Titel
Aggressive Medien. Zur Geschichte des Wissens über Mediengewalt


Autor(en)
Otto, Isabell
Reihe
Formationen der Mediennutzung
Anzahl Seiten
339 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicolas Pethes, Institut für neuere deutsche und europäische Literatur, FernUniversität Hagen

Lange bevor die Medienwissenschaft am Ende des vergangenen Jahrhunderts akademisch institutionalisiert wurde, prägte eine wissenschaftliche Forschungstradition das öffentliche Bild der Massenmedien. Gegenstand dieser Forschungstradition war die gefährliche Wirkung von Gewaltdarstellungen in visuellen Medien – ein Problem, das am Anfang des 21. Jahrhunderts in Bezug auf das Internet und Videospiele und insbesondere im Anschluss an Amokläufe wie in Columbine oder Erfurt immer wieder aufgeworfen wird. Beginnend mit der frühen Kritik des Kinos als Suggestionsmedium, über die Propagandaforschung während der zwei Weltkriege und immer subtileren Werbetechniken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Frage nach den schädlichen Folgen insbesondere des Fernsehens (vor allem) auf Kinder der Dauerbrenner einer sozialpsychologisch argumentierenden Medienwirkungsforschung.

Die Dissertationsschrift von Isabell Otto, die im Rahmen des Teilprojekts „Sondierungen der Mediennutzung“ des Kölner Forschungskollegs „Medien und kulturelle Kommunikation“ entstand, ist dieser Dauerfrage gewidmet. Allerdings betreibt sie nicht etwa selbst Zuschauerforschung, sondern legt eine Diskursgeschichte der Medien vor: Statt eine Antwort auf die Frage zu suchen, ob bestimmte Medienprodukte tatsächlich nachteilige Konsequenzen für ihre Nutzer haben können, geht die Studie „Aggressive Medien“ der Konstruktion dieses Nutzungsverhaltens in den vielfältigen Diskursen über neue Medien nach.

Ottos Buch bewegt sich damit im Kontext einer Medienwissenschaft, die ihren Gegenstand auf der Ebene zweiter Ordnung beobachtet: Im Rahmen einer Geschichte des Wissens über Mediengewalt rückt an die Stelle einer empirischen Untersuchung von Medienwirkungen die diskursanalytische Rekonstruktion, auf welche Weise und mit welchen Zielen Medienwirkungen konstruiert, plausibilisiert und kommuniziert werden. Die Arbeit begreift „Mediengewalt“ dabei als „Kurzschlussformel“, die einen Zusammenhang zwischen dem Konsum medial repräsentierter Gewalt und dem gewalttätigen Handeln des Rezipienten diskursiv generiert und in westlichen Gesellschaften als common sense etabliert.

Der Ansatzpunkt für eine solche Untersuchung ist die Beobachtung, dass der allgemeinen Etablierung der Mediengewaltformel ein angesichts des langjährigen Forschungsaufwands frappierender Mangel entgegensteht: Die Erhebung eines statistisch signifikanten Korrelationskoeffizienten zwischen Mediengewalt und Gewalthandeln oder gar ein empirischer Beleg für einen Kausalzusammenhang zwischen beiden steht bis heute aus. Aus dieser Diskrepanz zwischen der Quantität der Projekte und der Qualität der Ergebnisse folgt eine spezifische „Doppelinterpretierbarkeit von Aussagen“ über Medienwirkung (S. 19): Wie Otto einleitend zeigt, kann jede Studie der Mediengewaltforschung auf verschiedene Weise interpretiert werden, und hinter jeder dieser Interpretationen lassen sich spezifische Interessen identifizieren. So berufen sich gegenwärtig Positionen, die einen Zusammenhang für erwiesen erachten und Regulierungen fordern, solche, die die Möglichkeit dieses Übertrags bezweifeln und solche, die die Validität der empirischen Daten in Frage stellen und den Aufforderungen zum Medienverbot Hysterie unterstellen, auf ein und dieselben Datensätze. Die vermeintliche Objektivität der Ergebnisse der Medienwirkungsforschung müssen daher als Produkt historisch spezifischer Interessen- und Machtkonstellationen betrachtet werden – Konstellationen, so Ottos zentrale These, die das Konzept „aggressiver Medien“ nicht etwa zu bekämpfen versuchen, sondern durch seine fortwährende Analyse die diskursive Kopplung von gewalttätigen Inhalten, gewaltsamen Wirkungen und gewalttätiger Folgehandlung immer wieder bekräftigen und damit überhaupt erst als Faktum schaffen: „Gerade die vermeintlich unabhängig von Wertvorstellungen und normierenden Standards operierende empirische Forschung soll als eine Machttechnologie in den Blick rücken, die Entwürfe von richtiger und falscher Mediennutzung herstellt“ (S. 32).

