J. Kiepe: Das Reservepolizeibattaillon 101 vor Gericht

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Titel
Das Reservepolizeibattaillon 101 vor Gericht. NS-Täter in Selbst- und Fremddarstellungen


Autor(en)
Kiepe, Jan
Erschienen
Hamburg 2007: LIT Verlag
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Dierl, Freie Universität Berlin

Im Gefolge der in den 1990er-Jahren intensivierten öffentlichen Debatte um die Ursachen des Holocaust und die Verantwortung der Deutschen hat sich in der Geschichtswissenschaft die so genannte neuere NS-Täterforschung etabliert, welche insbesondere die Frage nach der „subjektiven Sinndimension der Shoa“ (Gerhard Paul) zu ihren Erkenntnisinteressen zählt. Bis heute gilt Christopher Brownings Studie zu den Kriegsverbrechen des Hamburger Ordnungspolizei-Bataillons 101 als wegweisend für diese Forschungsrichtung: Lenkte Browning doch nicht nur den Blick auf eine bis dahin weitgehend unbekannte Tätergruppe des „Dritten Reichs“, sondern bot mit seinem Ansatz, welcher die Kontextgebundenheit des Täterhandelns betonte, eine fruchtbare konzeptionelle und methodische Anregung für weitere Untersuchungen.

Die an der Universität Göttingen vorgelegte Magisterarbeit von Jan Kiepe befasst sich nochmals mit den Angehörigen des Reserve-Polizeibataillons 101 und analysiert die juristische Aufarbeitung ihrer Verbrechen im Rahmen des 1967/68 geführten Ermittlungs- und Strafverfahrens am Landgericht Hamburg. Kiepe zieht hierbei überwiegend denselben Quellenbestand heran wie zuvor bereits Christopher Browning und später Daniel Jonah Goldhagen in ihren Werken.1 Ihm geht es freilich darum, die Ursachen und die Genese des Verfahrens nachzuvollziehen und in diesem Kontext die „Fremd- und Selbstdarstellungen“ der Angeklagten zu deuten. Sein Ziel ist es, an einem konkreten Beispiel die fatale Praxis der „Gehilfenrechtsprechung“ in den 1960er-Jahren aufzuzeigen, die häufig zu keiner oder nur einer relativ milden Bestrafung der unmittelbar am Holocaust beteiligten Täter führte.

Die einseitige Fixierung der Strafverfolgungsbehörden auf die „Schreibtischtäter“ in vorangegangenen Prozessen und die Schwierigkeit, die „Direkttäter“ zumeist nur anhand von Zeugenaussagen überführen zu können, habe – so Kiepes These – häufig eine angemessene Ahndung der NS-Verbrechen behindert. Insbesondere habe die starre Einordnung der Taten in das „ermittlungstechnische wie auch juristische Konstrukt“ des „Organisationsverbrechens“ eher „wahrnehmungsverhindernd“ für die „Andersartigkeit der ‚Direktverbrechen’“ (S. 16f.) gewirkt und es so den Ermittlern und den Gerichten erschwert, die Entlastungsversuche der Beschuldigten zu entkräften. Um zu zeigen, wie die Akteure durch ihr Verhalten das Strafverfahren beeinflussten, beschreibt Kiepe dessen Verlauf und sucht dabei vor allem die Verteidigungsstrategien der beiden Hauptangeklagten Wolfgang Hoffmann und Julius Wohlauf sowie die Beweisführung der Polizei und der Staatsanwaltschaft zu rekonstruieren.

Durch die mikrogeschichtliche Perspektive erhofft sich der Autor Aufschluss darüber, in welchem Maße damals gängige Interpretationsmuster und stereotype Vorstellungen vom Holocaust – etwa als „Maschinerie der Endlösung“ – von den Verfahrensbeteiligten aufgegriffen und zum Bezugspunkt für die Einordnung der individuellen Verbrechenstatbestände in den Gesamtprozess der Vernichtung der Juden genommen wurden. Die Arbeit will veranschaulichen, wie durch die juristische „Vergangenheitsbewältigung“ das Bild von den Tätern als „Rädchen im Getriebe“ im öffentlichen Bewusstsein verfestigt und damit auch die Tendenz zur Selbst-Entlastung innerhalb der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft verstärkt wurde.

In der in fünf Teilkapitel gegliederten Studie werden eingangs als Kontextinformation der organisatorische Aufbau der Ordnungspolizei im „Dritten Reich“ und deren schrittweise Militarisierung und weltanschauliche Radikalisierung im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs skizziert. Dem Aufriss der Befehlsstrukturen in den östlichen Besatzungsgebieten folgt eine knappe Darstellung des Kriegseinsatzes des Bataillons. Anhand der Forschungsliteratur und von Prozessakten referiert Kiepe insbesondere die Mitwirkung des Polizeibataillons 101 an Vertreibungen, Deportationen und Mordaktionen gegen die jüdische Bevölkerung im besetzten Polen, denen zwischen 1939 und 1943 über 80.000 Menschen zum Opfer fielen.

