P. Gut: Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur

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Titel
Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur.


Autor(en)
Gut, Philipp
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: S. Fischer
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Hansen, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Mit seiner im S. Fischer Verlag veröffentlichten Dissertation über Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur hat Philipp Gut eine beachtenswerte Arbeit vorgelegt. Präzise, unprätentiös, kenntnisreich, flüssig und oftmals spannend geschrieben, geht er drei unlöslich miteinander verwobenen Fragen nach: „Welche Vorstellung einer deutschen Kultur hatte Thomas Mann? Wie veränderte sie sich durch den Gang der Geschichte? Wie stellt sich die Problematik einer deutschen Kultur in seinen Werken dar?“ (S. 17) Dabei zeigt sich aufs Neue, dass der Schriftsteller der „Buddenbrooks“ und des „Doktor Faustus“ mehr als nur ein ernst zu nehmender „Chronist und Psychograph seiner Epoche“ ist.1 An Thomas Mann kann man die besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland akute Auseinandersetzung um das nationale Selbstverständnis ablesen.

Thomas Manns Ausdeutungen von Kultur, die nicht zuletzt von einem ausgeprägten Selbstverständnis herrührte, die deutsche Kultur zu repräsentieren, gab der Diskussion über die nationale Identität eine eigene Note und verwickelte den Kulturschaffenden zugleich in öffentliche Auseinandersetzungen. Wie Guts Arbeit deutlich macht, wurde Mann immer umstrittener, je stärker sich sein zunächst traditioneller, im Kern vom deutschen Idealismus geprägter Kultur-Begriff sukzessive veränderte. Der vorherrschenden Auffassung entsprechend hatte sich bei Mann vor und während des Ersten Weltkriegs die Antithese von Kultur und Zivilisation verfestigt. Im Kontext seiner Hinwendung zur Weimarer Republik sowie seiner Auseinandersetzung mit dem heraufziehenden Nationalsozialismus löste er sich jedoch von dieser Dichotomie. Zunehmend öffnete Thomas Mann seinen Kultur-Begriff den zivilisatorischen Werten des Westens. Dabei kommt gerade der Konfrontation mit dem Nationalsozialismus eine gewichtige Bedeutung zu. Nicht zuletzt beförderte diese Entwicklung in den 1920er-Jahren bei Mann die Einsicht, dass „das politische Manko des deutschen Kulturbegriffs das Heraufkommen der totalen Politik des Dritten Reichs begünstigte“ (S. 18). Entsprechend beurteilt Gut das unbedingt politisch zu wertende Gesamtwerk Manns als Reflexion des Zusammenhangs zwischen der Krise der modernen europäischen Zivilisation um 1900 und der NS-Herrschaft.

In seiner Arbeit wertet Philipp Gut die ästhetischen wie politischen Essays, Briefe, Tagebücher, Notizen und schwerpunktmäßig die großen Romane vom 1924 veröffentlichten „Zauberberg“ über „Lotte in Weimar“ (1939), „Joseph und seine Brüder“ (1933-1943) bis zum 1947 erschienenen „Doktor Faustus“ aus. Dabei gelingt es ihm, die kulturtheoretischen Überlegungen und seismographischen Fähigkeiten Thomas Manns in den werk- und vor allen Dingen zeithistorischen Zusammenhang zu stellen.

Zunächst wird Manns Ausarbeitung des Gegensatzes von Kultur und Zivilisation nachverfolgt, der 1909 in den Überlegungen zum geplanten Essay „Geist und Kunst“ erstmals fixiert und dann besonders in den 1918 erschienenen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ ausgebaut wurde. Der Begriffe wie „Kunst“, „Schöpfertum“ oder „Dämonie“ umfassende und positiv aufgeladene Begriff von Kultur wird dabei von Thomas Mann über seine innere Einheit, über seine Geschlossenheit und seinen Formwillen charakterisiert. Zivilisation, mit den Begriffen „Geist“, „Vernunft“ und „Erkenntnis“ verbunden, gilt Mann hingegen als „nachgeordnetes, auflösendes, zersetzendes Moment“ (S. 42). Mühelos stellt Mann eine Affinität von Kultur und Barbarei her und attestiert den Schöpfern von Kultur „stilvolle Wildheit“. Ordnet er der Zivilisation Oberflächlichkeit zu, bedeutet ihm Kultur dagegen Tiefe. In diesem Zusammenhang konstatiert Mann für die ästhetisch-kulturelle Produktion des Genies und Künstlers, der die Position des Barbaren einnimmt, unbedingte Teilhabe am Irrationalen. Das mäßigende apollinische Element gilt demgegenüber als ein sekundäres Phänomen. Diese spezifische Prägung von Kultur, die mitunter aus der Furcht vor dem Nivellierungsdruck der westlichen Zivilisation erwachsen ist, enthält jedoch durch seine Verbindungslinien zu Barbarei und Irrationalität zugleich einen „Zusammenhang mit der Epoche des Nationalsozialismus, die für Mann durch eine willentlich vollzogene Re-Barbarisierung gekennzeichnet war“ (S. 40).

