Bundesministerium für Justiz u.a. (Hrsg.): 80 Jahre Justizpalastbrand

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Titel
80 Jahre Justizpalastbrand. Recht und gesellschaftliche Konflikte


Herausgeber
Ministerium für Justiz; Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft; Cluster Geschichte
Reihe
Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Geschichte und Gesellschaft 33
Erschienen
Wien 2008: StudienVerlag
Anzahl Seiten
171 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelius Lehnguth, Institut für Politikwissenschaft, Universität Leipzig

Anlässlich des 80. Jahrestages des Justizpalastbrands fand im Juli 2007 in Wien ein Symposium über „Justiz und Zeitgeschichte“ statt, bei dem ein Dutzend Historiker und Juristen über die Vorgänge im Jahr 1927 referierte. Das Bundesministerium für Justiz und das Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft hat nun die Beiträge in einem Tagungsband unter dem Titel „80 Jahre Justizpalastbrand. Recht und gesellschaftliche Konflikte“ veröffentlicht.

Der Justizpalastbrand 1927 gilt in der österreichischen Zeitgeschichte gemeinhin als innenpolitischer Wendepunkt der Ersten Republik. Infolge eines skandalösen Freispruchs rechtsextremer Frontkämpfer, die im burgenländischen Schattendorf bei einem Aufmarsch des sozialdemokratischen Schutzbundes zwei Demonstranten erschossen hatten, kam es am 15. Juli 1927 in Wien zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Polizei. Dabei wurde der Justizpalast als Symbol der „Klassenjustiz“ in Brand gesetzt. Dieser Zusammenstoß hatte durch das brutale Eingreifen der Polizei nicht nur den Tod von über neunzig Menschen zur Folge, sondern auch langfristig trat eine politisch-kulturelle Veränderung ein, die zugunsten der konservativen antidemokratischen Kräfte den Weg in die autoritäre Ständestaatsdiktatur ebnete.

Die Beiträge des Tagungsbands beleuchten die verschiedenen zeitgeschichtlichen und juristischen Aspekte dieses historischen Wendepunkts. Gerhard Botz, der sich seit Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit mit der politischen Gewalt in der Ersten Republik beschäftigt 1, nimmt in seinem Beitrag neben Archiv- und Printquellen mehr als 100 zeitgenössische Fotos als Grundlage seiner minutiösen Analyse auf. Mithilfe von Schattenbeobachtungen hat er die Fotos zeitlich datieren können und kommt dadurch zu neuen Erkenntnissen über den Ablauf des 15. Juli 1927. So könne „deutlicher als bisher belegt werden, in welchen wechselseitigen Eskalationsschritten die Konfrontationen mit der Polizei, der Angriff auf den Justizpalast und schließlich der ebenso brutale wie unprofessionelle blutige Einsatz der Polizei sich entwickelten“ (S. 30). Auch zeigen sowohl die Fotos als auch seine sozialstatistischen Erhebungen die zeitlich unterschiedliche Zusammensetzung der Demonstranten. Während am Vormittag insbesondere Gemeindebetriebsarbeiter mittleren Alters auf dem Ring Richtung Parlament und Justizpalast zugegen waren, veränderte sich später das Sozialprofil insofern, als während der Eskalation die jüngeren Altersgruppen als Aktivisten dominierten. Darüber hinaus zeigen die Fotos – fünfzehn sind im Tagungsband abgelichtet –, dass sich vor dem brennenden Justizpalast auch viele „Bessergestellte“ im feinen Zwirn befanden, die neugierig das Geschehen beobachteten (S. 44).

Die Julirevolte war die Reaktion auf das Schattendorfer Gerichtsurteil, das mit seinem Freispruch für Empörung und Verbitterung unter den Sozialdemokraten sorgte. Klaus Schröder versucht sich an einer Bestandsaufnahme der Gerichtsakten und fördert dabei interessante Aspekte zutage. Bei dem Prozess gegen die drei Frontkämpfer handelte es sich um ein Schwurgerichtsverfahren; von den dreißig geladenen Geschworenen wurden vor Beginn der Hauptverhandlung in nichtöffentlicher Sitzung zwölf Geschworene ausgelost. Die Geschworenenbank war in der Bewertung des Vorfalls gespalten. Verneinten noch neun der zwölf Geschworenen die Hauptfrage nach Verbrechen der öffentlichen Gewalttätigkeit, welche bei einer Bejahung Strafen von zehn bis zwanzig Jahren „schwerer Kerker“ nach sich gezogen hätte, wurde die zweite Eventualfrage nach dem Vergehen gegen die Sicherheit des Lebens (fahrlässige Tötung wegen Notwehrüberschreitung) mit sieben Stimmen bejaht. Doch die damals geltende Strafprozessordnung erforderte für einen Schuldspruch eine Zwei-Drittel-Mehrheit und somit wurden die vom Gründer der nationalsozialistischen DNSAP, Walter Riehl, verteidigten Angeklagten freigesprochen. Schröder zeigt sich „verwundert“, dass der Schwurgerichtssenat „trotz des offensichtlichen krassen Fehlurteils“ nicht eine neuerliche Beratung und Verbesserung des Wahrspruches der Geschworenen beantragte (S. 97). Hält man sich vor Augen, dass die Richterschaft in der Ersten Republik politisch überwiegend auf Seiten der Konservativen und Deutschnationalen stand, müsste sich die Verwunderung über diese Unterlassung eigentlich in Grenzen halten. Die österreichische Richterschaft agierte nicht nur einseitig, sondern – wie Therese Hurch in ihrem Beitrag aufzeigt – sie brachte auch keinerlei Verständnis für den Unmut der Demonstranten auf. In einer Ende Juli 1927 veröffentlichten „Entschließung an die Österr. Bevölkerung“ gab die Richtervereinigung einzig den als „unverantwortliche[n] Hetzer[n]“ diffamierten Urteils-Kritikern die „Blutschuld“ und lobte demonstrativ das brutale Vorgehen der Polizei als „heroische Pflichttreue“ (S. 133).

