F. Mildenberger: Jakob von Uexküll

Titel
Umwelt als Vision. Leben und Werk Jakob von Uexkülls (1864-1944)


Autor(en)
Mildenberger, Florian
Reihe
Sudhoffs Archiv, Beiheft 56
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Herrmann, Historische Anthropologie und Humanökologie, Georg August Universität Göttingen

Jakob von Uexküll war ein Biologe baltendeutscher Abstammung, der als Physiologe Beachtliches geleistet hat und gemeinhin als Entdecker der biologischen „Umwelt“ gilt. Obwohl sein Epistem in aller Munde zu sein scheint, ist er selbst vielen Biologen nur noch namentlich bekannt, den Jüngeren und Studierenden mitunter nicht einmal mehr das. Mildenberger, der Sozialisation nach philosophisch und medizinhistorisch geschulter Wissenschaftshistoriker, gibt als Motiv seiner Beschäftigung mit Uexküll die persönliche Faszination durch die „schillernde Persönlichkeit und die Breite seines Oeuvres“ (S. 239) an. Das Werk ist aus einer Habilitationsschrift in Geschichte der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München entstanden. Ein Viertel seines Umfangs entfallen auf die Apparate (Quellen, Sekundärliteratur [60 Seiten], Register). Die Untersuchung selbst stellt Uexkülls Leben und Werk in sieben Kapiteln vor, die sich an kalendarischen Einheiten orientieren. Der wissenschaftlichen Nachlassverwaltung und der Wiederentdeckung des Biologen sind zwei weitere Kapitel gewidmet, bevor das Buch mit einem sehr kurzen Schlusswort ausklingt.

Mildenberger umreißt zunächst das intellektuelle, politische und gesellschaftliche Ambiente der Jugend Uexkülls im baltendeutschen Estland. Er folgt ihm an die Dorpater Universität, beobachtet dann seine akademische Reifung und erste wissenschaftliche Erfolge in Heidelberg und an der legendären Zoologischen Station in Neapel. Mildenberger macht deutlich, wie in Uexkülls physiologischen Arbeiten die damals kontrovers diskutierten Grundpositionen der Biologie, die auf fundamentale philosophische Fragen rekurrieren (Materialismus, Vitalismus, Darwinismus), die Deutung experimenteller Resultate beeinflussen. Vor dem Hintergrund der eigenen wissenschaftlichen Sozialisation, unter dem Eindruck eigener Experimente und der Positionierung in der scientific comunity sieht sich Uexküll früh im Lager der Vitalisten. Weder Leben noch Werk Üexkülls verlaufen gerade und glatt, und die bekannten Apokalyptischen Reiter der akademischen Welt (Neid, Hass, Inkompetenz und Ideenklau) suchen auch Uexküll heim, verbünden sich mit den Reitern des privaten und gesellschaftlichen Lebens (politische Wirren, materielle und persönliche Bedrängnis) zu einer Lebenslast, angesichts derer der wissenschaftlichen Produktivität Uexkülls größte Achtung gebührt, wenn nicht Bewunderung. Uexküll war ein Querdenker, dem einerseits wissenschaftliche Meriten nicht vorenthalten (unter anderem mehrfache Vorschläge für den Physiologie-Nobelpreis), andererseits die Einbettung in die akademischen Korporationen fast versagt wurden. Mildenberger fördert zutage, wie Uexküll und seine gesellschaftlichen Freunde durch Einflussnahme die stellenmäßige Absicherung mit einer akademischen Brotposition positiv zu beeinflussen versuchten, summa summarum nicht sonderlich erfolgreich, denn das, was ihm schließlich in Hamburg als Institut zur Verfügung stand, war letztlich auch nach damaligen Maßstäben eine mickrige Klitsche. Die randständige Bedeutung Uexkülls in der Biologie der 1920er- und 1930er-Jahre führt Mildenberger darauf zurück, dass die wissenschaftlichen Paradigmen der Zeit den Positionen Uexkülls entgegenstanden, jedenfalls in der Wahrnehmung der Zeitgenossen, die den allmählichen Wandel der Grundposition Uexkülls gegenüber seinen früheren Interpretamenten nicht zur Kenntnis nahmen. Mildenberger sieht heute ein allmählich wieder ansteigendes Interesse am Werk Uexkülls, vor allem in der theoretischen Medizin, die auch von der späten Rezeption des väterlichen Oeuvres im Werk des Sohnes Thure von Uexküll profitiert, der die somatische Medizin im deutschsprachigen Raum wesentlich und mit Hilfe väterlicher Naturvorstellungen etabliert hat.