Von hier aus wird bereits deutlich, welchen Weg Thomas Mann nach 1918 zurückzulegen hatte, um dennoch nicht wie so viele, mit denen er über Jahre in Verbindung gestanden hatte, der Verführungskraft des Nationalsozialismus zu erliegen. Die „Betrachtungen“ tragen die Züge eines Abgesangs auf eine zu Ende gegangene Epoche, und im Zuge der Umbruchsituation von 1918 befand Mann, es sei „die deutsche Aufgabe, zwischen Bolschewismus und westlicher Plutokratie ‚in politics etwas Neues zu erfinden’.“2

Philipp Gut arbeitet heraus, wie Mann aufgrund seiner anfänglichen Orientierungslosigkeit in Oswald Spenglers 1918 erschienenem Buch „Der Untergang des Abendlandes“ zunächst einen Anknüpfungspunkt fand, sich bald aber wieder davon distanzierte. Spengler zu überwinden bedeutete Weimar zu entdecken. Das fatalistische Dekadenz-Modell Spenglers verhieß einen endgültigen Untergang der abendländischen Kultur. Dagegen opponierte Mann, der sich als Ironiker nie so ganz auf die Seite der Kulturpessimisten zu schlagen vermochte. Die Behauptung Spenglers, dass die Kultur unwiderruflich von der Zivilisation abgelöst werde, wies der Schriftsteller zurück, weil für ihn Kultur ein Hochbegriff war. Eine Auflösung des ideologischen Gegensatzes von Kultur und Zivilisation vollzog Thomas Mann in diesem Zusammenhang und trotz des gleichzeitigen Bekenntnisses zur Republik im Jahr 1922 dennoch nicht. Damit zeigt sich nach der Einschätzung Guts, „wie prekär Manns demokratische Wende war“ (S. 170).

Erst der Humanitätsbegriff wurde für Mann zum wesentlichen Medium, um allmählich die politisch-soziale Wirklichkeit ohne Verzicht auf die zuvor stets betonte Innerlichkeit anzuerkennen. Entsprechend wurden das Soziale und die Politik nicht länger vom Kultur-Begriff ausgeklammert. Der Schriftsteller gelangte zur Einsicht, dass Humanität auf dem Boden der Demokratie nicht schlechter gedeihen mag, als auf dem Boden des alten Deutschland. Gut konstatiert, der Ästhet Mann habe hier ein Verantwortungsbewusstsein für die realen Zustände entwickelt, entstanden „aus seiner Einsicht in die fatalen Folgen einer desintegrierten Gesellschaft, die die Republik mehrheitlich ablehnte“ (S. 157).

Am „Zauberberg“ kann man beobachten, wie Thomas Mann mehr und mehr zu einem „Herrn der Gegensätze“ wird. Anschließend vermag Mann dazu überzugehen, den Begriffen Kultur und Zivilisation eine je eigene Würde zuzusprechen. Das kannibalistische Blutsmahl im Schnee-Kapitel des „Zauberbergs“ verweist auf die atavistischen Rückfälle, in die eine Kultur abgleiten kann. In der „Joseph“-Tetralogie ist diese in Kultur eingelagerte Ambivalenz ein zentrales Thema. Der Dienst am Leben wird zu Thomas Manns politischem Programm. Am Ende der Weimarer Republik, so Gut, verwirft Mann die Fronten Kultur versus Zivilisation weitgehend. Vielmehr fordert er das Bürgertum dazu auf, Partei zu ergreifen. Entweder man gebe sich konservativ und halte am traditionellen Begriff fest, oder man erweise sich als liberal, indem man „sich willens zeige, den überlieferten Kulturbegriff den Erfordernissen der Gegenwart anzupassen“ (S. 211). Für das Abgleiten Weimars in den Nationalsozialismus machte der Schriftsteller dann auch den traditionellen Kultur-Begriff und das Festhalten daran mitverantwortlich. Das Dritte Reich, zumal vom Exil aus erlebt, ermöglichte es Mann, offener zu werden für eine Allianz von Kultur und Zivilisation. Fortan stand die Antinomie von Zivilisation und Barbarei im Vordergrund. Der Schriftsteller erkannte, dass die Re-Barbarisierung in Deutschland von innen heraus kam, und er richtete sein weiteres Wirken darauf aus, die nationalsozialistische Pervertierung der Kultur zu verhindern. Diesen Kampf um die Kultur führte er selbst schon vom Boden der westlichen Zivilisation aus.

Der Studie Philipp Guts sind viele Leser zu wünschen. Einzig störend ist, dass im Anmerkungsapparat einige Male Titel in Kurzform genannt werden, die im Literaturverzeichnis nicht auftauchen. Ferner schuldet der Autor einen Beleg für seine Behauptung, auch Thomas Manns Bücher seien am 10. Mai 1933 verbrannt worden.3 Für die Bewertung des Umgangs der Nationalsozialisten mit Thomas Mann ist dies nicht unerheblich. Dennoch: Diese beiden Irritationen schmälern die große Leistung Guts nicht, einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem disparaten Dasein der Deutschen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts geleistet zu haben. „Ohne seine politische Neuorientierung, die sich auf dem einschlägigen Begriffsfeld exemplarisch manifestiert, hätte sich Mann 1933 [...] auf der Seite der Nationalsozialisten gefunden.“ (S. 228) Mit der Frage, warum die Deutschen ihm hierin nicht folgten, konfrontiert uns der ganze Thomas Mann bis heute.

Anmerkungen:
1 Hans Rudolf Vaget, Ein unwissender Magier? Noch einmal der politische Thomas Mann, in: Ruprecht Wimmer (Hrsg.), Vom Nachruhm. Beiträge zur Lübecker Festwoche 2005 aus Anlass des 50. Todestages von Thomas Mann (= Thomas Mann Studien, Bd. 37), Frankfurt am Main 2007, S. 131-152, hier S. 135.
2 Thomas Mann, Tagebücher 1918-1921, Peter de Mendelssohn (Hrsg.), Frankfurt am Main 2003, S. 100 [Eintrag vom 3.12.1918].
3 Manfred Görtemaker etwa konstatiert: „Tatsächlich war bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 keines der Werke Thomas Manns ‚den Flammen übergeben’ worden.“ (ders., Thomas Mann und die Politik, Frankfurt am Main 2005, S. 79); Vgl. ferner Volker Weidermann: Das Buch der verbrannten Bücher, Köln 2008.

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