S. Beck: Reden an die Lebenden und die Toten

Titel
Reden an die Lebenden und die Toten. Erinnerungen an die Rote Armee Fraktion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur


Autor(en)
Beck, Sandra
Reihe
Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft 43
Erschienen
Anzahl Seiten
236 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Svea Bräunert, Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin

In ihrer ursprünglich als Master-Arbeit konzipierten Studie nähert sich die Literaturwissenschaftlerin Sandra Beck dem westdeutschen Terrorismus aus der Perspektive seiner literarischen Bearbeitungen an. Ziel der Autorin ist es, nicht nur einen Überblick zur literarischen Rezeption der Roten Armee Fraktion (RAF) von den 1970er-Jahren bis zur Gegenwart zu geben, sondern anhand von exemplarischen Einzelanalysen auch vielfältige Verbindungen zu den Diskursfeldern Terrorismus und Erinnerung herzustellen. Hierzu verweist sie einerseits auf das explosive Verhältnis von Wort und Tat, wie es beispielsweise Rolf Dieter Brinkmann artikulierte, als er 1968 während einer Veranstaltung in der Akademie der Künste zu dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sagte: „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie über den Haufen schießen!“ Andererseits betont Beck, dass der Literatur aufgrund der zunehmenden Repressionen im Zuge des ‚Deutschen Herbstes’ die Aufgabe zukam (und immer noch zukommt), die Sprachlosigkeit zu überwinden und Raum für abweichende Erinnerungen und Erzählungen zu schaffen.

Methodisch stützt sich die Autorin vor allem auf Gedächtnis- und Erinnerungstheorien, wie sie seit den 1980er-Jahren unter anderem von den Literatur- und Kulturwissenschaftler/innen Aleida und Jan Assmann, Astrid Erll und Ansgar Nünning entworfen worden sind. Im Anschluss an diese begreift Beck „Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses“ (S. 22), das als kritische Reflexion gesellschaftlicher Erinnerungsprozesse gelesen werden könne. Da (literarische) Konstruktionen der Vergangenheit stets auf die Bedürfnisse der Gegenwart und Zukunft ausgerichtet seien, würden sie Auskunft geben über ihren gesellschaftshistorischen Entstehungskontext, während sie zugleich Reflexionen der poetischen Praxis hervorbringen würden.

Diese erinnerungstheoretischen Prämissen dienen Beck als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, die an die Überblicksdarstellungen der literarischen RAF-Rezeption von Gerrit-Jan Berendse, Thomas Hoeps und Luise Tremel anschließen.1 Insbesondere die von Tremel in die Diskussion eingebrachte Periodisierung findet sich in der Dreigliederung von Becks Analyse wieder. Für die erste Phase von 1970 bis 1987 behandelt die Autorin unter der Überschrift „Konfrontationen“ jene Texte, „die unter dem unmittelbaren Eindruck des Deutschen Herbstes entstanden sind“ (S. 19). Peter-Paul Zahls Schelmenroman „Die Glücklichen“ von 1979 sowie Friedrich Christian Delius’ an der Schnittstelle zwischen Dokumentation und Fiktion angesiedelter Roman „Ein Held der inneren Sicherheit“ von 1981 dienen ihr als prägnante Textbeispiele dieser Zeit. Beide Romane, so Beck, stellen auf jeweils unterschiedliche Weise einen Versuch dar, die im Angesicht der staatlichen Repressionen und terroristischen Gewalt anwachsenden Spracheinschränkungen und -verluste zu überwinden. Jenseits der Grenzziehungen des Sympathisantendiskurses versuchen Zahl und Delius demnach Sprachräume zu öffnen und heterogenen und polyphonen Erzählungen einen (literarischen) Raum zu geben.

Im Vergleich zu dieser weitgehend als repressiv wahrgenommenen Atmosphäre erweiterten sich die Artikulationsmöglichkeiten der Autoren in der zweiten, unter der Überschrift „Erinnerungskonkurrenzen“ behandelten Phase von 1987 bis 1996. Mit Rainald Goetz’ „Kontrolliert“ von 1988 und Friedrich Christian Delius’ „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“ von 1992 stellt Beck zwei Romane in den Mittelpunkt, die im Feld der Literatur nicht nur terroristische Identifikationen im Spannungsfeld von Wort und Tat erproben, sondern die explizit auch Prozesse und Praktiken des Erinnerns problematisieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich mit Goetz und Delius erstmals zwei Autoren aus unterschiedlichen Generationen dem ‚Sujet RAF’ annehmen. Anhand von schriftstellerischen Verfahren und feuilletonistischen Auseinandersetzungen kann Beck überzeugend nachweisen, inwiefern sich die literarischen Erinnerungen an die RAF als generationenspezifisch motivierte Perspektiven lesen lassen.