Die Arbeit Mildenbergers ist fraglos verdienstvoll. Sie besticht durch detailfreudige Demonstration immenser Belesenheit. Ihr verdankt sich, dass wenigstens jedem zweiten Satz eine teilweise opulente Fußnote beigegeben ist, die nun ihrerseits häufiger ein eigenes Themenfeld öffnet. Aber bringt die Abhandlung, wie versprochen, Leben und Werk des Biologen dem Leser näher? Bestimmt wird dem Leser Uexkülls Leben nahegebracht, von dem mir bisher diese Details, wie sie Mildenberger zutage gefördert und zusammengestellt hat, nicht bekannt waren. Sein Werk? Hier kenne ich mich als sozialisierter Biologe, der zudem das Privileg akademischer Lehrer hatte, die noch zur Gründergeneration der modernen Biologie des 20. Jahrhunderts zu zählen sind, etwas aus. Und bin ein wenig enttäuscht. Mildenberger arbeitet weder die Hauptstränge des biologischen Diskurses des späten 19. und der ersten Drittels des 20. Jahrhunderts insoweit heraus, dass dem Leser etwa die allgemeinen Grundzüge z.B. vitalistischer Philosophie und ihre je individuellen Varianten durch Vertreter der Biologie klar vermittelt würden. Über die gesamte Länge des Buches werden biologische Begriffe nicht wirklich expliziert, sondern mehrheitlich als Etiketten mit Namen, Orten und Daten verbunden. Nach ihrer jeweiligen Ersterwähnung wird offenbar mehrheitlich unterstellt, dass dem Leser das nuancierende Bedeutungsspektrum terminologischer Varietäten völlig verfügbar ist. Dabei hat sich dieser Leser in der Zwischenzeit nicht zum Kenner entwickeln können, weil ihm zentrale Erklärungsfiguren durch erläuternde Zusätze nicht mit an die Hand gegeben werden. Man müsste die jeweils zitierten Arbeiten parallel zu Mildenbergers Abhandlung lesen, um seine hochverdichteten Aussagesätze entpacken zu können. Die interessanten, doch inhaltlich recht kurzen Beschreibungen wissenschaftlicher Diskurse in der Biologie jener Zeit, soweit sie mit Uexküll in Verbindung stehen, können so anhand der Darstellung nur von einem fachhistorisch sehr gut und außerdem philosophisch gut geschulten Biologen nachvollzogen werden. Die Dichte der Darstellung Mildenbergers geht zwar nicht auf Kosten der Verstehbarkeit (reichliches Vorwissen gegeben), wohl aber auf Kosten einer Resümierbarkeit, weil die Verdichtung keine weitere Verdichtung in der Rezension erlaubt. Das Werk ist als voraussetzungsvolle Lektüre über Uexküll dem Kenner zu empfehlen, nicht aber dem Einsteiger.

