentraler Bedeutung ist. Tatsächlich ist die Ablehnung der Marktordnung als wesentliches Motiv der antisemitischen Bewegung in der bisherigen Antisemitismusforschung sträflich vernachlässigt worden.

Treffend setzt Lange mit einer genauen Lektüre des Romans „Soll und Haben“ (1855) von Gustav Freytag ein, den er als Versuch deutet, das Bürgertum vor den destruktiven Kräften des Laissez-faire-Kapitalismus zu warnen. Ohne ein eindimensionales Schwarz-Weiß-Bild zu malen, nutzte Freytag dabei Judenfiguren als Träger aller negativen Seiten der kapitalistischen Marktwirtschaft. Ebenso subtil leuchtet Lange die antisemitischen Motive in der Erzählung „Das Volk und seine Treiber“ (1859) von Rudolf Ludwig Oeser alias Otto Glaubrecht aus. Auch in dem für die weitere Entwicklung des antisemitischen Literatur so zentralen Werk des Erzählers Hermann Goedsche, alias John Retcliff, dessen Szene auf dem jüdischen Friedhof in Prag später in die fiktiven “Protokolle der Weisen von Zion“ einging, spürt Lange den antikapitalistischen Motiven nach. Er beschränkt sich indes nicht auf belletristische Quellen, sondern zieht auch wirtschaftspolitische Schriften heran, so die Abhandlungen des Nationalökonom und Finanzwissenschaftlers Adolf Wagner oder den in Folge der Börsenkrise von 1873 entstandenen politischen Pamphleten wie etwa Constantin Frantz Schrift „Nationalliberalismus und Judenherrschaft“ (1874). Zu Recht stellt Lange das Jahr 1879, in dem der Begriff Antisemitismus geprägt wurde, als einen Wendepunkt dar, für den er nicht nur die Reden von Adolf Stoecker und die in ihnen enthaltenen kapitalismuskritischen Motive heranzieht, sondern auch die vielfältigen antimarktwirtschaftlichen Tendenzen in der sich formierenden antisemitischen Bewegung. Von zentraler Bedeutung sind die sozialkritischen Impulse vor allem in der antisemitischen Agitation des hessischen „Bauernkönigs“ Otto Böckel. Nachdem Lange für die Zeit der Gründungskrise Otto Glagaus Haltung nachgezeichnet hatte, spürt er auch in den Erzählungen von Arw Solano die kapitalismuskritischen Motive auf, ebenso in dem tragikomischen Lustspiel „Der Wucherer“ von Fritz Claus (1890), der Erzählung „Bauer und Jude“ von Clemens Kreisau (1891) oder dem Schauspiel „Itzig der Wucherer“ von Jacob Hubert Schütz (1900), um nur einige der zahlreichen, von Lange herangezogenen belletristischen Schriften zu nennen. Schließlich macht Lange auch auf die antisemitischen Züge in der frühen Erzählung von Heinrich Mann „Im Schlaraffenland“ aufmerksam. Breiten Raum nehmen notwendigerweise die sozialkritischen und wirtschaftshistorischen Studien von Werner Sombart ein, deren antisemitische Motive Lange präzise herausarbeitet.

Für die Zeit der Weimarer Republik analysiert Lange die vor allem durch die sozialen und wirtschaftlichen Erschütterungen des Ersten Weltkrieges hervorgerufenen antikapitalistischen Züge in der zeitgenössischen Belletristik, wobei er insbesondere Artur Dinters Roman „Die Sünde wider das Blut“ (1918), oder die Werke der Schriftstellerin Edith Freifrau Krieg von Hochfelden, geb. Gräfin Salburg-Falkenstein, insbesondere die im einschlägig bekannten Hammer-Verlag erschienenen Schriften „Hochfinanz. Psyche des Geldes“ (1918) und die „Erinnerungen eine Respektlosen. Ein Lebensbuch“ (1927). Ferner geht er auf den Autor Franz Schrönghamer-Heimdal ein, unter dessen zahlreichen antisemitischen Schriften Lange vor allem das Werk „Kapitalismus. Sein Wesen, seine Wirkung und seine Wandlungen zum Wohlstand Aller“ (1919) untersucht. Zum Abschluss seiner Analyse der kapitalismuskritischen Motive in der antisemitischen Literatur zieht Lange eine Reihe von diesbezüglichen Publikationen aus der Frühzeit der nationalsozialistischen Bewegung heran, unter anderem Goebbels Roman „Michael“ (1929).

