C. Opitz u.a. (Hrsg.): Kriminalisieren, Entkriminalisieren

Cover
Titel
Kriminalisieren, Entkriminalisieren, Normalisieren. Criminaliser, Décriminaliser, Normaliser


Herausgeber
Opitz, Claudia; Studer, Brigitte; Tanner, Jakob
Reihe
Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 21
Erschienen
Zürich 2006: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
388 S.
Preis
€ 38,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Becker, Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, Universität Linz

Kriminalität ist ein Phänomen, das am Schnittpunkt von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur angesiedelt ist. Daran erinnert Xavier Rousseaux in seiner historiographischen Einführung zu dem Sammelband (S. 41), der aus 20 Beiträgen besteht und in seiner thematischen Vielfalt und chronologischen Ausdehnung einen interessanten Einblick in die historische Kriminalitätsforschung bietet. Die Bemerkung von Rousseaux charakterisiert sehr gut das gemeinsame Verständnis der Autoren von Kriminalität als einem sozialen und nicht ausschließlich rechtlichen Phänomen – einem Phänomen, das in der Analyse der Autorinnen und Autoren zudem viel über Normalitätsvorstellungen von gesellschaftlichen wie politischen Akteuren aussagt.

Die sozial- und kulturwissenschaftlich inspirierten Zugangsweisen zum institutionellen wie gesellschaftlichen Umgang mit Personen, die entweder Normen verletzt hatten oder zu einer Risikogruppe zählten, bilden die konzeptuelle Klammer für die Beiträge. Die Begriffstrias ‚Kriminalisieren, Entkriminalisieren, Normalisieren’ ist ein gut gewählter Titel, weil er das Verständnis von Kriminalität als Resultat eines komplexen Zuschreibungsprozesses mit erheblichen institutionellen Konsequenzen zum Ausdruck bringt.

Der Band erzählt keine kohärente Geschichte; er reduziert sich aber auch nicht auf die Publikation von Vorträgen, die auf der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Jahre 2004 gehalten wurden. Die von den Referaten für die Publikation ausgewählten Fallstudien haben durchaus gemeinsame theoretische und konzeptuelle Bezüge, und sie sind von drei einführenden Essays eingerahmt – der Einleitung (Opitz, Studer, Tanner), einem breiten Forschungsüberblick von Xavier Rousseaux und einem speziell auf die Gewaltkriminalität vom 14. bis zum 18. Jahrhundert fokussierenden Essay von Gerd Schwerhoff.

Die Objekte der Fallstudien sind zwischen dem Mittelalter und den 1970er-Jahren angesiedelt. Sie sind thematisch heterogen und von den Herausgebern in vier Teilen organisiert, deren analytische Trennschärfe allerdings etwas mangelhaft erscheint. Das ist aber nicht weiter störend, weil die Leser/innen sich kaum an diesen Unterteilungen orientieren werden. Wer sich über die äußerst lebhafte und spannende Debatte zum Thema Kriminalisierung und Normalisierung in der Schweizer Forschung informieren möchte, wird mit großem Gewinn den ganzen Band lesen. Für den Zugriff auf einzelne Themen bietet das Inhaltsverzeichnis gute Anhaltspunkte. Ein Sachindex fehlt leider. Er wäre sehr hilfreich gewesen, um sich in den spannenden analytischen und empirischen Ausführungen der einzelnen Fallstudien rasch und zielgerichtet orientieren zu können.

Der Band lässt sich inhaltlich nicht auf ein begrenztes Themenfeld und analytisch-methodisch nicht auf wenige Perspektiven reduzieren. Konfliktlösung im Mittelalter, Homosexualität im frühen 20. Jahrhundert, Branntweinkonsum in der Frühen Neuzeit, Kindesmisshandlung im 19. Jahrhundert und Terrorismus in den 1970er-Jahren – das ist das inhaltliche Spektrum, das abgedeckt wird. In analytischer Hinsicht stehen historisch-anthropologische Arbeiten neben Studien, die von der ‚gouvernementalité’ Foucaults oder von neueren Netzwerkansätzen inspiriert sind. Gemeinsam ist allen Beiträgen die theoretisch fundierte und empirisch gehaltvolle Auseinandersetzung mit einer Fragestellung, die manchmal bekannte Themen der Kriminalgeschichte aufgreift, manchmal sich auf bislang weniger erforschtes Terrain vorwagt.

Ein neues Thema der historischen Auseinandersetzung mit Kriminalität und ihrer Verfolgung ist die Internationalisierung des Strafrechts. Damit setzt sich die Basler Kriminologin Nadja Capus am Beispiel der internationalen Abkommen zur Bekämpfung von Korruption und Geldwäsche auseinander. Sie nimmt damit einen der beiden zentralen Aspekte der Internationalisierungsthematik in den Blick, nämlich die Vereinheitlichung nationaler Rechtsbestände durch die Ratifizierung von internationalen Übereinkommen und bilateralen Verträgen. Die zu schützenden Rechtsgüter sind im Fall der Geldwäsche und Korruptionsbekämpfung weiterhin auf der nationalen Ebene angesiedelt, die internationale Kooperation soll die Verfolgung von global agierenden Gruppen ermöglichen. Der zweite Aspekt der Internationalisierungsdebatte – der Schutz von übernationalen Rechtsgütern – wird in dem Beitrag nicht behandelt. Capus Analyse liefert spannende Anregungen für die Historiker/innen, die sich für Normenwandel und Kodifikation im Staat der Moderne interessieren. Wenn man sich über den Stolperstein der simplifizierenden historischen Bezüge (S. 213) hinwegsetzt, eröffnet sich ein facettenreicher Blick auf eine Vielzahl von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren, die neue ‚Spielregeln’ für den globalen Finanzmarkt erarbeiten und schließlich auch für deren Umsetzung sorgen.