Unter den Anmerkungen, zu denen es den Rezensenten drängt, sind drei von gewissem Gewicht. Die zumindest heuristische Klärung des „Zweck“-Begriffs der Biologie mit der inhaltlichen Klärung der Differenz von Teleologie und Teleonomie durch Ernst Mayr 1 ist dem sonst so aufmerksamen Mildenberger offenbar entgangen. Ebenso ist der Zweckbegriff in den theoretischen Fundierungen der Biologie durchaus weiter diskutiert, als Mildenberger zu unterstellen scheint, wobei das Diskussionsfeld nicht mit der „theoretischen Biologie“ Uexkülls zu verwechseln ist. Heute tritt Theoretische Biologie weitestgehend als mathematisierte und modellierende Teil-Biologie auf.

Etwas überraschend ist dann, dass Mildenberger der zentralen Figur Uexkülls, der „Umwelt“, weder eine eigene theoretische Darstellung widmet, noch ihre entscheidenden Nuancierungen durch die biologischen Wettbewerber klar herausarbeitet. Uexküll schied „Umgebung“ von „Umwelt“, einer mit Bedeutung aufgeladenen selektiven Wahrnehmung von Umgebungselementen, die zusammen mit dem Individuum seine spezifische „Welt“ bildet. Das Individuum und seine Umwelt fallen zusammen, „Umwelt“ ist nur lebbar und nicht zu verdinglichen. Uexkülls Ansatz war für die Biologie einerseits fruchtbar, weil er den Blick auf eine spezifische Qualität organismischer Existenz lenkte. Damit war er Wegbereiter der modernen Verhaltensforschung. Andererseits war sein Konzept nicht praktikabel, weil es als „subjektive Biologie“ (Uexküll sprach von einem „Weltbild“ des biologischen Subjekts) dem Anspruch der Biologie entgegensteht, Messbares und Vergleichbares und damit Objektivierbares zu erforschen. Die praktische Anpassung und Umsetzung erfolgte dann durch kritische Wegbegleiter und Konkurrenten Uexkülls, unter denen August Thienemann und Karl Friedrichs größere Bedeutung hatten, als Mildenberger ihnen einräumt. Der heutige Bedeutungsinhalt des Umweltbegriffs hat mit dem Inhalt, der Uexküll vorschwebte, bestenfalls schemenhaft zu tun. Das gilt auch für „Umweltgeschichte“, wo und wenn sie vorgibt, sich auf Uexküll zu beziehen, für den „Umwelt“ als Akteur undenkbar war.

Der Bedeutungswandel wird von Mildenberger in hohem Maße implizit behandelt statt ihn zu explizieren. Das Grundproblem Uexkülls liefert in seiner heutigen Variante der provozierenden Frage Thomas Nagels „What is it like to be a bat?“ 2 den Hintergrund des Streits zwischen Neurowissenschaften und Philosophen und findet in der Qualia-Debatte einen gegenwärtigen Höhepunkt. Hierzu äußert sich Mildenberger gar nicht. So endet die Lektüre in der vom Leser selbst zu erbringenden Einsicht, dass das Visionäre, auf das der Titel abhebt, weniger in der fraglosen Leistung Uexkülls lag, eine neue Qualität in die Tierbeobachtung einzuführen, als vielmehr in der produktiven Auseinandersetzung nachfolgender Generationen mit einer diffusen Begrifflichkeit auf der Suche nach einer Praktikabilisierung des Konzepts.

Was ich schließlich sehr bedaure, ist, dass Mildenberger die Wirkung von Uexkülls Denken auf das spätere Werk seines zeitweiligen Hamburger Kollegen Ernst Cassirer in nur einem beiläufigen Satz erwähnt. Dabei ist doch der Einfluss Uexkülls auf die Cassirersche Philosophie der symbolischen Formen von diesem selbst thematisiert und zu einem der einflussreichsten philosophischen Ansätze des 20. Jahrhunderts geführt worden.

Anmerkungen:
1 Ernst Mayr, Teleologisch und teleonomisch: eine neue Analyse, in: Ernst Mayr, Evolution und die Vielfalt des Lebens. Berlin 1979, S. 198- 229.
2 Thomas Nagel, „What is it like to be a bat?“, in: Philosophical Review 83 (1974), S. 435-450.