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Titel
Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus. Studien zu ihrer Sammlung und Entstehung


Autor(en)
Hengel, Martin
Reihe
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 224
Erschienen
Tübingen 2008: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XI, 420 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paul Metzger, Institut für Evangelische Theologie, Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz

Man kann Martin Hengel selten vorwerfen, er beschäftige sich mit Nebensächlichkeiten der theologischen Wissenschaft. Auch in seiner neuesten Untersuchung „Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus“, die auf mehreren bereits publizierten Vorstufen beruht, greift er zwei wesentliche Problemkreise auf: „1. Wie verhält sich das systematisch-lehrhafte eine Evangelium, das Paulus verkündigte und das wir aus einen Briefen kennen, zu dem erzählenden ‚biographischen‘, schriftlichen Bericht über Jesu Leben, Lehre und Sterben“ (S. 9). Zum zweiten geht er ein ganzes Bündel an Fragen an: „Wie kommt es, daß wir die Erzählung von Jesu Wirken und Leiden gleich in vierfacher Form und dazu nicht selten noch in widersprüchlicher Gestalt im Kanon des Neuen Testaments besitzen, und wie alt sind diese vier Evangelien, und wer sind ihre Autoren?“ (S. 11).

Noch in der Einleitung weist Hengel meines Erachtens den richtigen Weg zur Beantwortung der ersten Frage: „Mußte das Evangelium nicht – notwendigerweise – von Anfang an beides [Lehre und Erzählung] enthalten?“ Es kann kaum ein Zweifel an der Annahme Hengels bestehen, dass Paulus auf seinen Missionsreisen von Jesus und den Geschehnissen um seine Person erzählt hat (S. 244ff.). So folgert er zutreffend: „Die Verkündigung des gekreuzigten Messias führt mit innerer Notwendigkeit zur Erzählung seiner Worte und Taten und am Ende zur Evangelienschreibung“ (S. 246). Ebenso wie das Judentum die Exodus-Erzählung als grundlegenden Mythos seiner selbst kennt, brauchte auch das entstehende Christentum eine solche Erzählung (S. 262ff.). Dass dabei derselbe Begriff verwendet werden konnte, erklärt sich aus der Identität der Sache. Genauso ist auch die Vielfalt der Evangelien zu begründen: „Das Werk Christi und die von ihm ausgehende Botschaft ließ sich nicht zureichend im theologischen Entwurf eines einzigen christlichen Lehrers zusammenfassen“ (S. 272).

Während also die erste Frage für mich relativ leicht zu beantworten ist, scheint mir der Blick in den Bücherschrank der römischen Gemeinde, den Hengel den Leser werfen lässt, ungleich reizvoller. Die Fülle der gebotenen Fakten und Belege, die er zur Beantwortung des zweiten Problemkreises heranzieht, zeugt vom ernsthaften und akribischen Ringen um das Problem der vier Evangelien. Hengel bespricht hier neben den berühmten Belegstellen bei Irenäus und Papias auch Texte von Justin, Clemens Alexandrinus und anderen. Gegenüber der in der neutestamentlichen Wissenschaft zur Zeit vorherrschenden historischen „Hyperkritik“ hebt sich Hengel wohltuend ab und erklärt über weite Strecken relativ einfach die Herausbildung des Vier-Evangelienkanons. Er vermutet, dass die Angaben des Irenäus zu den Evangelien aus „dem römischen Gemeindearchiv“ (S. 67) stammen, und nimmt an: „Wo […] verschiedene alttestamentliche Schriften regelmäßig verlesen wurden, benötigte man auch ein Äquivalent für den jüdischen Toraschrein, das heißt einen christlichen Bücherschrank oder ein Gemeindearchiv, in dem die verwendeten Bücher in einer relativ festen Reihenfolge mit Titeln versehen griffbereit für die gottesdienstliche Lesung […] aufbewahrt wurden“ (S. 200). Sieht man von der Angabe zu Matthäus ab, zeige sich, dass dieses Archiv „über die historischen Entstehungsverhältnisse der Evangelien erstaunlich gut informiert“ ist (S. 73). Während das Matthäusevangelium aufgrund seiner Autorität als vermeintliche Apostelschrift an den Anfang gerückt sei (S. 141), gehe die weitere Anordnung der Evangelien „auf die Reihenfolge in den kirchlichen Bücherschränken zurück“, die wiederum ihrer zeitlichen Entstehung geschuldet sei (S. 77).