Den Nachweis für diese These führt das Buch in zwei Hauptteilen, deren erster den verschiedenen Spielarten der diskursiven Kontrolle von Medienwirkung gewidmet ist. Otto rekonstruiert hier anschaulich, auf welche Weise die in den empirischen Untersuchungen stets fehlende kausale Verbindung zwischen Medienbotschaft und Nutzerhandeln mit den Codes verschiedener gesellschaftlicher Teilsysteme gestiftet wird. Diese Codes entstammen den Naturwissenschaften, der Politik, der Ökonomie, der Pädagogik und der Medizin. Das Wissenschaftssystem ist dabei insofern als grundlegend zu betrachten, als die Kurzschlussformel ‚Mediengewalt’ dem Stimulus-Response-Schema der behavioristischen Psychologie entstammt. Dieser Kontext macht auch deutlich, warum die vermeintlich objektive Methode einer statistischen Erhebung ein interessegesteuertes „Machtwissen“ (S. 53) darstellt, innerhalb dessen der vermeintliche Beobachter als steuernde Kontrollinstanz auftritt.

Diese Kontrollfunktion wird insbesondere im Zusammenhang mit der Propaganda betont, auch wenn sich hier eine interessante Kehrtwendung des Problems zeigt: Denn im Kontext der beiden Weltkriege war Mediengewalt ja durchaus ein gewünschter Effekt, denkt man etwa an die Motivationsfilme, mittels derer US-Soldaten auf die Kampfeinsätze in Europa vorbereitet wurden. Hier ist die Wirkung auf den Zuschauer, der von politischer Seite ansonsten als zu kontrollierend betrachtet wird, das erklärte Ziel. Eine analog affirmative Nutzung von Medienwirkungen lässt sich auf dem Gebiet der Werbung beobachten, insbesondere im Fall von Spots, die mit negativen Bildern werben.

Gerade dass Propaganda und Werbung auf der Grundlage behavioristischer Überzeugungen als so erfolgreich gelten, wirkt nun als schlagendster Beleg für die pädagogisch informierten Diskurse über Gewaltdarstellungen in den Medien: 1964 bezeichnete die New York Times das Fernsehen als „School of Violence“. Dem entspricht auf der einen Seite das Bild eines kindlich-unschuldigen Mediennutzers, der den vielfältigen Verführungen des Fernsehens hilflos ausgeliefert ist. Auf der anderen Seite aber sind es gerade die pädagogischen Versuchsanordnungen, die die Gewalt, die es zu bannen gilt, wieder und wieder in ihren Laboren inszenieren: Der Stanforder Psychologe Albert Bandura ersann in den 1960er-Jahren diffizile Experimente, innerhalb derer Kinder gewalttätigen Filmen ausgesetzt und bei ihrem anschließenden Verhalten beobachtet wurden.

Auf der Grundlage derartiger Experimente etablierte sich schließlich ein therapeutischer Diskurs, der gewaltsamen Medienbildern eine unmittelbare Ansteckungsgefahr unterstellt. Die ebenfalls medizinisch-therapeutisch argumentierende Katharsis-These, der zufolge das Betrachten von Mediengewalt auch in der Lage sei, den Betrachter von den entsprechenden Affekten zu heilen, wird dabei systematisch unterdrückt. Diese Unterdrückung ist Otto zufolge Beleg für die zentrale Position der Mediengewalt innerhalb eines sozialhygienischen Diskurses, und die Tatsache, dass die umfassendste Studie zum Einfluss von Fernsehkonsum auf Schulkinder in den 1970er-Jahren vom amerikanischen Gesundheitsministerium finanziert wurde, ist nur der anschaulichste Nachweis für die These, die Medienwirkungsforschung sei Teil einer „sozialmedizinischen – man könnte auch sagen: biopolitischen – Regulation der Bevölkerung“ (S. 184).

