J. Dumbrell u.a. (Hrsg.): Vietnam in Iraq

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Titel
Vietnam in Iraq. Tactics, Lessons, Legacies and Ghosts


Herausgeber
Dumbrell, John; Ryan, David
Erschienen
New York 2006: Routledge
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
£ 21.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Lemke, Militärgeschichtliches Forschungsamt MGFA

Die internationale Komparatistik weist, obwohl gerade auch in Deutschland immer noch nicht überall anerkannt, eine ganze Anzahl fruchtbarer Ansätze auf. Dies gilt etwa für den Bereich der Globalgeschichte, hier insbesondere die Kolonialgeschichte, für die namhafte Forscher gangbare Wege aufgezeigt haben, auch in Verbindung mit der Transferanalyse. Eingesetzt hat inzwischen ebenfalls eine substantielle interdisziplinäre Beschäftigung mit Methodik und Methodologie.

Die Autoren des hier zu besprechenden Sammelwerkes behandeln eine Thematik mit besonderen Herausforderungen. Anders als viele komparatistische Ansätze, die mehr oder weniger „abgeschlossene“ historische Phänomene oder Prozesse thematisieren, wird ein von heftigen Emotionen begleiteter heutiger Krieg, nämlich Irak, mit dem nicht weniger belasteten vergangenen Konflikt in Vietnam verglichen. Der vorliegende Band versucht Ursachen, Auswirkungen und Zusammenhänge zwischen beiden Konflikten umfassend und multiperspektivisch zu beleuchten und zu bewerten. Der Leser erhält durch die insgesamt elf Einzelbeiträge, die aus einer Konferenz am „Centre for Diplomatic and International Studies“ an der Leicester University im März 2005 hervorgingen, ein überaus differenziertes und facettenreiches Bild. Fast alle Beiträge zeichnen sich durch ein hohes Maß an kritischer Reflexion aus. Hier kann aus Platzgründen nur auf eine Auswahl eingegangen werden.

David Ryan zeichnet die Bedeutung von Vietnam für die US-(Außen-)Politik nach. Nach der verheerenden Niederlage von 1975 nahmen alle Präsidenten, nicht zuletzt auch Ronald Reagan, erst einmal von direkten Militärinterventionen größeren Ausmaßes Abstand und verlegten sich im Zweifelsfall lieber auf indirekte Wege oder Stellvertreter. Dies bildete den historischen Hintergrund unter anderen der Iran-Contra-Affäre. Die Interpretation des „Vietnam-Syndroms“, nicht zuletzt auch die öffentlichen Proteste und die tiefe Spaltung der Gesellschaft in Bezug auf diesen Krieg, spielte bei allen folgenden Konflikten eine große Rolle. Entsprechend unterschiedliche Lager gibt es, wie der aktuelle Wahlkampf zwischen McCain und Obama beweist, auch heute wieder. Die Argumente kreisten und kreisen, verkürzend formuliert, letztlich um die Frage: Wiederholung oder Überwindung? Eine wesentliche Rolle spielte dabei der grundsätzliche Perspektivenwechsel vom „containment“ des Kalten Krieges (George F. Kennan) hin zur Befürwortung einer interventionistischen Strategie (Fukuyama, Wolfowitz, Rumsfeld). Trotz der These vom angeblichen Ende der Geschichte durch den allumfassenden Sieg des Liberalismus amerikanischer Prägung blieben indes immer die Furcht vor andauernder Blamage („credibility gap“) und die Hoffnung, mit einem schnellen Sieg über den Irak Vietnam vergessen machen zu können. Diese Furcht vor einem Verlust der Glaubwürdigkeit bestand schon im Kalten Krieg und setzte sich nach der Wende 1989/90 fort.

Für Militärhistoriker besonders interessant ist der Aufsatz von Richard Lock-Pullan. Er vergleicht sehr trennscharf das „Erbe“ und die „Lektionen“ von Vietnam und kommt zu klaren Ergebnissen. Die US-Streitkräfte, insbesondere die Army, versuchten auf ihre Weise, aus Vietnam zu lernen (Weinberger-Doktrin, Powell-Doktrin). Dabei fand jedoch, in „typisch“ westlicher Weise, ein lediglich gradueller Lernprozess statt. Man versuchte, effizienter zu werden. Es wurde aber hintangestellt, dass, insbesondere bei Wiederaufbau und „nation building“, vor allem kulturelle Interaktion stattfindet, auf die man sich vorbereiten muss, was möglicherweise qualitative Änderungen etwa bei den Grundeinstellungen der Verantwortlichen oder innerhalb der westlichen Völker überhaupt erfordert. Dass gerade die „Kulturwissenschaften“ in Zukunft eine prominentere Rolle spielen müssen, wird verschiedentlich bis heute noch nicht richtig erkannt.

Der Aufsatz von Jon Roper spiegelt die verfassungsmäßige Dimension des ganzen Themenkomplexes, hier insbesondere die schleichende (auch rechtliche) Verfestigung des Machtanspruchs des Präsidenten auf Kosten des gemäß der Verfassung eigentlich zuständigen Kongresses bei der Entscheidung zum Eintritt in den Krieg. Der Einsatz im Irak bildet demnach nur eine Station unter anderen auf dem Weg zur Entmachtung der Legislative. Der letzte Krieg, der auf „ordentlichem“ Wege durch den Kongress erklärt wurde, war der gegen Japan im Jahre 1941.