In der dritten und letzten Phase, die die Autorin für die Zeit von 1997 bis zur Gegenwart ansetzt, spitzt sich diese Konstellation zum Generationenkonflikt zu. Leander Scholz’ 2001 erschienener Roman „Rosenfest“, den Beck gemeinsam mit Ulrich Woelks Krimi „Die letzte Vorstellung“ von 2002 unter der Frage „Das abgeschlossene Kapitel?“ behandelt, wurde in Feuilleton und Wissenschaft schnell zum Paradigma eines radical chic der Pop-Literatur erklärt. Und auch Beck sieht Scholz’ Buch vor allem als Beispiel einer im Zuge der deutschen Vereinigung von 1989/90 und der Auflösungserklärung der RAF von 1998 aufkommenden Pop-Literatur, die zwischen kritischer Dekonstruktion und „Romantisierung“ (S. 139) oszilliere. Neben dieser popkulturellen Entgrenzung konstatiert sie als zweite Entwicklung der späten 1990er-Jahre eine verstärkte Hinwendung zum Genre des Kriminalromans. Anhand von Woelks „Die letzte Vorstellung“ zeigt sie auf, wie sich der Topos der Erinnerungsarbeit mit der kriminalistischen Spurensuche verknüpfen lässt. „Der Mord fungiert in diesem Zusammenhang als Erinnerungsanlass, der die Beteiligten zu einer Reflexion und Rekonstruktion der eigenen deutsch-deutschen Vergangenheit zwingt.“ (S. 174)

Im Anschluss an dieses Drei-Phasen-Modell wagt Beck einen Ausblick auf die literarischen Entwicklungen seit den Anschlägen vom 11. September 2001. Die kurze Vorstellung deutscher und US-amerikanischer Romane und Essays, die sich mit ‚9/11’ auseinandersetzen, kommt jedoch kaum über eine summarische Aufzählung hinaus, und auch ihre Vermutung, dass „die belletristische Erinnerung an den ‚Nullpunkt der Weltgeschichte’ in Analogie zu den in dieser Arbeit skizzierten Phasen disparater Literarisierungen der RAF [...] verlaufen dürfte“ (S. 194), scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch wenig gestützt. Sinnvoller wäre hier vielleicht ein Ausblick auf die Frage gewesen, inwiefern die Ereignisse des 11. September die gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit der RAF beeinflussen – ein Thema, das Beck in ihrer Einleitung im Hinblick auf die Diskussionen um die Haftentlassungen von Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt (Anfang 2007) selbst aufgreift.

Insgesamt betrachtet befindet sich Becks „Reden an die Lebenden und an die Toten“ dennoch auf der Höhe der literaturwissenschaftlichen Forschung, die sich im Vergleich zu den Geschichts- und Sozialwissenschaften dem Thema des westdeutschen Terrorismus zunächst noch recht zögerlich zugewandt hat. Das ausführliche Literaturverzeichnis und die zahlreichen Querverweise bieten exzellente Einblicke in das seit einigen Jahren stetig anwachsende Forschungsfeld. Zugleich entgeht die Arbeit aufgrund ihrer Entscheidung für exemplarische Einzelanalysen der Gefahr einer reinen Inventarisierung. Die sorgfältig ausgesuchten Textbeispiele können Repräsentativität für ihre Zeit und ihr Genre beanspruchen, und die genaue Lektüre der Romane eröffnet interessante und weiterführende Einblicke. Die in sich schlüssige und überzeugende Textauswahl tröstet dabei auch über die Tatsache hinweg, dass alle Texte aus der Feder von Autoren stammen und somit Schilderungen aus weiblicher Perspektive nur am Rande Erwähnung finden.

Dass sich Beck als Literaturwissenschaftlerin maßgeblich auf Analysen aus dem Bereich der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur konzentriert, ist aufgrund der transmedialen Vielfalt künstlerischer RAF-Rezeptionen durchaus sinnvoll. Fraglich erscheint in diesem Zusammenhang jedoch ihre These, „dass der Kampf um die bundesdeutsche bzw. deutsch-deutsche Erinnerung an die Rote Armee Fraktion wesentlich im Medium der Literatur geführt wird“ (S. 26). Denn obwohl sich gerade die erste Generation der RAF auch als schriftdominiertes Phänomen verstehen lässt, so ist im Anschluss an Thomas Elsaesser dennoch darüber nachzudenken, warum „die RAF als nonverbal erinnert wird, während sie tatsächlich mit ihren Flugblättern, Erklärungen und Mitteilungen an die Presse in höchstem Maße verbal war“.2 Nicht zuletzt die kontroversen Diskussionen um die Kunstausstellung „Zur Vorstellung des Terrors“ in den Berliner Kunst-Werken oder um den Spielfilm „Der Baader-Meinhof-Komplex“ haben gezeigt, dass die Erinnerungen an die RAF auch und gerade jenseits der Literatur verhandelt werden.3

Alles in allem bietet Becks ausführliche und sorgfältig recherchierte Darstellung der literarischen Rezeption der RAF von 1970 bis zur Gegenwart gleichwohl all jenen Leserinnen und Lesern interessante Perspektiven, die sich einen Überblick zur literaturwissenschaftlich orientierten Erforschung des westdeutschen Terrorismus verschaffen wollen oder die auf der Suche nach textnahen Interpretationen ausgesuchter Arbeiten von Delius bis Goetz sind.

Anmerkungen:
1 Gerrit-Jan Berendse, Schreiben im Terrordrom. Gewaltcodierung, kulturelle Erinnerung und das Bedingungsverhältnis zwischen Literatur und RAF-Terrorismus, München 2005; Thomas Hoeps, Arbeit am Widerspruch. „Terrorismus“ in deutschen Romanen und Erzählungen (1837–1992), Dresden 2001; Luise Tremel, Li_terror_isierung. Die RAF in der deutschen Belletristik zwischen 1970 und 2004, in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, Hamburg 2006, S. 1117-1154.
2 Thomas Elsaesser, Terror und Trauma. Zur Gewalt des Vergangenen in der BRD, Berlin 2007, S. 94.
3 Siehe dazu die Dokumentationen und Debatten unter <http://www.zeitgeschichte-online.de/md=RAF-Inhalt> und <http://www.zeitgeschichte-online.de/md=RAF-Film-Inhalt>.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension