Cover
Titel
The Politics of Regret. On Collective Memory and Historical Responsibility


Autor(en)
Olick, Jeffrey K.
Erschienen
New York 2007: Routledge
Anzahl Seiten
VIII, 229 S.
Preis
$ 32.95/€ 29,99 (Pb.), $ 125.00/€ 97,99 (geb.)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin von Lingen, Sonderforschungsbereich 437 "Kriegserfahrungen - Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit", Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Das Thema „collective memory“ erlebt in den letzten Jahren bekanntlich einen teils schon fragwürdigen Boom, und man kann gar nicht alle Neuerscheinungen zur Kenntnis nehmen – doch bei diesem Buch wäre es ein Verlust: Jeffrey Olick, einer der führenden US-Soziologen auf dem Forschungsgebiet von Transitional-Justice-Mechanismen, bietet hier einen kompakten soziologisch-historischen Zugang zum Thema Erinnerung, Vergangenheitspolitik und Versöhnung. Gestützt auf die theoretischen Arbeiten von Bakhtin, Elias und Bourdieu wird ein stringentes Modell auf der Basis empirischer Soziologie entwickelt, das besonders die Bedeutung der Erinnerung im öffentlichen Zusammenspiel der Gesellschaft und zwischen Staaten herausarbeitet. Dadurch gelingt eine Verbindung zwischen dem soziologischen Zugang der Erforschung von Gesellschaften und dem historischen Ansatz zur Entschlüsselung von Narrativen, die diese Gesellschaften tragen (S. 16). Mit Olicks Definitionen, was „collective memory“, Vergangenheitspolitik oder der Begriff „responsibility“ in diesem Kontext genau meinen, ist Historikern, Politologen und Juristen ein Instrumentarium an die Hand gegeben, um die identitätsstabilisierende Wirkung von Erinnerung zu prüfen, Verdrängungsprozesse auf ihre nationale Bedeutung hin zu analysieren und Trägergruppen zu entschlüsseln.

Olick liefert verschiedene Möglichkeiten der Unterscheidung: Den „politics of memory“ seien inzwischen „politics of regret“ nachgefolgt, wobei rhetorische Bußrituale und symbolische Kompensationsformen zum Tagesgeschäft gehörten oder aber nur noch als Hülse weitergetragen würden („the memory of memory“). Besonders wichtig sei es daher, die „technologies of memory“ genau zu verfolgen, um Erinnerungskultur als „policy of claim-making“ demaskieren zu können (S. 39). Lobenswert ist aber vor allem der Versuch, längst existierende theoretische Zugänge zu bündeln und anhand brillant geschriebener Essays aus den letzten fünf Jahren die Frage nach Interaktionen zwischen historischem Kontext und Erinnerungsformen zu erproben (S. 80). Olick bietet damit in diesem Buch keine Überraschung im theoretischen Ansatz, aber Präzisierungen in der Methode, und kommt zu neuen Ergebnissen in Bezug auf die Funktion von „collective memory“. So ist das Buch in vieler Hinsicht eine Weiterentwicklung seiner beiden Vorgängerwerke, in welchen er die deutsche Abrechnung mit dem Nationalsozialismus in den Blick genommen und Modelle zum Umgang mit Schuld entwickelt hat, um daraus Prognosen für eine dauerhafte Versöhnung abzuleiten.1

In den ersten drei Kapiteln geht es um Themen aus der deutschen Geschichte, die die Wirkungsebene von Erinnerung zeigen. Die Intention der Erinnerung ist für Olick dabei entscheidend: Geht es um ein bestimmtes Ereignis, das öffentlich erinnert werden soll, oder geht es darum, mit dem Mittel der Erinnerung bestimmte politische Bedürfnisse oder Ziele des heutigen Staates zu unterstützen? In jedem Fall ist die Wechselwirkung zwischen Erinnerungs-Äußerung und der gesellschaftlichen Reaktion darauf der Analyseschwerpunkt.

Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, als Zeichen der neuen Verständigungspolitik gefeiert, steht als Symbol für den schwierigen Umgang mit deutscher Schuld, ja für einen ambivalenten Zwang zur Erinnerung. Olick diskutiert so die Frage einer angemessenen Erinnerung, ohne eine Kollektivschuld anzuerkennen, aber auch ohne Schuld komplett zurückzuweisen. Dabei überzeugt der linguistische Zugang zu den Gedenkfeiern durch den Befund einer „perverse absence of actors“, implizit in Politikerfloskeln wie der Rede von „Verbrechen in deutschem Namen“ (S. 49). Auch Dilemmata werden deutlich, die aus einem „Zuviel“ an Erinnerung erwachsen können: Auf die deutsche Angst, der enormen Last nicht gerecht zu werden, folgte in den letzten Jahren eine zunehmende Kritik „vergessener Opfergruppen“ an der Hegemonialisierung des Holocaust-Gedenkens.

