C. Mauch u.a. (Hrsg.): Wettlauf um die Moderne

Titel
Wettlauf um die Moderne. Die USA und Deutschland 1890 bis heute. Mit einem Nachwort von Joschka Fischer


Herausgeber
Mauch, Christof; Patel, Kiran Klaus
Erschienen
München 2008: Pantheon Verlag
Anzahl Seiten
479 S.
Preis
€ 16,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norbert Finzsch, Universität zu Köln

Georg Simmel hat in einem viel beachteten Aufsatz aus dem Jahre 1903 versucht, das Wesen der Konkurrenz zu fassen und hat auf die produktive und vergesellschaftende Funktion der Konkurrenz verwiesen, der eben nichts Destruktives anhafte. Simmel sieht die Konkurrenz als ein wesentlich konstitutives Merkmal von Gesellschaftlichkeit überhaupt an und er definiert sie in den Worten von Alnulf von Schelihas als „sublimierteste Form eines sozialen Antagonismus der individuellen Interessen“.1

Dieses ist ein gutes, ja ein großes Buch. Wenn ich an dem von Christof Mauch und Kiran K. Patel herausgegebenen Sammelband irgendetwas auszusetzen habe, dann ist es die wenig durchdachte Art, wie hier mit den Begriffen Wettbewerb, Konkurrenz und Wettlauf hantiert wird. Das Missverständnis, zwischen den USA und Deutschland habe es einen Wettbewerb oder eine Konkurrenz gegeben, ist nach Georg Simmel nicht nur ein Kategorienfehler, sondern sitzt der (unbeweisbaren) Annahme auf, „dass moderne Gesellschaften sich grundsätzlich in einem Wettbewerb miteinander befinden“ (S. 15). Der Wettbewerb zwischen den USA und Deutschland fand vor allem in deutschen Gehirnen und Diskursen statt. Jedenfalls gibt es kaum amerikanische Historiker und Historikerinnen, die behaupten würden, die USA hätten sich nach 1890 in einem Wettbewerb auf den Gebieten der Politik, der Religion, der Umwelt, des Rechts oder der Unterhaltung mit Deutschland befunden.

Auffällig war hingegen die Tendenz amerikanischer Zeitgenossen, Deutschland als ökonomischen Rivalen zu sehen. So spricht etwa Nelson W. Aldrich 1900 von den „great rivals“ der USA, Großbritannien und Deutschland.2 Dem gegenüber aber stehen zahlreiche Äußerungen, die die Ähnlichkeiten und die Gemeinsamkeiten beider Nationalstaaten hervorhoben. Als der amerikanische Politologe John W. Burgess 1902 seinen akademischen Lehrer Theodor Mommsen in Berlin-Charlottenburg besuchte, stimmten beide darin überein, dass „a friendly feeling in Germany toward the United States is, at present, practically universal.“3 Das positive Gefühl vieler Amerikaner für Deutschland hielt trotz des Ersten Weltkriegs weiter an, so dass der Ökonom und Deutschlandkenner James W. Angell 1931 schreiben konnte: „No European nation is of greater economic and financial importance to the United States today than Germany. Our economic relations with her are many-sided, and they influence our own economic life to an extent which is often not fully appreciated in this country.“4 Das klingt nicht nach Konkurrenz zwischen Staaten, geschweige denn “Gesellschaften”.

Wohl ist es zutreffend, dass sowohl die USA als auch Deutschland sich in einer Phase der raschen ökonomischen und technologischen Modernisierung befanden und somit ähnliche gesellschaftliche Problematiken zu bewältigen hatten. Und um die geht es in diesem äußerst gelungenen Band in erster Linie, weshalb man beiden Herausgebern uneingeschränkt zustimmen kann, dass es eine sinnvolle und ertragreiche Beschäftigung ist, die USA und Deutschland miteinander zu vergleichen, wenn dieser Vergleich so kompetent durchgeführt wird, wie es im vorliegenden Band der Fall ist.

Die Idee ist gut: Man nehme zwei Spezialistinnen der jeweiligen Nationalgeschichte und bringe sie dazu, gemeinsam ein Kapitel zu einem bestimmten Problem zu schreiben. Man merkt dem dicht geschriebenen Buch an, dass ein derartiges Vorgehen nicht ohne zahlreiche Arbeitstreffen und Koordinierungsgespräche ausgekommen sein kann. So kooperierten in diesem Band etwa Thomas Bender und Michael Geyer zum Thema „Imperium“ und Dirk Schumann und Judith Sealander zum Thema „Schule und Militär“, um nur zwei Beispiele zu nennen. Hier gibt es offensichtliche Dream Teams wie Eileen Boris und Christiane Eifert zu „Geschlecht“ oder Edward Dimendberg und Anton Kaes zur „Unterhaltung“. Andere Mitautorenschaften sind weniger vorhersagbar wie Manfred Berg und Dieter Gosewinkel zum „Recht“ und Heinz-Gerhard Haupt und Paul Nolte zum „Markt“, was aber an der hohen Qualität dieser Beiträge nichts ändert. Gut gefällt, dass die von zwei Autorinnen geschriebenen Texte den Vergleich inkorporieren, anstatt den Beitrag aus zwei disjunkten Hälften zusammenzuheften, die sich aber nicht aufeinander beziehen.

Obwohl es sich bei dem vorliegenden Buch nicht im strengen Sinne um ein „wissenschaftliches“ Oeuvre handelt, sondern eher um ein Destillat der Forschung ohne Belege, sind die vorgelegten Beiträge auch für HistorikerInnen mit ausgeprägten Forschungsinteressen durchaus anregend. Dies liegt unter anderem an der ungewöhnlichen thematischen Zuspitzung. Unter einem allgemeinen Oberbegriff („Disziplin“) wird meistens eine Dichotomie, zumindest aber ein inhaltlich aufeinander bezogenes Begriffspaar angeordnet („Schule und Militär“), dem dann in vergleichender Weise nachgegangen wird. Dass in diesem Beispiel Schule und Militär gemeinsam in zwei Gesellschaften thematisiert werden, zeitigt unerwartete Ergebnisse, trotz des foucauldianischen Grundtenors, der in dieser Paarung mitschwingt.

Hier rächt sich allerdings die Entscheidung der Herausgeber, dem Buch außer einer sehr knappen Auswahlbibliographie keinen wissenschaftlichen Apparat mitzugeben. So fragt man sich, woher die Verfasser des Artikels zur „Disziplin“ die Information haben, die Mehrheit der amerikanischen Kinder habe um die Jahrhundertwende „kaum lesen und schreiben“ können (S. 232). Der US-Census und die einschlägige Leseforschung sagen jedenfalls etwas anderes: Bei der Bevölkerung über zehn Jahren waren nach den Erhebungen des „Bureau of the Census“ des Jahres 1900 10,7 Prozent illiterate. 1920 war dieser Prozentsatz auf 6,0 Prozent gefallen. Selbst bei den MigrantInnen und ihren Kindern lag die Analphabetenquote 1900 nicht höher als 12,9 Prozent.5 Nicht thematisiert in diesem Zusammenhang wird zudem der wichtige Einfluss der amerikanischen Kirchen auf die Bildung.

Die Probleme der Verkürzung, die eine gestraffte vergleichende Darstellung mit sich bringt, führen manchmal auch zu Verzerrungen oder Ungenauigkeiten. So ist es unzulässig, davon zu sprechen, die Ergebnisse der IQ-Tests für die Armee im Jahre 1917 hätten zur Restriktion der Einwanderung in den 1920er-Jahren geführt. Hier müssen doch auch die herrschenden eugenischen und rassistischen Diskurse angeführt werden, die zum Teil von Ostküsteneliten angestoßen worden waren und am Nativismus des 19. Jahrhunderts andockten. Dennoch, der hier gewählte komparative Approach ist produktiv und erfolgreich, da es ihm gelingt, Probleme zusammenzufassen, die ein herkömmlicher Zugang übersehen hätte. Dies wird besonders deutlich in dem klugen Beitrag von W. Fitzhugh Brundage und Konrad H. Jarausch zu „Massen: Mobilisierung und Partizipation“.

Hier merkt man auch, dass es Vorteile haben kann, wenn beide Autoren aus den USA kommen und bestimmte interkulturelle Abstimmungsprozesse beim Schreiben eines Beitrags, wie die Überwindung der überwiegend negativen Konnotation des Massenbegriffs in der deutschen Diskussion, nicht mehr geleistet werden müssen. In diesem Beitrag wird auch ganz offensichtlich, dass von einem Wettlauf zwischen USA und Deutschland nicht die Rede sein kann. Was hervorsticht, ist die Unterschiedlichkeit der Probleme. Der Vergleich fördert mehr Differenz als Gemeinsamkeiten (was absolut legitim ist) und unerwartete Übereinstimmungen. In der Frage nach der Partizipation liegt die Möglichkeit, diese Gemeinsamkeiten überhaupt erst sichtbar zu machen.

Alles in allem stellt dieses Buch eine überaus gelungene Mischung aus der Präsentation von Forschungsergebnissen und populärer Vermittlung dar. Es ist hervorragend produziert und mit guten Illustrationen versehen. Auch wenn man bei dem Epitheton „kreativste Historikerinnen und Historiker aus jedem Land“ (so Charles Maier auf dem Klappentext) ein wenig ins Schmunzeln gerät, so stimmt doch, dass die komparative Geschichtsschreibung mit diesem Buch beweist, dass sie „alive and kicking“ ist.

Anmerkungen:
1 Arnulf von Schehila, Persönliche Sinnfindung und die Selbstbehauptung im Wettbewerb, in: Udo Kern (Hrsg.), Wirtschaft und Ethik in theologischer Perspektive, Berlin 2002, S. 179-198, hier S. 186.
2 Nelson W. Aldrich, The Industrial Ascendency of the United States, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science, Vol. 15, Supplement 13. Corporations and Public Welfare. Addresses at the Annual Meeting of the American Academy of Political and Social Science, Philadelphia, April Nineteenth and Twentieth 1900 (May, 1900), S. 155-168, hier S. 155.
3 John W. Burgess, Germany, Great Britain and the United States, in: Political Science Quarterly, Vol. 19, No. 1 (1904), S. 1-19, hier S. 7.
4 James W. Angell, Economic Germany and the United States Today, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science, Vol. 156, (1931), S. 1-8, hier S. 1.
5 Historical Statistics of the United States: Colonial Times to 1970, 2 Bände, White Plains NY 1970, S. 382. Stedman und Kaestle diskutieren die methodischen Probleme der Alphabetisierungsforschung anhand der Censusdaten. Lawrence C. Stedman / Carl F. Kaestle, Literacy and Reading Performance in the United States, from 1880 to the Present, in: Reading Research Quarterly, Vol. 22, No. 1 (1987), S. 8-46.

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