Diesen und zwei weitere Aspekte beleuchtet Richard A. Melanson auf systematische und damit methodisch sehr interessante, wenn vielleicht auch etwas schematische Weise. Er untersucht die Entwicklung des (innen)politischen Konsenses in den USA vor dem Hintergrund der beiden Kriege. Drei Facetten kommen dabei zur Sprache: Politik, „formale“ Entscheidungsfindung und Kultur. Insgesamt zeigt sich, dass selbst die USA einen Krieg gerade auch aus innenpolitischen Gründen ohne durchschlagende Erfolge und mit hohen Verlusten nur sehr begrenzte Zeit, d.h. kaum länger als einige Jahre, führen können.

Bei aller Differenziertheit werden die Grenzen des Vergleichs bei einem solchen Thema dann doch deutlich. Melanson beleuchtet recht eindrücklich etwa den kulturellen Konsens der 1950er-Jahre („Nuclear Family“, d.h. Wohlstands- und Leistungswille, Antikommunismus und ziviles Bewusstsein), der durch den Vietnamkrieg in Frage gestellt wurde. Gleichzeitig muss er indes einräumen, dass auch viele andere Aspekte, die kaum in direktem Kausalzusammenhang mit dem Vietnamkrieg standen, ab Ende der 1960er-Jahre diesen Konsens untergruben (Rassenproblematik, sexuelle Revolution, Gewalt, Drogen und Differenzierung der Lebensstile). Insofern lässt sich die individuelle historisch-genetische Entwicklung der 1960er- und 1970er-Jahre nicht ohne weiteres mit der der 1990er-Jahre und des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts parallelisieren. Ferner ist der Vergleich des „security state“ Bush’scher Prägung mit den McCarthy-Jahren durchaus reizvoll, isoliert und parallelisiert jedoch diese beiden Phänomene, ohne deren Einbettung in die Zeitachse prominent zu berücksichtigen.

Wohlgemerkt, das Argument, man könne generell keine Vergleiche anstellen, weil die Rahmenbedingungen immer ganz andere seien, ist ein eher kurzsichtiges, kleinkariertes. Methodisch muss gleichwohl differenzierend unter zunehmender Tiefenschärfe vorgegangen werden. Im vorliegenden Fall heißt dies, dass die Zeitdimension und ihre Folgen mitgedacht werden müssen. Der Vietnamkrieg war Teil des Kalten Krieges, der über vierzig Jahre lang andauerte. Der Irakkrieg dauert noch an und ist Teil einer „Epoche“, von der wir noch gar nicht wissen, ob und wie sie zu benennen ist. Insofern stellt der Band eine Zwischenbilanz dar, hat jedoch trotz der genannten Einschränkungen vor allem auch methodisch eine gute Grundlage für weiteres Arbeiten gelegt.

Die übrigen Aufsätze des Bandes behandeln praktisch alle wesentlichen Aspekte moderner Kriegführung, unter anderem die militärische Dimension, die wirtschaftlichen Voraussetzungen, die Menschenrechtssituation, die Meinungslage im eigenen Land. Die Autoren demonstrieren in mustergültiger Weise, dass Vergleichen niemals bedeutet, zwei oder mehrere Phänomene „gleichzusetzen“, sondern Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu benennen und dabei Kontinuitäten zu berücksichtigen. Stets sind sie sich bewusst, dass die Rahmenbedingungen beider Kriege sehr unterschiedlich waren: dort Kalter Krieg (Sowjetunion, China), hier vermeintlich „unilaterale“ Weltordnung; dort starke Tendenz zu konventioneller Kriegsführung (nordvietnamesische Armee), hier „reine“ Guerillataktik; dort Dominotheorie, hier (umgekehrt) Versuch zur Verbreitung der Demokratie im Nahen Osten nach einem konventionellen Krieg („erecting dominoes“).

Gerade die Kontinuitäten sind für temporale Vergleiche sehr wichtig, da sich in ihnen, zum Teil in direkter Weise, das Weiterwirken historischer Muster ausdrückt, sei es in Bezug auf die Versuche von G. W. Bush, propagandistisch sowohl inhaltlich als auch formal an seine Vorgänger anzuknüpfen, sei es im Falle der unmittelbaren Kriegführung. Im letzteren Fall bestehen zum Teil persönliche Kontinuitäten, da frühere Teilnehmer am Vietnamkrieg bzw. Anhänger des dort praktizierten Counterinsurgency im Irak aktiv wurden. Dies hatte zur Folge, dass auch in diesem Falle spezielle Kampfgruppen aufgestellt und an Brennpunkten eingesetzt wurden, dabei – gelinde gesagt – nicht sonderlich zimperlich vorgingen. Im Bereich der inneren Sicherheit finden sich neben Unterschieden auch deutliche Parallelen (Marilyn B. Young). Abu Ghraib hat seine Entsprechung in den Gefängnissen von Saigon bzw. den „Tigerkäfigen“ von Con Son Island. Ähnliches findet man ebenfalls in der wirtschaftlichen Perspektive, dargestellt von James M. Carter. Das „outsourcing“ zahlreicher Leistungen, darunter die Übertragung von Sicherheitsaufgaben, an private Firmen ist nicht nur ein prominentes Feature im Irak, sondern wurde mit ungeheurer Vehemenz bereits in Vietnam betrieben. Nicht erst „Blackwater“ hat die negativen Seiten dieser Verfahrensweise aufgezeigt. Bereits während des Vietnamkrieges kam es zu Korruption und zur Ausbildung eines riesigen Schwarzmarktes, von dem nicht zuletzt auch der Vietkong profitierte.

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