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Titel
Braune Diplomaten. Horst Wagner und Eberhard von Thadden als Funktionäre der "Endlösung"


Autor(en)
Weitkamp, Sebastian
Reihe
Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 77
Erschienen
Anzahl Seiten
491 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Wiegeshoff, Philipps-Universität Marburg

Im Jahr 2005 wurde die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit auf die Geschichte des Auswärtigen Amts gelenkt. Die Entscheidung des damaligen Außenministers Joschka Fischer, verstorbenen Amtsangehörigen, die ehemals NSDAP-Mitglieder gewesen waren, das sonst übliche „ehrende Gedenken“ im Mitarbeiterblatt zu verweigern, führte innerhalb und außerhalb des Amts zu kontroversen Auseinandersetzungen. Die Debatte weckte Interesse an der Geschichte des Außenministeriums in der Zeit des Nationalsozialismus und am Umgang mit dieser Vergangenheit in der Bundesrepublik. Viele Bereiche dieser Geschichte sind bis heute wenig oder gar nicht wissenschaftlich untersucht worden. Das Bild vom nationalsozialistischen Außenamt wurde wesentlich durch die Angehörigen des Amts selbst geprägt. Noch vor wenigen Monaten druckte die Süddeutsche Zeitung einen Text aus dem Nachlass des 1971 verstorbenen Diplomaten Wilhelm Melchers ab. Dem Artikel war zu entnehmen, dass im „Dritten Reich“ „der Kern des Amts im wesentlichen gesund“ geblieben sei.1 Dies soll heißen, dass die traditionsreiche Behörde nur am Rande in die Verbrechen des Regimes verstrickt war und dass vor allem von außen ins Ministerium gekommene Nationalsozialisten dafür verantwortlich zeichneten. Eine Darstellung, die es durchaus kritisch zu hinterfragen gilt.

Einen neuen Beitrag dazu leistet die nun veröffentlichte Osnabrücker Dissertation von Sebastian Weitkamp, in der sich der Autor den Diplomaten Horst Wagner und Eberhard von Thadden widmet. Wagner leitete die 1943 gegründete Gruppe Inland II, die im Auswärtigen Amt für die Verbindungen zur SS zuständig war. Von Thadden fungierte dort als sein wichtigster Mitarbeiter und Stellvertreter. Von 1943 bis 1945 waren beide im Außenministerium federführend mit „Judenfragen“ befasst. Über einen personenbezogenen Zugriff untersucht Weitkamp Inland II und die Rolle seines Führungspersonals. Die Zusammenarbeit zwischen Auswärtigem Amt und SS bei der Durchführung der Judenvernichtung steht im Mittelpunkt der Arbeit. Weitkamp verortet seine Studie in der neueren NS-Täterforschung, die den Täter als autonomes Subjekt mit Handlungs- und Entscheidungsspielräumen begreift und nach seinen äußeren und inneren Handlungsantrieben fragt. Als Täter definiert er „ganz allgemein eine Person, die in irgendeiner Weise an der Vernichtung der Juden beteiligt gewesen ist“ (S. 37). Mit den Diplomaten Wagner und von Thadden nimmt er einen bisher von der Forschung nicht beleuchteten Täterkreis in den Blick. Es geht Weitkamp darum zu zeigen, dass die Diplomaten keine reinen Befehlsempfänger waren, sondern im Rahmen ihrer Tätigkeit aus ganz unterschiedlichen Motiven durchaus Eigeninitiative entwickelten.

Mit seiner Arbeit schließt Weitkamp an eine ältere Untersuchung von Christopher Browning zur Rolle des Auswärtigen Amts beim Mord an den europäischen Juden in den Jahren 1940 bis 1943 an sowie an die Darstellungen von Paul Seabury und Hans-Jürgen Döscher zum Außenamt im „Dritten Reich“.2 Die Untersuchung stützt sich auf eine dichte Quellenbasis. Die Akten von Inland II sind im Archiv des Auswärtigen Amts fast vollständig überliefert, und so kann Weitkamp „direkt aus den Akten der Täter“ (S. 39) schreiben. Allerdings gerät seine „mikroskopische Betrachtung“ (S. 32) streckenweise sehr detailliert und es bleibt dem Leser überlassen, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. An einigen Stellen wäre eine kondensiertere Darstellung zu begrüßen gewesen. Die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der bisherigen Forschungsliteratur hingegen kommt recht kurz.

