Titel
Feindbild Judentum. Antisemitismus in Europa


Herausgeber
Rensmann, Lars; Schoeps, Julius H.
Erschienen
Anzahl Seiten
512 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Kloke, Cornelsen Verlag, Berlin

Noch eine von zahlreichen Untersuchungen zum Antisemitismus, die in den letzten Jahren erschienen sind? Diesen Eindruck könnte gewinnen, wer nur den Buchtitel wahrnimmt. Doch wer sich die Mühe macht, die einzelnen Beiträge des von den renommierten Antisemitismusforschern Lars Rensmann und Julius H. Schoeps herausgegebenen Sammelbandes zu lesen, wird rasch eines Besseren belehrt und stößt auf ebenso informative wie innovativ-kluge Analysen.

Einem ungewöhnlich breiten Spektrum internationaler Politik- und Sozialwissenschaftler gelingt es, das zeitlos anmutende Phänomen des Antisemitismus im europäischen Kontext zu vergleichen und länderbezogen zu analysieren. Ihre Befunde sind beunruhigend, weil sich Formen und Ausmaße des Antisemitismus als überraschend beharrlich erwiesen haben. Noch bedrückender ist die Tatsache, dass klassische Symptome grenzüberschreitender Judenfeindschaft seit den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts eine dramatische Renaissance erleben. In zwölf Länderstudien befassen sich jeweils einschlägig ausgewiesene Spezialisten mit der Situation in Frankreich, Italien, Großbritannien, Spanien, Schweden und Skandinavien, in der Schweiz, Österreich und Deutschland sowie in Polen, der Ukraine und Ungarn. Darüber hinaus bietet der Band vertiefende Einsichten in die Hermeneutik heutiger Symptome der Judenfeindschaft im Kontext der Globalisierung und führt beispielhaft in die interpretatorischen Herausforderungen der empirischen Meinungsforschung ein.

Ein wenig verwunderlich ist gleichwohl die zeitgeschichtliche Kurzatmigkeit, mit der die meisten Autoren ihre Aufsätze versehen: Wer sich die umfangreichen Quellenapparate und zum Teil redundanten Quellenverzeichnisse anschaut, könnte den Eindruck gewinnen, die publizistische und wissenschaftliche Aufarbeitung des so genannten „neuen“ Antisemitismus habe erst nach dem epochalen Umbruch von 1989 begonnen. Die Frage muss erlaubt sein, ob nicht die Einbeziehung älterer Untersuchungen und Reflexionen zu den vermeintlich progressiven Vorläufern des heutigen Mainstream-Antisemitismus – von Edmund Silberner 1 über Jean Améry 2, Henryk M. Broder 3 bis hin zu Martin Kloke 4 – den historisch-analytischen Blick hätte schärfen können.

Sei’s drum: Ungeachtet partikularer Unterschiede in den Ausprägungen judenfeindlicher Ressentiments in Europa bewegt die Autoren immer wieder das wesenhafte Proprium des seit einigen Jahren antizionistisch dominierten Judenhasses: Handelt es sich beim so genannten Schuldabwehr- oder Sekundär-Antisemitismus (Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz!) um einen „neuen“ Antisemitismus oder aber um die nur notdürftig „israelkritisch“ camouflierte Ausprägung jenes „alten“ Antisemitismus, der seine Ressentiments in scheinbar ehrbarer Gestalt – wahlweise im Namen der Vergangenheitsbewältigung, der Menschenrechte oder des Antirassismus – transportiert und kommuniziert. Es ist nicht ohne Ironie, dass inzwischen ausgerechnet rechtsradikale Parteien das von linken Antizionisten geprägte Verdikt vom angeblich zionistischen „Apartheitsstaat“ bemühen, obwohl es gerade die radikale Rechte ist, die im geistigen Gepäck als Zielvorstellung traditionell die Apartheid der „Rassen“ mit sich schleppt.

