M. Stibbe: British Civilian Internees in Germany, 1914-1918

Cover
Titel
British Civilian Internees in Germany. The Ruhleben camp, 1914-1918.


Autor(en)
Stibbe, Matthew
Erschienen
Anzahl Seiten
210 S.
Preis
£ 14.99
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Uta Hinz, Universität Düsseldorf, Historisches Seminar

Eine Geschichte der Zivilinternierung während des Ersten Weltkrieges in Deutschland ist bis heute ein Desiderat der historischen Forschung. Der Forschungsstand gleicht einem Puzzle mit großen Lücken und vielfach noch unverbundenen Teilen. Matthew Stibbes gründlich recherchierte Monographie zum zeitgenössisch bekanntesten deutschen Zivilinternierungslager, dem "Engländerlager" Ruhleben bei Berlin, ist schon deshalb ein wichtiges Buch. Hervorzuheben ist auch Stibbes einleitende kritische Gesamtsicht der internationalen Trends historiographischer Auseinandersetzung mit der Internierungspolitik 1914-1918. So diskutiert er migrationsgeschichtliche Ansätze, die den Umgang mit 'feindlichen Ausländern' im Krieg quasi als Sonderfall staatlicher Restriktionspolitik einordnen, die Bedeutung von "war cultures" aber zu wenig beleuchten (S. 6f.). Kritisch bewertet er auch den im Konzept der "culture de guerre" verorteten Ansatz, der sich in den letzten Jahren auf Deportation und Besatzungspolitik konzentrierte. Hier sieht Stibbe die Gefahr einer zu starken Zuspitzung im Sinne einer linear verlaufenen Totalisierung (S. 7-9). Vor diesem Hintergrund formuliert der Autor ein zentrales Ziel seiner Studie: Differenzierung. Gleich eingangs verweist Stibbe auf die großen Unterschiede selbst von Lager zu Lager (S. 11). Er betont insbesondere, dass Internierungspolitik und -praxis stets auch von äußeren Rahmenbedingungen beeinflusst waren: der Zahl der Internierten, der Politik des Heimatstaates sowie der internationalen Aufmerksamkeit bzw. Kontrolle, der ein Lager unterlag. Stibbe wählt mit der Konzentration auf ein einzelnes Lager einen kleinräumigen Untersuchungsansatz. Eine umfassende Darstellung zur Zivilinternierung in Deutschland ist nicht intendiert. Stattdessen sollen individuelle und kollektive Internierungserfahrungen in einer lokalen, nationalen wie internationalen Perspektive analysiert werden. Stibbe zielt auf die Rekonstruktion der "intimate dimension of the war" in ihrem spezifischen historischen Kontext (S. 12f.). Der Fokus liegt auf der Wahrnehmungs- und Erfahrungsebene. In Ruhleben, so die These, bildete sich eine "imagined community" mit ganz eigenen Formen der Selbstrepräsentation aus (S. 2). Deren Entwicklung und Ausformung lagen Kommunikationsprozesse zugrunde, in denen die britische Politik gegenüber ihren internierten Staatsangehörigen – im wie nach dem Krieg – einen entscheidenden Faktor darstellte.

Aufbau und Gliederung der quellengesättigten Studie folgen dem formulierten Ansatz. Einer einordnenden Darstellung der Rahmenbedingungen und Grundlinien deutscher Internierungspolitik 1914-1918 (Kapitel 1) folgt eine detaillierte Geschichte des Lagers bis zu seiner Auflösung (Kapitel 2 bis 5). Das Schlusskapitel untersucht die individuelle wie kollektive erinnerungsgeschichtliche Bedeutung Ruhlebens.

Das Kapitel zur deutschen Internierungspolitik 1914-1918 unternimmt zunächst eine wichtige Einordnung Ruhlebens in das deutsche Lagersystem. So weist Stibbe auf die entscheidende Tatsache hin, dass die große Mehrheit der insgesamt bis Oktober 1918 in deutsche Lager verbrachten mehr als 111.000 (!) Zivilpersonen gerade nicht als 'feindliche Ausländer' interniert, sondern im Krieg aus den besetzten Gebieten in Belgien, Frankreich und Russland deportiert wurden (S. 23). Das 'Engländerlager' mit seinen bis März 1915 rund 4000 internierten britischen Staatsbürgern besaß aber nicht nur deshalb einen Sonderstatus, weil es kriegsökonomisch keine Rolle spielte. In direkter Nachbarschaft zur Hauptstadt Berlin gelegen stand Ruhleben außerdem seit 1914 im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Aus beiden Faktoren begründet Stibbe einen weiteren zentralen Punkt: Die Lebensbedingungen waren in Ruhleben durchgängig deutlich besser als in allen übrigen Lagern (S. 23f.). In der Folge konzentriert sich das Kapitel auf die soziale Struktur der britischen Staatsbürger in Deutschland und die Ursachen ihrer Internierung. Auf der Basis intensiver Quellenrecherchen wird gezeigt, dass die im November 1914 durchgeführte Internierung nicht militärisch, sondern propagandistisch und politisch motiviert war (S. 32-37). Dienten die britischen Staatsbürger doch als Faustpfand für Verhandlungen bezüglich der durch die britische Regierung internierten 26.000 Deutschen (S. 24).