Zu den von der Richtervereinigung als „unverantwortliche Hetzer“ Diffamierten gehörte auch Friedrich Austerlitz. Der Chefredakteur der sozialdemokratischen „Arbeiter-Zeitung“ unterzog dem Wahrspruch der Geschworenen in einem Leitartikel vom 15. Juli 1927 „einer fundamentalen, einer fürchterlichen Kritik“ (S. 83). Nach Ansicht von Wolfgang Maderthaner war dessen Kritik von „besonderer Bedeutung“, kam sie doch „von einem, der sich um die Wiederherstellung der Schwurgerichtsbarkeit noch während des Ersten Weltkriegs bleibende Verdienste erworben hatte“ (S. 83). Maderthaner skizziert in seinem Beitrag deren generelle Bedeutung für die österreichische Sozialdemokratie. Denn diese sah – anders als die meisten Richter seinerzeit – in der Schwurgerichtsbarkeit „ein wesentliches Moment einer gegen die Kabinettsjustiz gerichteten so genannten ‚Volkjustiz’“ (S. 90) und galt deshalb als „sakrosankt“ (S. 91). Heute sticht dieses demokratiepolitische Argument nicht mehr ohne weiteres. Roland Miklau stellt in seinem Beitrag die Vor- und Nachteile des Geschworenengerichts gegenüber. Von den einen als ein vom Staat unabhängiges „Laienelement zur Kontrolle und Ergänzung des homogenen Berufsrichtertums“ verteidigt, machen dessen Kritiker dagegen geltend, dass „das Berufsethos der […] Berufsrichter heute deren Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit ausreichend gewährleiste“ (S. 75). Letztendlich sei aber davon auszugehen, so Miklau, dass die Schwurgerichtsbarkeit aufgrund der fortschreitenden Professionalisierung „nicht überleben“ werde (S. 82).

Was blieb übrig vom 15. Juli 1927? Nach Ansicht von Gerhard Botz ist dieser Tag „in der ‚kollektiven österreichischen Erinnerung’ stärker präsent gewesen […] als der Schutzbundaufstand 1934“ (S. 21). Denn während es sich bei dem Justizpalastbrand um ein nationales Großereignis handelte, waren während des Schutzbundaufstandes, dem sozialdemokratischen Gedächtnisort par excellence, weit weniger Menschen involviert. Schon frühzeitig habe die Zeitgeschichtsforschung, so Siegfried Mattl, den 15. Juli 1927 „als ein entscheidendes Datum erfasst und […] in die Meistererzählung der Zweiten Republik integriert“ (S. 138). Doch nicht nur innerhalb der Zeitgeschichtsforschung spielte der Justizpalastbrand eine prominente Rolle, auch als Teil des literarischen Gedächtnisses blieb er jahrzehntelang präsent. Ihm wurde nicht nur publizistisch durch solch unterschiedliche Autoren wie Karl Kraus, Carl von Ossietzky und Heinrich Mann ein Denkmal gesetzt, sondern er fand – wie Gerald Stieg nachzeichnet – auch Eingang in das literarische Werk von Elias Canetti und Heimito von Doderer (S.145-154).

Die Beiträge des Sammelbands unterscheiden sich sehr in ihrer Qualität. Während einzelne Beiträge wie jene von Gerhard Botz oder Wolfgang Maderthaner interessante Neuerkenntnisse liefern, stehen andere auf der Grundlage bereits erschienener Studien. Auch haben sich mehrere Referierende leider nicht der Mühe unterzogen, ihre Vorträge zur Veröffentlichung lesegerecht umzuarbeiten. Regelrecht ärgerlich sind die vielen orthografischen Fehler; da wäre mehr Aufmerksamkeit seitens des Lektorats zu wünschen gewesen. Positiv hervorzuheben hingegen ist der vollständige Abdruck der Schattendorfer Gerichtsakten, mithilfe derer sich der Leser ein eigenständiges Bild vom Prozessablauf machen kann. Und so bleibt schlussendlich festzuhalten, dass es sich bei dem Tagungsband trotz einzelner Mängel um einen erfolgreichen Versuch handelt, die Wechselseitigkeit von juristischen und zeitgeschichtlichen Aspekten hinsichtlich des Justizpalastbrands aufgezeigt und miteinander in Beziehung gesetzt zu haben.

Anmerkung:
1 Gerhard Botz: Beiträge zur Geschichte der politischen Gewalttaten in Österreich von 1918 bis 1933, phil. Diss., Wien 1966; Gerhard Botz: Gewalt in der Politik, München 1976.

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