Besonders lesenswert ist der Essay zur Kontextualisierung der Rituale zum Kriegsende in Deutschland. Die deutsche Rhetorik oszillierte zwischen den beiden Begriffspolen „Niederlage“ und „Befreiung“, während die kollektive Erinnerung verschiedene Stadien durchlief: Von der Trauer über die Niederlage und die vielen (durchaus unterschiedlich und zeitabhängig definierten) Opfer über die Beschwörung der Freiheit und einer pan-europäischen Zukunft, über die Forderung nach „Normalisierung“ des Verhältnisses zur deutschen Geschichte bis zum Umschlagen in Relativierung des Geschehenen war es ein langer Weg zur offenen Erinnerungspolitik des wiedervereinigten Deutschlands, das am Jahrestag selbstverständlich auch zu den Feiern der Nachbarländer eingeladen wird (S. 62). Die Bedeutung gerade der Weizsäcker-Rede zum 8. Mai 1985 wird in der Kontextanalyse ganz deutlich (S. 81). Anregend ist Olicks These, dass der ganze Mechanismus der Erinnerungsrituale seit 1945 ebenso formierend gewirkt habe wie die Erinnerung an die historische Erfahrung selbst („the memory of commemoration“, S. 83).

Immer wieder geht Olick methodisch auf die Wortanalyse zurück, um deutlich zu machen, dass Erinnerung durch die Verbreitung in den Medien befördert und dabei durch die Wahl der Worte mitbestimmt wird. In „Figurations of Memory“ analysiert er die Form der „mnemonic media“, also der einprägsamen Darstellungsformen von Erinnerung (S. 100). Er unterscheidet zwischen Wortwahl und Anlass, Zweck der Rede und beabsichtigter Wirkungsebene. Ein Auftritt vor Ruinen oder unter Zuhilfenahme von Fotos bewirkt den Eindruck einer authentischen Botschaft „aus der Vergangenheit“ an die Nachwelt, während die Thematisierung historischer Fakten vor Gericht dem politisch-moralischen Postulat der Sühne verpflichtet ist und dazu dient, vor allem dem neuen Staat Bestärkung und Legitimation zu verleihen.

Im zweiten Teil des Buches widmet sich Olick den moralischen und politischen Folgen, die durch den Gebrauch von Erinnerungsritualen als Handlungsanweisungen erwachsen: „the politics of regret“. Die Formen symbolischer Kompensation oder von Entschuldigungsritualen haben in der letzten Dekade erheblich zugenommen. Diese Aufwertung von Sühne und Entschuldigung zu einem global gültigen Menschheitsprinzip lässt Rückschlüsse auf das aktuelle Wertesystem der internationalen Ordnung zu und macht zudem deutlich, dass es von Staaten bewusst zur Legitimation benutzt wird, also gerade keine Aussage über wirkliche Reue oder Sühne liefern kann. Die ersten Kapitel dienen dazu, diesen theoretischen Zugang durch Rückgriff auf Hannah Arendt, aber auch auf Nietzsche und Weber zu befestigen und die Genese des Begriffs zu zeigen. Olick macht deutlich, dass er die „politics of regret“ im Kontext eines generell größeren Bewusstseins einer allmählichen Verweltlichung sieht, die zentraler und grundlegender Bestandteil moderner Staaten sei (S. 122).

Im nächsten Kapitel untersucht Olick am Beispiel Deutschlands und Südafrikas die Frage der Nachhaltigkeit von Versöhnung – und damit auch der Ehrlichkeit von Sühne (S. 139). Es wird deutlich, dass die Forderung nach der Möglichkeit einer Versöhnung zwischen Opfern und Tätern letztlich eine Glaubensfrage bleibt, während das Modell der „Wahrheitskommissionen“ auf Aufklärung setzt und dadurch auf die Identität der nachfolgenden Generationen eine stabilisierende Wirkung haben kann. In einem weiteren Kapitel geht es um die Begriffe „Trauma“ und „Ressentiment“ und die Kompensationsmöglichkeiten oder Erklärungsversuche des erlittenen Leids. Schließlich formuliert Olick seine Vision über die „politics of regret“, die einem Staat die Möglichkeit bieten, mittel- und langfristig (verantwortungs)bewusster auf Forderungen bisher vergessener Gruppen zu reagieren, die mit ihrer Gegenerinnerung die offizielle Version herausfordern und differenzieren („chronic differentiation“, S. 188).

Olicks Buch bietet für deutsche Leserinnen und Leser eine gewinnbringende Lektüre, auch wenn er manche ähnlichen Überlegungen aus der deutschen Forschung nicht oder nur partiell berücksichtigt. Es wird daher höchste Zeit, Ansätze aus dem ‚alten Europa’ und den USA zusammenzuführen, um in weiteren Studien den Trend zur öffentlichen Geschichtsbeflissenheit überall in der Welt unter die wissenschaftliche Lupe zu nehmen.

Anmerkung:
1 Jeffrey K. Olick, States of Memory. Continuities, Conflicts and Transformations in National Retrospection, Duke 2003; ders., In the House of the Hangman. The Agonies of German Defeat, 1943–1949, Chicago 2005 (rezensiert von Sven Oliver Müller: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-2-004>).