Denn darin konvergieren Otto zufolge sämtliche Diskurse der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme: Die Unterstellung, Medien seien selbst aggressiv, dient dazu, das Mediennutzungsverhalten der Bevölkerung zu beobachten und zu bewerten. Diese gesellschaftspolitische Zielsetzung ist nicht nur dafür verantwortlich, dass innerhalb des Mediengewaltdiskurses die empirisch labilen Ergebnisse immer wieder stabilisiert werden. Vielmehr ist dieser Diskurs sogar an einer Produktion aggressiver Medien interessiert, um die Kontrolle des Zuschauers weiter legitimieren zu können: „Mediengewaltforschung kann sich daher nur als eine Form der diskursiven Regulation herausbilden, die sich als wirkungsstabilisierende Zähmung von Mediengewalt bezeichnen lässt.“ (S. 192) Die Macht des behavioristischen Kontrollapparats – also die Gewalt der Experimente selbst – vermag der Diskurs über Mediengewalt dabei geschickt auszublenden, indem er immer wieder auf die unmittelbare moralische Evidenz des erst zu Belegenden verweist: Oder würde jemand ernsthaft bestreiten wollen, dass es schädlich für Kinder sei, Gewaltfilme anzusehen?

Die Studie, die mit einem an Michel Foucaults Frühwerk orientierten Diskurskonzept einsetzt, erweitert ihre Perspektive an dieser Stelle um das Interesse des späten Foucault an Disziplinierungs- und Regulierungstechniken. Dass dieses Interesse bei Foucault selbst nicht länger diskursanalytisch fundiert wird, führt zu einer geringfügigen methodischen Schieflage innerhalb der Untersuchung, die ihre durchweg plausiblen und prägnanten Thesen streckenweise ohne Not an eine Vielzahl heterogener theoretischer Referenzen koppelt. Das mindert aber nicht die Gültigkeit der Analyse zur Regulation der Mediennutzung im zweiten Hauptteil des Buchs: Otto weist hier zunächst nach, wie die Medienwirkungsforschung unter dem Fehlen eindeutiger Belege weniger leidet, als dass sie dieses Fehlen selbst befördert, um die Untersuchungsmaschinerie als Kontrolldispositiv immer weiterlaufen zu lassen. Es geht dem Diskurs über Mediengewalt mit anderen Worten nicht um ein abschließendes Ergebnis, sondern die anhaltende Kontrolle des Rezipienten und das heißt: Mediengewaltforschung ist weit weniger der Empirie und viel eher der bloßen Rhetorik verpflichtet. Möglicherweise liegt hierin auch der Grund, warum Ottos Studie ohne systematische Differenzierung der verschiedenen Medien auskommt, an die sich der Mediengewaltdiskurs innerhalb der letzten 100 Jahre gerichtet hat: Im Zielfeuer der Rhetorik des empirischen Belegs steht stets das Kollektivkonstrukt ‚Medien’, nie die konkrete Einzeltechnik.

Vor allem aber beansprucht diese Rhetorik, eine ‚richtige’ Nutzung von Medien definieren zu können, und sie leistet dies mittels moralischer Evidenzbehauptungen, die dazu führen, dass die Regulierung der Mediennutzung gerade nicht in Gestalt staatlicher Kontrolle auftreten muss, sondern – im Sinne von Foucaults späten Studien zur Gouvernementalität – als Aufforderung zur Selbstregulierung und -kontrolle des Nutzers vollzogen wird. Dass der Mediengewaltdiskurs dabei, wie im ersten Teil zu sehen war, in alle Gesellschaftssysteme diffundiert, ist nicht als Unschärfe des Diskurses zu problematisieren, sondern Nachweis seiner universalen Funktionsweise im Sinne einer Mikrophysik dezentraler Macht.

Isabell Ottos Dissertation „Aggressive Medien“ ist damit mehr als nur eine Bestandsaufnahme der Medienwirkungsforschung des vergangenen Jahrhunderts. Sie zeigt vielmehr, dass deren Geschichte keinesfalls nur auf ein Segment der Gesellschaft zu beschränken ist, sondern stets diese Gesellschaft als Ganzes betrifft. Und als am wirkmächtigsten erweisen sich dabei all diejenigen Stimmen, die der Kurzschlussformel ‚Mediengewalt’ entgegenzutreten scheinen: Gerade diejenigen Stimmen, die in der aktuellen Debatte ein staatliches Verbot von Killerspielen nicht zielführend finden, begründen ihr Urteil damit, dass man mit einem Verbot die Nutzer weniger gut kontrollieren könne als durch anhaltende und dauernde Aufmerksamkeit den Kindern gegenüber. Gezeigt zu haben, dass in einer solchen Ablehnung des staatlichen Zugriffs auf die Mediennutzer deren subtilste Kontrolle zu sehen ist, ist das Verdienst von Ottos innovativem Blick auf ein vermeintlich altes Thema.

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