R. Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik

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Titel
Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933


Autor(en)
Graf, Rüdiger
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Sieg, Institut für Neuere Geschichte, Philipps-Universität Marburg

Die Berliner Dissertation von Rüdiger Graf widmet sich einem wichtigen Gegenstand, den Zukunftsvorstellungen der Menschen in der Weimarer Republik. Sie beschreibt Formen der Zukunftsaneignung in einer spannungsreichen Zeit und rückt ihnen analytisch mit dem Diskursverständnis des Philosophen Donald Davidson zu Leibe. Die Quellengrundlage mit mehr als tausend Artikeln und etwa 350 selbständigen Veröffentlichungen erscheint gewaltig. Doch bleibt sie, insbesondere im Bereich der Publizistik, wo acht von etwa 3.350 Zeitungen der Weimarer Republik systematisch ausgewertet wurden, durchaus überschaubar. Rein sachlich ist diese Konzentration kein Nachteil, wird doch für jedes politisch-weltanschauliche Milieu mindestens eine wichtige Zeitung untersucht, so dass vergleichende Gegenüberstellungen und inhaltliche Verknüpfungen möglich sind. Graf hegt Vorbehalte gegenüber den "so genannten großen Geister[n]", die sich nach seiner Auffassung "mit sehr speziellen Fragen in oftmals idiosynkratischer Weise beschäftigen", und hält Äußerungen auf "mittlere[m] intellektuellen Niveau" für aussagekräftiger (S. 52). Freilich spielen dann doch Denker wie Ernst Bloch, Hans Freyer, Martin Heidegger, Paul Tillich oder Hans Zehrer eine große Rolle, deren Texten nur mit interpretatorischer Subtilität beizukommen ist.

Als Einstieg wählt Graf den Sammelband "Deutschlands Köpfe der Gegenwart über Deutschlands Zukunft", der 1928 im Berliner Eigenbrödler-Verlag erschienen ist. Die etwa 700 Aussagen von Figuren des öffentlichen Lebens enthalten zahlreiche Bekenntnisse zum Deutschtum. Nicht jeder wählte eine so drastische Diktion wie der Dirigent Siegfried Ochs, der seine Leser aufforderte: "Schlagt die Parteien in Stücke, Deutsche seid!" (S. 72) Allgemein überwog die Überzeugung, dass das Bekenntnis zur Nation etwas Großes sei und die Einheit des Gemeinwesens verbürgen könne. Zugleich präsentierte der Band positive Haltungen gegenüber der Zukunft, die man sich keineswegs tiefschwarz vorgestellt habe.

In medias res geht das vierte Kapitel "Kulturbejahung gegen Untergangsprophetie und Fortschrittsoptimismus", das seinen plakativen Titel einem Innenumschlag der „Tat“ aus dem Jahre 1927 entnimmt. Dezidiert wird darin in Frage gestellt, "dass der Erste Weltkrieg den endgültigen Bruch mit dem Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts markiert" (S. 84), die sich in der neueren Kulturgeschichtsschreibung großer Beliebtheit erfreut. Und die von Eberhard Kolb, Hans-Ulrich Wehler und vielen anderen vertretene These, dass die pessimistische Stimmung seit der Weltwirtschaftskrise den Aufstieg der NSDAP begünstigt habe, erscheint Graf als unzulässige Vereinfachung. Stattdessen konstatiert er einen Gestaltungsoptimismus, der die Zukunftshaltung aller politischen Lager entscheidend geprägt habe.

Am leichtesten fügen sich dem Interpretationsansatz Texte aus dem Umfeld der "Konservativen Revolution", die sich ohne große Mühe auf das Spannungsverhältnis von Kontinuität und Bruch befragen lassen. Gerade mit ihrer Revolutionsemphase verweisen sie auf ein positives Zukunftsverständnis und den Willen zur Gesellschaftsgestaltung. In der emphatisch bejahten Revolution liegen zudem Anknüpfungspunkte zur nationalsozialistischen Bewegung, die so häufig herausstellte, dass alles anders und damit besser werden müsse. Die Intensität der Nahziel-Erwartungen zeige die Beliebtheit der Vorstellung vom "Dritten Reich". Der umtriebige Organisator Moeller van den Bruck verdankte ihr seinen größten Bucherfolg, und der Jenaer Verleger Eugen Diederichs stellte die in seinem Haus erscheinende Zeitschrift „Die Tat“ schon früh in den Dienst dieser Idee. Hitler wiederum liebte es, in seinen Reden die Zukunftsaussichten des deutschen Volkes plastisch auszumalen.