In diesem Bereich ist für Historiker noch viel zu entdecken, wie man etwa der Studie von Milos Vec über die Beziehungen von Politik, Wirtschaft, Technik und Recht während der Industriellen Revolution entnehmen kann.1 Die heutigen Netzwerke zwischen staatlichen, internationalen und nicht-staatlichen Akteuren zur Entwicklung und Durchsetzung von Rechtsnormen in unterschiedlichen Politikfeldern sind anders beschaffen als diejenigen der Zwischenkriegszeit. Dennoch lohnt es sich, für die unterschiedlichen historischen Epochen nach der Logik des jeweiligen „internationalen Regimes“ zu fragen, das Capus in Anlehnung an Stephen Krasner definiert als „sets of implicit or explicit principles, norms, rules, and decision-making procedures around which actors’ expectations converge in a given area of international relations.“ (S. 216)

Der Beitrag von Capus ist einer von vier Texten, die sich mit Politiken und Techniken der Strafverfolgung auseinandersetzen. Die Autorinnen und Autoren legen den Schwerpunkt ihrer Argumentation auf die staatliche Normsetzung und verfolgen in analytisch anspruchsvoller Weise die Logik von Strafprozessrecht und Kriminalpolitik, so etwa Urs Germann in seinen beeindruckenden Überlegungen zur schweizerischen Kriminalpolitik. Die fünf Texte in dem darauf folgenden Teil des Bandes zum Themenfeld ‚Kriminalisieren – Stigmatisieren – Normalisieren in der Moderne’ setzen diese Perspektive mit einem anderen Schwerpunkt fort, indem sie sich für die Strategien staatlicher Akteure im Umgang mit unterschiedlich definierten ‚Anderen’ interessieren.

Die Grenzziehung zwischen Anständigkeit und Devianz wird in allen fünf Beiträgen reflektiert. Auf eine besonders interessante Weise geschieht dies in Nicole Schwaigers Text, der sich mit der Diskussion über die Einführung von Fingerabdrücken im Schweizer Pass (1911-1926) beschäftigt. Der Aktualitätsbezug ist angesichts der Integration von biometrischen Daten in den Reisepass offensichtlich, wird aber nur beiläufig erwähnt. Schwaiger nimmt behördeninterne Reflexionen über die Vor- und Nachteile der Verwendung des Fingerabdrucks in den Blick. Die kritischen Stimmen überwogen in dieser Debatte, wie sie argumentiert. Schwaiger erklärt die reservierte Einstellung von Schweizer Beamten mit der Zeichenhaftigkeit von biometrischen Daten: Fingerabdrücke waren mit der Welt der ‚Anderen’, der Vagabunden und Straftäter assoziiert und hatten eine entsprechend stigmatisierende Wirkung. Davor wollte man die „ruhigen, rechtschaffenen Bürger“ bewahren (S. 272).

In der institutionellen Bearbeitung von Devianz spielte und spielt Prävention eine wichtige Rolle. Darauf nimmt Patrick Kury in seinem Beitrag Bezug, der die Einrichtung eines Grenzsanitätsdienstes nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zum Thema hat. In seiner Argumentation verbindet er unterschiedliche Referenzbereiche zu einem vielschichtigen Blick auf medizinisch-hygienische Bedrohungsvorstellungen und auf die politischen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung: „Neu an den Texten der Fremdenpolizei und des Grenzsanitätsdienstes war, dass sich die Kategorien der ‚Auslese’ an geografischen und ethnischen Zuschreibungen orientierten“, wie Kury ausführt (S. 249). Zur Abwehr der politisch, sozial und hygienisch definierten Risikogruppen wurden neue staatliche Zentralstellen geschaffen. Die kollektiven Phobien der Nachkriegsjahre mit ihrer antislawischen und antisemitischen Ausrichtung führten laut Kury zu einem neuen Kontrollregime mit neuen zentralstaatlichen Behörden, wie dem Grenzsanitätsdienst. Maßgeblich für die Entstehung dieses Kontrollregimes waren für Kury sowohl die Bedrohungsvorstellungen als auch die neuen Handlungsmöglichkeiten für die Regierung zur Verstaatlichung von medizinisch-hygienischen Maßnahmen (S. 246).

Der Band präsentiert Arbeiten aus der Schweiz bzw. über die Schweiz. Das ist der Entstehung des Bandes geschuldet. Die Beiträge zu diesem Band sind lesenswert und eröffnen neue Einblicke in die Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex von Kriminalisierung und Normalisierung aus einer interdisziplinären und meist auch vergleichenden Perspektive. Der Band ist daher ohne Einschränkung zu empfehlen.

Anmerkung:
1 Milos Vec, Recht und Normierung in der industriellen Revolution. Neue Strukturen der Normsetzung in Völkerrecht, staatlicher Gesetzgebung und gesellschaftlicher Selbstnormierung. Frankfurt am Main 2006.