Das problematische politische Umfeld, in dem die Strafverfolgung der NS-Täter in den ersten beiden Dekaden der Bundesrepublik stattfand, wird im zweiten Kapitel deutlich: In einem gesellschaftlichen „Klima der Kaltschnäuzigkeit“ (Norbert Frei) profitierten die ehemaligen Angehörigen der Ordnungspolizei sowohl von der erleichterten Rückkehrmöglichkeit in den Staatsdienst, als auch von dem zunächst spürbar abnehmenden Verfolgungswillen der bundesdeutschen Justiz. Während der 1950er-Jahre kam es lediglich in einem Fall zur Gerichtsverhandlung gegen Angehörige eines Polizeibataillons (Pol. Bat. 61) – und dieser Prozess endete mit einem skandalösen Freispruch. Zudem behinderte die außenpolitische Konfrontation im Kalten Krieg oft eine wirkungsvolle kriminalistische Aufklärung über die Staatsgrenzen von West und Ost hinweg. Die Hochphase der NSG-Verfahren in den 1960er-Jahren stand im Zeichen des vergangenheitspolitischen Kompromisses und das Agieren der Verfahrensbeteiligten war von der immer wieder in Politik und Gesellschaft erhobenen Forderung nach einem „Schlussstrich“ unter die „unheilvolle“ Vergangenheit mit beeinflusst.

Auch den Angehörigen des Polizeibataillons 101 suchte man Beihilfe zum Mord nachzuweisen, wobei sich die Ermittler mangels anderer verfügbarer Zeugen vor allem auf die Vernehmung der tatbeteiligten Polizisten stützen mussten. So war es besonders schwierig, das „Kartell des Schweigens“ aufzubrechen und aus dem Geflecht der „strategischen“ Erinnerungen, Ausflüchte und Lügen allmählich jene Detailinformationen herauszufiltern, die eine Zuordnung der individuellen Tatbeiträge zu den Verbrechen ermöglichten. Die Vernommenen reagierten in unterschiedlicher Weise auf die erzwungene Konfrontation mit ihrem damaligen Handeln. Ihnen allen gemeinsam war jedoch die Verweigerung jeglicher Empathie gegenüber den Opfern. Vielmehr präsentierten sich die Täter, wenn sie ihr Wissen und ihr Mitwirken am Massenmord nicht leugnen konnten, als schablonenhaft agierende und selbst dem Zwang des NS-Regimes unterworfene „Soldaten“, die vor allem ihr eigenes Leiden im Krieg und die Belastungen in ihrem späteren Lebensschicksal herausstellten. In den Verhören wie später während des Strafprozesses immer wiederkehrende Topoi spiegelten die noch immer geringe innere Distanz der Ex-Polizisten zu ihrer früheren Rolle wider. Allerdings bezogen sich auch Staatsanwälte und Richter bei der Bewertung der Verbrechen auf die Darstellung des Holocaust als einen bürokratisch-technischen „Vorgang“ – mit der Konsequenz, dass die Angeklagten im Gerichtsurteil vor allem aufgrund ihrer formalen Stellung in der Befehlsstruktur zur Verantwortung gezogen wurden und man den Polizisten mit niederen Rängen durchweg den „Befehlsnotstand“ als strafmildernd zubilligte. Diese zumindest partielle Aneignung der konstruierten Selbstbilder der Angeklagten durch das Gericht musste um so fragwürdiger erscheinen, als im Prozess einige Bataillonsangehörige auch ihr abweichendes Verhalten in der damaligen Situation bekundet hatten: sei es, dass sie sich ohne Strafe den Tötungsbefehlen entzogen, sei es, dass sie nach eigenem Eingeständnis freiwillig an den Erschießungen teilnahmen. Das relativ milde Urteil bestätigte letztlich einmal mehr, wie gering der Willen in der bundesdeutschen Justiz war, einen energischen Beitrag zur strafrechtlichen Selbstaufklärung der Deutschen zu leisten.

Kiepe gelingt es in seiner Arbeit, die begrenzten Aufklärungsmöglichkeiten in einem rein täterzentrierten Ermittlungs- und Strafverfahren aufzuzeigen und die Sterilität eines objektivierenden, vorwiegend an juristischen Schuldkriterien orientierten Täterdiskurses zu verdeutlichen. Dabei reflektiert Kiepe durchaus kritisch den Aussagewert des von ihm herangezogenen Dokumentenmaterials. Allerdings erscheint es fraglich, ob mit solcherart absichtsvoll produzierten Quellen tatsächlich eine Rekonstruktion der authentischen „verfahrensinternen Öffentlichkeit“ möglich ist, wie es der Autor vorgibt, oder ob hier nicht ungewollt der offiziöse Blick der Hamburger Behörden auf das Verfahren reproduziert wird.

Hilfreich wäre es zudem gewesen, die Plausibilität der Selbst- und Fremddarstellung der Angeklagten vor Gericht stärker zu dekonstruieren und mit den Erkenntnissen der jüngeren historischen und sozialpsychologischen Forschung zu den Handlungsspielräumen von NS-Gewalttätern zu konfrontieren; belegen diese doch, dass auch die „willigen Vollstrecker“ so gut wie nie in „blindem“ Gehorsam handelten, sondern individuelle Entscheidungen in einem Spektrum unterschiedlicher, wenngleich oft situativ bedingter, Präferenzen trafen. Gleichwohl bietet Kiepes Studie einen interessanten Einblick in die bislang nur selten untersuchte innere Dynamik im Ablauf eines NS-Strafverfahrens.2 Sie erweitert in willkommener Weise die Forschung, die sich um eine historische Kontextualisierung der juristischen Aufarbeitung des NS-Unrechts in der Bundesrepublik Deutschland bemüht.

Anmerkungen:
1 Christopher R. Browning, “Ganz normale Männer”. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die “Endlösung” in Polen, Reinbek 1993; Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.
2 Helge Grabitz, Täter und Gehilfen des Endlösungswahns. Hamburger Verfahren wegen NS-Gewaltverbrechen 1946-1996, Hamburg 1999; Freia Anders / Hauke-Hendrik Kutscher / Katrin Stoll (Hrsg.), Bialystok in Bielefeld. Nationalsozialistische Verbrechen vor dem Landgericht Bielefeld 1958 bis 1967, Bielefeld 2003.

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