Am Beispiel der bis weit in den Mainstream reichenden Konditionalisierung des Existenzrechts Israels wird deutlich, dass hierzulande weniger die tumb-dreiste Holocaust-Leugnung das zentrale Problem ist als vielmehr jene niederträchtige Universalisierung der Schoah, in der die Verfolgung und Vernichtung weiter Teile des europäischen Judentums durch Nazi-Deutschland auf heutige Kontexte projiziert und damit letztlich verharmlost wird – insbesondere durch die Gleichsetzung mit der Lage der Palästinenser als den angeblichen „Opfern der Opfer“. So wird ausgerechnet der Holocaust und seine „kritische“ Aufarbeitung zum legitimen „Referenzpunkt“ der Wiederkehr des Antisemitismus missbraucht (Emanuele Ottolenghi, S. 90).

Eine ebenfalls beliebte Form des antisemitischen Ressentiments besteht in der assoziativen Verknüpfung verschwörungstheoretischer Phantasmen: So halluzinieren zeitgenössische Antisemiten gerne die angeblich jüdisch dominierten „Neocons“. Sie seien als die Drahtzieher amerikanischer Kriege in Afghanistan und Irak nichts anderes als Marionetten der israelischen Regierung – letztere würden insofern die Grundlinien amerikanischer Außenpolitik bestimmen. Die „Entlarvung“ der vermeintlichen Machenschaften dieser „Israel-Lobby“ ist im Koordinatensystem „progressiver“ antisemitischer Ideologen bis heute eine beliebte Übung (ebd., S. 92).

In liberalen und linken Diskursen Europas ist auch die „Kultur der Verleugnung“ (Henrik Bachner, S. 172) ein weit verbreitetes Phänomen: Demzufolge wird der heutige Antisemitismus als „Israelkritik“ bagatellisiert und verdrängt – und nötigenfalls implizit als eine logische Konsequenz aus der herrschenden israelischen Politik gerechtfertigt: „Die Debatte um den Nahen Osten fungiert [...] als Magnet für Antisemitismus, weil sie eine öffentliche Arena bietet, in der es legitim ist, negative Ansichten über Juden zu äußern, da sie in diesem Kontext einfach als Kritik an Israel, am Zionismus oder an der Außenpolitik der USA verpackt und rationalisiert werden können“ (ebd., S. 175).

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie sehr der Antisemitismus in unseren Breitengraden nicht nur von Kontinuität geprägt ist, sondern zugleich auch ein hohes Maß an Flexibilität, Elastizität und Anpassungsvermögen aufweist. Sind der Schuldabwehr-Antisemitismus und die israelbezogene Judenfeindschaft nun Ausdruck eines „neuen“ oder doch die bloße Wiederkehr des „alten“ Antisemitismus? Weder noch: Der aktuelle Antisemitismus weist in seiner ideologischen Stoßrichtung und Rechtfertigung zwar durchaus eine neue Semantik und eine zeitgeistgeprägte variable Konfiguration auf; zugleich haben aber die alten Metaphern und Codes sowie Stereotype und Projektionen vom Juden als dem Anderen und Fremden den vordergründigen Tapetenwechsel überdauert. Die Bekämpfung des Antisemitismus mag wie eine aussichtlose Sisyphus-Arbeit anmuten; ungeachtet dessen ist sie ebenso alternativlos wie unverzichtbar für eine Welt, die nicht wieder in der Barbarei versinken will.

Anmerkungen:
1 Vgl. Edmund Silberner, Sozialisten zur Judenfrage. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914, Berlin-West 1962; Ders., Kommunisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und Praxis des Kommunismus, Opladen 1983.
2 Vgl. Jean Améry, Zwischen Vietnam und Israel. Das Dilemma des Engagements, in: Die Weltwoche (Zürich), 9.6.1967, S. 25; Ders., Der ehrbare Antisemitismus. Die Barrikade vereint mit dem Spießer-Stammtisch gegen den Staat der Juden, in: Die Zeit (Hamburg), Nr. 30, 25.7.1969, S. 16.
3 Vgl. Henryk M. Broder, Antizionismus – Antisemitismus von links? In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament (Bonn), Nr. 24, 12.6.1976, S. 31–46; Ders., Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls, Frankfurt am Main 1986 (2005 in Berlin mit einem Vorwort des Autors wieder unverändert aufgelegt).
4 Vgl. Martin Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses (DIAK-Schriftenreihe, Band 20), Frankfurt am Main 1990 (1994 aktualisiert und erweitert; mit einem Vorwort von Micha Brumlik).

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