Erheblich schwerer fällt es, im linken Spektrum einen ausgeprägten Gestaltungsoptimismus auszumachen. Die Kommunisten hatten mit dem Ausbleiben der Weltrevolution zu kämpfen, während Emigranten aus der Sowjetunion desillusionierende Nachrichten über den inhumanen Charakter des neuen Gemeinwesens verbreiteten. Gewiss gab es auch die gezielte Aufwertung des staatssozialistischen Projekts, aber sie erreichte meist nur die ohnehin Überzeugten. Breiten Raum widmet Graf dem Utopie-Diskurs der Weimarer Republik, in dem jüdische Intellektuelle eine wichtige Rolle spielten. Doch bei aller Faszination, die ein kühner Schwärmer wie Ernst Bloch im Rückblick ausstrahlt: Über seine zeitgenössische Wirkung sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Die Sozialdemokratie wiederum kämpfte mit den Widrigkeiten des politischen Alltags und hatte für utopische Visionen kaum Bedarf.

Die Krise des Liberalismus verhinderte, dass optimistische Zukunftsvorstellungen im bürgerlichen Lager bestimmend wurden. Hatte man im Kaiserreich noch vertrauensvoll nach vorn geschaut, konnte man nun bei jeder Wahl erleben, wie das eigene politische Fundament bröckelte. Und die bei den Deutschnationalen gern beschworene Denkfigur des "Dennoch!" war wohl weniger ein Zeichen für Zukunftsoptimismus als für trotzige Rückwärtsgewandtheit. Hellsichtig erklärte Theodor Wolff 1931 die nationalsozialistischen Erfolge mit ihrer virtuosen Zukunftsrhetorik und musste dabei mit bedenken, dass der Liberalismus von Tag zu Tag weniger Zukunft hatte. Graf mag recht haben, wenn er die "permanente[n] Neudefinitionen und Akzentverschiebungen des Utopiebegriffs" unterstreicht (S. 355). Allein, die Intensität der Debatten sagt noch wenig über ihre gesellschaftliche Reichweite und politische Virulenz.

Ungeachtet der komplexen Befundlage unterstreicht Graf nachdrücklich die optimistische Orientierung aller politischen Lager. Wie ist eine derart einseitige Darstellung möglich? Es liegt gewiss nicht an der Sachkenntnis des Autors, der eine breite Literatur heranzieht und souverän beherrscht. Mit einem umfangreichen Register versehen, erschließt die flüssig geschriebene Studie den Zukunftsdiskurs der Weimarer Republik und bietet selbst dem Spezialisten Trouvaillen und neue Ideen. Bedauerlicherweise bleiben die historischen Hintergründe der interpretierten Quellen viel zu häufig abgeblendet.

So springt Graf aus der Zeit der Hyperinflation in die Phase der Präsidialkabinette und wieder zurück in den Ersten Weltkrieg, um den "Charme der radikalen Dichotomie" (S. 161) des Entweder-Oder zu erweisen. Über die verheerenden Folgen der Kriegsniederlage, die Härte des Ruhrkampfs oder die jüdischen Ängste vor den Nationalsozialisten erfährt der Leser fast nichts. Bezeichnenderweise gibt es kaum quellenkritische Erörterungen. Wahlkampf-Äußerungen und Neujahrsgrüße werden angeführt, um den optimistischen Charakter des Zukunftsdiskurses zu erweisen. Dabei lassen die öffentliche Begrüßung eines neuen Jahres und die konkrete politische Auseinandersetzung nun wirklich wenig Raum zu exzessivem Selbstzweifel. Da gänzlich auf die Auswertung ungedruckter
Dokumente verzichtet wird, bleibt überdies unklar, ob die ideologischen Fanfarenstöße und journalistischen Positionierungen tatsächlich dem Selbstverständnis der behandelten Autoren entsprechen.

Bedenklich stimmt zudem die ungleichgewichtige Definition der Zentralbegriffe. Der Optimismus-Begriff ist so weit, dass selbst die gegenwartsskeptische Haltung konservativer Politiker im Umfeld der „Kreuzzeitung“ subsumiert werden kann, solange diese der Zukunft mit einer gewissen Hoffnung gegenüberstanden. Der äußerst rigide Pessimismus-Begriff wirft hingegen die Frage auf, wer sich ihm überhaupt zuordnen lässt. Selbst apokalyptische Untergangsvisionen deutet Graf als Ausdruck von Optimismus, weil sie implizit auf eine bessere Zukunft verwiesen. Generell werden die Quellen vor allem zur Bestätigung der eigenen Auffassung präsentiert, und ihr Veto spielt kaum eine Rolle. Für eine Studie, die sich ausdrücklich auf Reinhart Koselleck bezieht, ist dies ein erstaunlicher Befund.

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