Die Kapitel 2-4 zeichnen anschließend eine ebenso komplexe wie differenzierte Innenansicht des Lagers. Sie thematisieren nicht allein jene 'klassischen' Felder des Lagerwesens, die für die (militärischen) Kriegsgefangenenlager bislang schwerpunktmäßig untersucht wurden: Ernährung und Gesundheitsfürsorge, Strafmaßnahmen und Repressalien, Lagerkultur und Hilfsmaßnahmen. Vielmehr werden Lagerkultur und -gesellschaft konsequent entlang des eingangs postulierten erfahrungsgeschichtlichen Ansatzes analysiert, als Form und Ausdruck spezifischer kollektiver Identitätsbildung im Kontext einer besonderen Kriegssituation (S. 79f.). Methodisch differenziert und sehr anschaulich arbeitet Matthew Stibbe die demonstrative Kultivierung einer 'british culture' heraus, als deren konstitutiven Kern er einen "sense of 'civic pride'" identifiziert (S. 92). Kultur- und Sportveranstaltungen, die lagerinterne Selbstorganisation und selbst ein 'Ruhlebenlied' dienten der soziokulturellen Selbstvergewisserung und fungierten als Integrationsklammer der heterogenen Lagergesellschaft. Ausformung und Struktur der gruppenspezifischen Identitätsbildung standen zugleich in enger Beziehung zu Prozessen der Außenkommunikation. Wie überzeugend gezeigt wird, diente sie der kulturell-politischen Abgrenzung vom deutschen System militaristischer und obrigkeitsstaatlicher Prägung (z.B. durch Akte demokratischer Verfahren in der Selbstorganisation). Sie war zugleich aber auch Reaktion auf eine als gleichgültig empfundene britische Politik. Die durchaus schwierige Beziehung zwischen Internierten und ihrem Heimatstaat vertieft Stibbe in Kapitel 4. Er beschreibt, wie sich materielle und symbolische Unterstützung in Großbritannien zunächst ganz überwiegend privat organisierte. Der Regierung in London galten die britischen Staatsbürger in Ruhleben noch 1915 als quasi 'Deutsche', die für ihr Schicksal überwiegend selbst verantwortlich waren (S. 113-115). Erst 1916 wurde ihr Zwangsaufenthalt im Lager als eine Form von Kriegsdienst anerkannt und in der Folge die gröbsten materiellen wie rechtlichen Benachteiligungen gegenüber kriegsgefangenen Soldaten abgebaut. Eine Gleichstellung erlebten die Internierten von Ruhleben aber weder im noch nach dem Krieg (S. 117-119), was die Selbstwahrnehmung als 'community' sicherlich mindestens verstärkte. Die faktischen Grenzen der 'imagined community' blendet Matthew Stibbes Innenansicht der Lagergesellschaft nicht aus (Kapitel 3). Auch in diesem Punkt argumentiert er differenziert. Individuelle psychische Probleme und soziale Spannungen werden ebenso ausführlich dargestellt wie im Lager bestehende Hierarchien, die soziale und ethnische Diskriminierungen der britischen Gesellschaft im Internierungsalltag reproduzierten (S. 97-99). Trotzdem ist für ihn die 'Ruhleben-community' weit mehr als ein Nachkriegskonstrukt (S. 104).

Die Auseinandersetzung mit der Internierungserfahrung nach 1918 beleuchtet Stibbe abschließend näher. Er zeigt dabei die Schwierigkeit des individuellen wie kollektiven Umgangs mit einer neuen Kriegserfahrung. Schon bald nach Kriegsende wich das öffentliche und politische Interesse an Ruhleben dem Vergessen. Das Lager wurde nie wirklich Bestandteil der britischen Erinnerungskultur (S. 162). Dieses Ergebnis deckt sich mit dem Befund einer (Selbst-)Marginalisierung, den die Forschung für kriegsgefangene Soldaten festgestellt hat. Das Kriegserlebnis im Lager musste angesichts der Leiden und Opfer der Frontsoldaten verblassen (S. 171). Auch unter den ehemals Betroffenen überwog eine Deutung der "relativity of their suffering", eine Art Scham angesichts erzwungener Untätigkeit (S. 176). Besonders eindrucksvoll arbeitet Stibbe diese individuellen Nachwirkungen jahrelanger Internierung heraus, verweist auf vielfachen Rückzug und Schweigen (S. 164f.). Es war nur eine kleine aktive Minderheit, welche die Erinnerung an Ruhleben kultivierte – und sie blieb weitgehend unter sich.

Matthew Stibbe leistet eine insgesamt ebenso komplexe wie differenzierte Gesamtdarstellung zum Lager Ruhleben, der nur wenig hinzuzufügen sein dürfte. Quellenbasis, Methodik und die Kenntnis der internationalen Forschung sind gleichfalls durchweg überzeugend. Nach der Lektüre stellt sich die Frage nach der Geschichte anderer deutscher Internierungslager allerdings noch drängender. Liefert Stibbe doch konkrete Hinweise zur dort eklatant schlechteren Behandlung internierter Zivilisten (z.B. S. 101, S. 138). Die Geschichte dieser Lager bleibt ein Desiderat. Um es mit den Worten des Autors zu formulieren: "such a book is desperately needed" (S. 12).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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