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Titel
Civic obligation and individual liberty in ancient Athens.


Autor(en)
Liddel, Peter
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 443 S.
Preis
£ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartmut Leppin, Seminar für Griech. und Röm. Gesch. I, Goethe Universität Frankfurt / Main

Jacob Burckhardt (1818-1897) betonte in seiner Griechischen Kulturgeschichte, wie sehr die Freiheit des Polisbürgers, gerade des Athener Polisbürgers, durch sozialen Druck eingeschränkt war, legte allerdings in mancherlei Hinsicht einen anachronistischen, liberalen Freiheitsbegriff zugrunde. Dass die Freiheit, deren die Athener sich gerne rühmten, indes nicht eine komplette Unabhängigkeit des Polisbürgers bedeutete, dass die Athener Demokratie keineswegs eine Gesellschaft der Selbstverwirklichung war, ist in der modernen Forschung unbestritten. Peter Liddel vertieft dieses Problem, indem er das Verhältnis zwischen der Freiheit und den Verpflichtungen, denen sich Athener Bürger zu stellen hatten, behandelt. Zum entscheidenden intellektuellen Bezugspunkt macht er einen der einflussreichsten politischen Denker der Gegenwart, John Rawls (1921-2002). Der Vergleich zwischen seinen politischen Ideen und der Überlieferung aus Athen soll die Besonderheit der antiken Stadt stärker hervortreten lassen.1

Der zeitliche Schwerpunkt liegt in den Jahren 357-317 v.Chr., die Ausgangsbasis bilden Gerichtsreden, in denen typischerweise vorgetragen wird, Freiheit bestehe gerade nicht darin, zu tun, was man wolle, sondern überhaupt das Bürgerrecht zu besitzen, das eben auch Verpflichtungen mit sich bringe (S. 24). Nach einer ersten Einführung in die Begrifflichkeit und Quellenlage folgen in einem langen Kapitel (Rawls on liberty, duty and obligation) ausführliche Darlegungen zu Rawls’ politischer Philosophie. Liddel betont darin, dass Rawls sich von der antiken Ethik, die er als eudaimonistisch betrachtet, distanziere und im Sinne B. Constants (1767-1830) die Unterschiede zwischen antiker und moderner Freiheit betone, während Liddel hofft, eine größere Nähe zwischen antiker und moderner Demokratie aufzeigen zu können. Nebenher gibt der Autor vielfältige Einblicke in andere moderne Freiheitskonzepte, die sich bisweilen etwas verselbständigen.

Das dritte Hauptkapitel, Ancient texts and contexts überschrieben, erörtert fast handbuchartig den Wert der verschiedenen Quellengattungen sowie die historischen Rahmenbedingungen des 4. Jahrhunderts v.Chr. In den beiden folgenden Teilen liegt das Hauptgewicht der Arbeit: Die Aushandlung der Verpflichtungen diskutiert Liddel im vierten Kapitel (The negotiation of obligation) mit einer getrennten Behandlung von Reden und Inschriften, wobei er auch den spröden Listen wichtige Gesichtspunkte abgewinnen kann und Weihungen als Ausdruck des Stolzes über die Erfüllung der Verpflichtungen interpretiert. Er unterscheidet die verschiedenen Grundlagen für Verpflichtungen, die keineswegs allein auf Gesetzen gründen, arbeitet verschiedene Werte heraus und erläutert das system of competitive honouring, das aus den aufgeführten Quellen erschließbar ist (S. 161). Es ging darum, die Bürger zu einer Übererfüllung ihrer Pflichten zu ermuntern. Auch deswegen wurden die Verpflichtungen nicht als Einschränkung der Freiheit verstanden.