Die Bezeichnungen der Evangelien seien weiter durch den gottesdienstlichen Gebrauch notwendig, da anonyme Schriftlesungen sehr unwahrscheinlich seien (S. 69). Deshalb vermutet Hengel, dass die Evangelienüberschriften von Anfang zu einem Evangelium gehört haben: „sie waren im 2. Jahrhundert bereits völlig einheitlich und sind meines Erachtens Bestandteile des Textes der vier Evangelien, die von Anfang an nicht titellos verbreitet wurden“ (S. 88). In der Tat wäre es historisch sehr seltsam, wenn im gottesdienstlichen Gebrauch Schriften verlesen würden, von denen niemand weiß, wo sie herkommen und wer sie geschrieben hat. Auch der Hinweis Hengels, dass es im 2. Jahrhundert keine Instanz gegeben habe, die eine einheitliche Titulatur der Evangelien hätte durchsetzen können, überzeugt (S. 91). So folgert er zutreffend: „Man war […] schon ganz früh an der Verfasserschaft, und das heißt zugleich auch an der ‚apostolischen Autorität‘ der im Gottesdienst verwendeten Schriften interessiert“ (S. 94). Welche Evangelien-Bücher wurden aber in die Bücherschränke aufgenommen? Wie schon mehrfach in seinen Werken ausgeführt 1, vertritt Hengel nun die Ansicht, dass hinter dem Markusevangelium die Autorität des Petrus steht (S. 146f.). Von daher gewinne das Evangelium des in Rom persönlich bekannten Markus das Gewicht, das es Eingang finden lässt in den römischen Bücherschrank (S. 85 u. 207ff.). Der unbekannte Autor des Matthäusevangeliums rezipiere es deshalb, weil er ebenfalls Petrus als herausgehobenen Apostel betonen will (S. 171). Dieser unterstelle sein Werk der Autorität des Apostels Matthäus und erlange damit Anerkennung in Rom. Lukas wird von Hengel als Schüler und Begleiter des Paulus erkannt und mit dem in Kol 4,14 genannten „geliebten Arzt“ identifiziert (S. 175). Der Titel seines Evangeliums sei durch dessen Verbreitung erfolgt, die der hochgeehrte Theophilus (Lk 1,1–4), ein römischer Aristokrat, initiiert und dabei den Titel des Markusevangeliums als Vorbild benutzt habe. So habe sich schließlich ein „Titelzwang“ ergeben (S. 181), dem sich auch die Herausgeber des Johannesevangeliums nicht entziehen konnten, obwohl sie mit dem Begriff „Evangelium“ wenig anfangen konnten (S. 182). Die verschiedenen Bücherschränke christlicher Gemeinden „müssen […] im Blick auf die Entstehung und Verbreitung der alt- und neutestamentlichen christlichen Literatur […] in einem engen Zusammenhang gesehen werden. Die römische Gemeinde wird hier aufgrund ihrer Größe und Bedeutung eine maßgebliche Rolle gespielt haben“ (S. 208).

Als Anhang (Postscriptum) präsentiert Hengel seine Hypothese zur Entstehung der Evangelien. Hier verdient vor allem ein Satz volle Zustimmung, der quasi als Vorzeichen vor den weiteren Ausführungen fungiert: „Die Entstehungsgeschichte der Evangelien ist auf jeden Fall viel komplizierter, als wir annehmen, und daher oft nicht mehr wirklich im Detail durchschaubar“ (S. 128). Eingedenk dieser Warnung vertritt Hengel die Hypothese, dass der Autor des zwischen 90 und 100 n.Chr. entstandenen Matthäusevangeliums nicht nur das um 70 n.Chr. entstandene Markus-, sondern auch das zwischen 75 und 80 entstandene Lukasevangelium benutzt habe. Hengel zeigt sich zu Recht skeptisch gegenüber der traditionellen Zwei-Quellen-Theorie, bei der mittlerweile eine Fülle von Hypothesen insbesondere auf der unbekannten Quelle Q erbaut wurden und die nur durch Zusatzannahmen aufrecht erhalten werden kann (S. 274ff.). Indem Hengel eine Hypothese favorisiert, nach der alle Evangelisten auf unterschiedliche Weise an einer Logientradition und Erzählüberlieferung teilhaben und Markus darüber hinaus als Vorlage für Lukas und die beiden wiederum als Vorlagen für Matthäus fungieren, löst er das gewichtige Problem der „Minor-Agreements“.

Ohne im Detail die Probleme der synoptischen Frage und der Entstehung der Evangelien besprechen zu können, halte ich den Entwurf Hengels insgesamt für bedenkenswert. Er erhellt viele Probleme und verweist mit Nachdruck auf die historische Dimension der neutestamentlichen Wissenschaft, die zurzeit sehr auf literaturtheoretische Fragestellungen abhebt (S. 197). Lediglich die letzten Schritte Hengels möchte ich nicht mitgehen. Wenn Lukas wirklich ein Begleiter des Paulus gewesen sein soll, warum gesteht er dann seinem Meister nicht den Aposteltitel zu, um den dieser so entschieden ringt? Und warum lässt sich die paulinische Kreuzestheologie so wenig im lukanischen Doppelwerk zeigen? Auch bei Markus bin ich hinsichtlich der letzten Vermutung Hengels skeptisch. Dass das Evangelium von einem Begleiter des Petrus in Rom verfasst wurde, halte ich zwar für plausibel, dass dieser Markus aber mit dem Johannes Markus aus Act 12,12. 25 zu identifizieren und dass der Evangelist sowohl Petrus als auch Paulus kannte (S. 144), scheint mir dann doch zu weit gedacht. Vielleicht sollten wir uns als Historiker gerade bescheiden und zugeben, dass wir Lukas und Markus genauso wie Matthäus schlicht nicht identifizieren können. Insgesamt ist dieses Buch von Martin Hengel wieder uneingeschränkt zur Lektüre zu empfehlen. Vor allem die sich vielfach in Fußnoten findenden, zuweilen äußerst pointiert vorgetragenen Mahnungen sind für den Fachkollegen immer wieder eine Freude.

Anmerkung:
1 Vgl. zuletzt Martin Hengel, Der unterschätzte Petrus. Zwei Studien, 2. Aufl., Tübingen 2007, S. 22ff. u. 58ff.

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