Wie es bei neuen, richtungweisenden Arbeiten – und um eine solche handelt es sich in diesem Fall zweifellos – nicht anders zu erwarten, so regt auch diese Studie weitere Fragen und Überlegungen an. Auf zwei Aspekte, die in Langes Studie zu kurz kommen, sei abschließend aufmerksam gemacht. Tatsächlich stellten die sozialen Verwerfungen und ökonomischen Umwälzungen, die mit der Entstehung der kapitalistischen Marktordnung einhergingen, die Menschen mentalitätsgeschichtlich und sozialpsychologisch vor ungeahnte und bis dato gänzlich unbekannte Anforderung. Sie waren in ihrem sozialen Verhalten und ihren ökonomischen Wertvorstellungen noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts ganz wesentlich von der überlieferten Subsistenzökonomie der vorkapitalistischen Gesellschaft, dem Prinzip der gerechten Nahrung und den Imperativen der „moral economy“, geprägt, die in fundamentalem Gegensatz zu den moralischen Imperativen des freien Marktes standen, ein Zusammenhang, auf den Lange jedoch nicht eingegangen ist. Gerade an Hand der Entstehung des Antisemitismus zeigt sich, dass vor allem diejenigen sozialen Klassen, die von den sozioökonomischen Umwälzungen, die mit der neuen Marktordnung zusammenhingen, am stärksten betroffen waren, und die innerhalb oder jenseits des Kapitalismus keine Zukunftsperspektive mehr sahen, sich in ihrem Protest gegen die Marktwirtschaft auf die Vergangenheit bezogen und an den Maximen der untergehenden Subsistenzökonomie festhielten. Dies gilt insbesondere für Handwerksmeister, die bäuerliche Bevölkerung und Teile des alten Stadtbürgertums. David Peal hat in seiner beeindruckenden Studie über Otto Böckel herausgearbeitet, wie gerade die hessischen Kleinbauern an den Werten der überlieferten „moral economy“ festhielten und dass aufgrund dieser Einstellung ein antisemitischer Agitator wie Böckel einen so großen Erfolg erzielen konnte. Peal sprach daher sehr prägnant von einem „clash of economic mentalities“, der dem Erfolg der antisemitischen Agitation Böckels zu Grunde lag. Insofern wäre es für die weitere Antisemitismusforschung von zentraler Bedeutung, diesem Zusammenstoß der wirtschaftlichen Einstellungen nachzugehen.1

In diesem Kontext wäre auch der „cultural lag“ des Mittelstandes genauer zu analysieren, und zu klären, wie deren antisemitische Einstellung aus der Unfähigkeit hervorging, mit den Anforderungen, die die neue Marktordnung an sie stellte, fertig zu werden. Die Arbeiterbewegung, so ließe sich ergänzend zu den Ergebnissen von Lange festhalten, war auch deswegen in ihrer Kapitalismuskritik nahezu frei von antisemitischen Haltungen, weil sie für sich jenseits der vorindustriellen, traditionellen Wirtschaftsgesinnung in der Idee der klassenlosen Gesellschaft eine neue Zukunftsperspektive entworfen hatte.

Wenn durch die Konzentration auf die sozio-ökonomischen Umwälzungen und mentalitätsgeschichtlichen Anforderungen, die mit dem Aufkommen und der Durchsetzung der kapitalistischen Marktordnung verbunden waren, für die Erklärung des Antisemitismus neue Wege sich bieten, und Kapitalismuskritik damit zu einem zentralen Motiv in der Geschichte der antisemitischen Bewegung wird, so liegt zweitens eine zentrale Frage darin, wann und wo Kapitalismuskritik in Antisemitismus umschlägt. Wirtschaftliches Handeln ist immer mit moralischen Einstellungen verknüpft, Ethik und Ökonomie sind nicht voneinander zu trennen, ein Zusammenhang, den Lange in seiner Studie nicht hinreichend bedacht hat. Angesichts der neuen Perspektiven der Antisemitismusforschung, die in der von Lange vorgeschlagenen Rekapitulation der zeitgenössischen Kapitalismuskritik liegen, stellt es sich als eine zentrale Aufgabe dar zu bestimmen, wann und unter welchen Bedingungen moralische Urteile gegen spezifische wirtschaftliche Praktiken, wie sie mit innerer Notwendigkeit jeder Kapitalismuskritik inhärent sind, in antisemitische Phantasmagorien umschlagen.

Das Wuchermotiv zum Beispiel ist eines der zentralen Topoi der antisemitischen Rhetorik und zugleich eines der langlebigsten und hartnäckigsten Stereotype der Judenfeindschaft. Lange hat dies nicht zuletzt an Hand der genannten Schauspielstücke gezeigt. In der Antisemitismusforschung finden sich unzählige weitere Belege dafür, wer, wann und wo sich dieses Motiv bedient hat. Vergleichsweise selten aber ist danach gefragt worden, wie das Kreditsystem konkret abgelaufen ist, wie die Vergabe von Kleinkrediten abgewickelt wurden, und wie dieses Motiv zu einem antisemitischen Schlagwort werden konnte.

Im Übergang von der Subsistenz- zur Marktwirtschaft und mit der Einführung der Gewerbefreiheit waren Verschuldungen und Zwangsversteigerungen gravierende soziale Probleme. Eine wichtige Aufgabe der Antisemitismusforschung bestände somit darin, nicht die Kritik an der Praxis von Kreditvergaben schon für Antisemitismus zu nehmen, sondern danach zu fragen, wie daraus antisemitisches Kapital geschlagen wurde. Die sozialen Konflikte, die mit der Umwälzung der gesamten Ökonomie und der Durchsetzung der kapitalistischen Marktwirtschaft einhergingen, wären also ernst zu nehmen, ein Aspekt, den schon Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ in dem Satz zusammengefasst haben, dass die antisemitische Agitation den Juden „das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet“ habe.2 Auch wenn Lange sich gegen derartige moralische Urteile verwahren würde, bietet seine Studie über die Kapitalismuskritik in der Deutschen Kultur der Antisemitismusforschung gleichwohl neue Perspektiven.

Anmerkungen:
1 David Peal, Antisemitism and Boeckel in Kurhessen, 1880-1914, Columbia Univ. 1985, S. 102.
2 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 205.

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