Im nächsten Schritt (The performance and presentation of obligations) bespricht der Verfasser die performativen Aspekte der Pflichten und deren Behandlung in den Quellen, wobei sowohl der Bereich des domestic life – etwa in Hinblick auf Bestattungen – gewürdigt wird als auch politische Aufgaben, Funktionen im Prozesswesen und Liturgien. Erneut begegnen die beiden wichtigen Gesichtspunkte: Die Bürger schreiben sich gerne eine Übererfüllung ihrer Pflichten zu und betrachten dies nicht als Einschränkung ihrer Freiheit. Die beiden Kapitel haben gemeinsam, dass zahlreiche Einzelfälle angeführt werden; ein solches Vorgehen ist bisweilen ermüdend, aber doch hilfreich, weil so die Komplexität und Situationsbezogenheit der Argumentationsweisen deutlicher wird. Es handelt sich nicht um einfache Aufzählungen, vielmehr werden auch rhetorische Strategien, Besonderheiten der Gattungen usw. gewürdigt.

Das Schlusskapitel kehrt noch einmal zu Rawls – der allerdings auch in den anderen Teilen herangezogen wird – zurück und arbeitet Differenzen zwischen dessen Modell und dem Athen des 4. Jahrhunderts v.Chr. heraus. Dabei kommen auch Trivialitäten zur Sprache – dass etwa die Stellung der Frau in Athen anders ist als in modernen Demokratien (S. 313f.) oder dass Rawls als Philosoph abstrakter formuliert als die attischen Redner (S. 320) –, doch zu Recht betont Liddel, dass eine allzu scharfe Unterscheidung zwischen antiker und moderner Freiheit in der Nachfolge Constants bezüglich der Athener Verhältnisse nicht adäquat ist, wenigstens insofern, als auch die Athener Verpflichtungen kannten, wie sie Rawls für eine gerechte Gesellschaft voraussetzt. Weitaus weniger ausgeprägt als in der Moderne sei in Athen die Freiheit gewesen, bestimmte Lebensstile zu wählen. Eine ausführlichere Diskussion hätte die unterschiedliche Rolle der Abwehrrechte (und damit ist man doch wieder bei Constant) in antiker und moderner Demokratie verdient. Abschließend versucht Liddel, Aristoteles’ Darstellung der Polis als ein Paradigma zu würdigen.

Das Buch stellt, auch wenn die Reichweite begrenzter ist, als es der Titel suggeriert, einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der Selbstbeschreibung der attischen Demokratie dar. Es ist methodisch insofern vorbildlich, als es philosophische, rhetorische und epigrafische Texte, die allzu oft nebeneinander behandelt werden, zusammenführt. Es beeindruckt durch intensive Durchdringung des umfangreichen Quellenmaterials; die internationale Literatur ist breit aufgearbeitet. Für bestimmte Bereiche – etwa in Hinblick auf Begründungsweisen für Verpflichtungen oder für Liturgien aus der fraglichen Zeit – lässt es sich auch als Handbuch „missbrauchen“. Sehr eindringlich und überzeugend wird dargelegt, dass die Verpflichtungen und Verhaltenserwartungen nicht als Einschränkung der Freiheit betrachtet wurden, sondern vielmehr die Erfüllung, gerade die übermäßige Erfüllung der Pflichten als ein Ausdruck der Freiheit betrachtet wurde. Hier erweist sich der Vergleich mit Rawls als durchaus fruchtbar.

Doch eben dieser Vergleich bringt auch eine Engführung des Blickes mit sich: Rawls schreibt in einer Gesellschaft, der Sklaverei fremd ist; in der Antike jedoch war die Sklaverei eine Selbstverständlichkeit, und der Begriff der Freiheit wird ganz wesentlich durch die Absetzung von der Sklaverei bestimmt, gerade bei Aristoteles. Liddel sieht das Problem natürlich und rechtfertigt seine Nicht-Behandlung der Sklaverei damit, dass die Sklaven keine Verpflichtungen gegenüber der Polis besessen hätten, und ihre Freiheit kein Thema in der Literatur des 4. Jahrhunderts gewesen sei (S. 3; vgl. auch S. 318). Insbesondere dieser Bereich hätte aber eine intensivere Reflexion verdient. Dennoch: Hier liegt ein ungemein wichtiges und nützliches Buch vor, das wesentliche Aspekte des bürgerlichen Freiheitsbegriffs im Athen des 4. Jahrhunderts neu erfasst.

Anmerkung:
1 Grundlegend zur Entwicklung des Freiheitsbegriffs jetzt Wilfried Nippel, Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit, Frankfurt am Main 2008.

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