Weitkamps Studie gliedert sich in drei Abschnitte. Der erste Teil beschäftigt sich mit den Biographien der Diplomaten bis zu ihrem Eintritt in die Gruppe Inland II. Weitkamp charakterisiert Wagner als Karrieristen, der mangelnde Qualifikation durch eine enge Anbindung an den Nationalsozialismus wettmachte. Er verfolgte keine weltanschaulichen Ziele, ihm ging es allein um seinen Aufstieg. Gerade aufgrund der treuen Ergebenheit zu seinem Förderer Joachim Ribbentrop wurde er zum Leiter von Inland II berufen. Unter den Karrierediplomaten im Außenministerium galt er – im Gegensatz zu von Thadden – als „Emporkömmling“. Von Thadden hingegen hatte sich schon vor dem Dienstantritt Ribbentrops für den Auswärtigen Dienst beworben und die Ausbildung erfolgreich durchlaufen. In Inland II wurde er wegen seiner fachlichen Qualifikation eingesetzt. Eine national-konservative und antisemitische Grundhaltung machten ihn empfänglich für nationalsozialistisches Gedankengut. Weitkamp arbeitet überzeugend heraus, wie unkritisches Pflichtbewusstsein und die Sorge vor einer vermeintlichen jüdischen Bedrohung von Thadden zum engagierten Mitarbeiter und eigentlichen Verantwortlichen in Inland II werden ließen. Er war keineswegs ein „Schreibtischtäter“ ohne Vorstellungen über die Konsequenzen seines Handelns, vielmehr unternahm er verschiedene Dienstreisen und machte sich vor Ort ein konkretes Bild von Konzentrationslagern und Deportationen.

Der zweite und umfangreichste Teil der Studie behandelt Inland II sowie die Arbeit der Diplomaten. Weitkamp analysiert anhand verschiedener Fallbeispiele die tatsächliche Zuarbeit Wagners und von Thaddens zu nationalsozialistischen Verbrechen und belegt dabei ihr jeweils großes Engagement. Konkret befassten sie sich vor allem mit der Abschirmung der „Endlösung“ gegenüber dem Ausland und der Unterstützung der „Judenmaßnahmen“. Wichtige Aufgaben waren die – meist dilatorische – Bearbeitung von Eingaben dritter Staaten zugunsten gefangen genommener Juden und die Unterstützung der Deportationen durch eine Separierung ausländischer Juden, die zur Vermeidung von Spannungen mit deren Heimatstaaten zunächst nicht verschleppt werden sollten. Besonders eindrucksvoll beschreibt Weitkamp diese Mitarbeit am Beispiel der Deportation der ungarischen Juden. Obwohl er sich auf Inland II konzentriert, zeigt er immer wieder, wie das gesamte Außenministerium an der Kooperation mit der SS beteiligt war. Eine Übersicht regelmäßig hinzugezogener Abteilungen führt die Politische, die Rechts-, die Handelspolitische und die Kultur- und Rundfunkpolitische Abteilung an. Weitkamp resümiert: „Von einer isolierten judenpolitischen Arbeit von Inland II kann keine Rede sein.“ (S. 139)

Im letzten Abschnitt schildert Weitkamp die Nachkriegskarrieren der Diplomaten. Im Wesentlichen geht es hier um die Geschichten geplanter, geplatzter und tatsächliche begonnener, jedoch nie zu einer Verurteilung führender Prozesse und einer in von Thaddens Fall geglückten und in Wagners Fall missglückten Integration in die Nachkriegsgesellschaft. Interessant ist das Schlaglicht, das Weitkamp auf die geschichtspolitischen Aktivitäten des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik wirft: Aus Sorge vor außenpolitischen Verwicklungen angesichts der Beteiligung des Außenministeriums an NS-Verbrechen wandten sich die Staatsanwaltschaften an das Auswärtige Amt. Staatssekretär Hilger van Scherpenberg und später der Leiter des Archivs im Amt, Heinz Günther Sasse, konnten Formulierungen in den Anklageschriften abändern und auch so das Bild vom „Fremdkörper“ Inland II im sonst „gesunden“ Amt pflegen.

In seiner für die weitere Forschung auf diesem Gebiet wichtigen Untersuchung kann Weitkamp am Beispiel Wagners und von Thaddens Motive für die individuelle Mitwirkung an der Judenvernichtung und die Rolle der beiden Diplomaten überzeugend herausarbeiten. Er verliert dabei aber nicht den institutionellen Gesamtrahmen aus den Augen und gibt immer wieder Hinweise, in welcher Form auch andere Abteilungen des Amts an der reibungslosen Kooperation mit der SS beteiligt waren. So kann er mittels einer detaillierten Analyse zeigen, dass das Bild vom „gesunden“ Amt und den „hinzugekommenen“ Nationalsozialisten zu einfach gezeichnet ist.

Anmerkungen:
1 Wilhelm Melchers, „Es ist gemacht!“, in: Süddeutsche Zeitung vom 20. Juli 2008.
2 Christopher Browning, The Final Solution and the German Foreign Office. A Study of Referat D III of Abteilung Deutschland 1940-1943, New York u.a. 1978; Paul Seabury, Die Wilhelmstrasse. Die Geschichte der deutschen Diplomatie 1930-1945, Frankfurt am Main 1956; Hans-Jürgen Döscher, SS und Auswärtiges Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der „Endlösung“, Frankfurt am Main u.a. 1991.

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