M.C. Frank u.a. (Hrsg.): Arbeit am Gedächtnis

Cover
Titel
Arbeit am Gedächtnis. Für Aleida Assmann


Herausgeber
Frank, Michael C.; Rippl, Gabriele
Erschienen
Paderborn 2007: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
427 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Cornelia Kenneweg, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Der vorliegende Band ist Aleida Assmann zu ihrem 60. Geburtstag gewidmet und spiegelt in seiner inhaltlichen Bandbreite die vielseitigen wissenschaftlichen Interessen der Jubilarin wider. Gemeinsamer Fokus ist bei aller Unterschiedlichkeit der Beiträge die titelgebende „Arbeit am Gedächtnis“. Wie die Herausgeber Michael C. Frank und Gabriele Rippl einleitend hervorheben, gibt es im interdisziplinären Feld der Gedächtnisforschung eine „Arbeitsteilung“ der kulturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen, die trotz ähnlicher Gegenstände und Fragestellungen eine Heterogenität der Perspektiven zur Folge hat (S. 21). Solche unterschiedlichen Perspektiven zusammenzuführen und in Austausch treten zu lassen ist das Hauptanliegen des Bandes – und dies ist überzeugend gelungen.

Der Sammelband umfasst fünf Teile mit insgesamt über 20 Beiträgen, die hier nicht alle erwähnt werden können. Im ersten Teil finden sich Aufsätze zu den Grundlagen der Beschäftigung mit individuellem und kollektivem Gedächtnis. Alois Hahn beschreibt aus soziologischer Sicht Gedächtnisformen, die Gewohnheiten und Kulturtechniken im weitesten Sinne umfassen, ereignisunabhängig sind und weitgehend unbewusst erinnert werden. Hahn veranschaulicht dieses „habituelle Gedächtnis“ mit den Beispielen Sprachkompetenz und Normgedächtnis. Harald Welzer gibt mit seinem Beitrag eine prägnante Einführung in die von ihm gemeinsam mit Hans J. Markowitsch entwickelte Konzeption des autobiographischen Gedächtnisses und einen Ausblick auf die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Kultur- und Naturwissenschaften in der Gedächtnisforschung. Indem sie die medientheoretischen Aspekte von Aleida Assmanns Gedächtniskonzept aufgreift und fortführt, plädiert Astrid Erll für eine Stärkung und interdisziplinäre Vernetzung der medienwissenschaftlichen Erinnerungsforschung. Sie benennt massenmediale Phänomene und intermediale Prozesse als mögliche Forschungsfelder und sieht ebenso wie Welzer innovative Möglichkeiten in der Zusammenarbeit mit den Neurowissenschaften.1

Nach den Positionsbestimmungen und Ausblicken der ersten Beiträge leiten die Texte des zweiten Teils von der Theorie zu Interpretationsbeispielen über. Etwas aus dem Rahmen fällt Bernhard Giesens Essay über den Müll und das Heilige, der um Fragen der Grenzziehung zwischen Reinem und Unreinem, Sinn und Sinnlosigkeit sowie um Kategorien wie Nützlichkeit und Ordnung kreist. Im Kontrast zu Giesens eher assoziierend verbundenen Überlegungen steht Moshe Idels detaillierte Darstellung von Erinnerung und Vergessen in der Tradition des Chassidismus, die präzise unterschiedliche Deutungen von Aussagen früher chassidischer Schriften nachzeichnet und kommentiert. Ebenso kenntnisreich erläutert Renate Lachmann die mnemonischen Konzepte unterschiedlicher philosophischer und künstlerischer Bewegungen – vornehmlich, aber nicht ausschließlich der russischen Moderne.

Die beiden Titelbegriffe „Geschichte“ und „Trauma“ des umfangreichen dritten Teils verweisen auf sowohl für den Einzelnen als auch für ganze Gesellschaften einschneidende Erfahrungen, die zu Recht im Mittelpunkt der Erinnerungsforschung stehen. Sebastian Conrad problematisiert die verbreitete Tendenz, Gedächtnis vor allem als nationales Gedächtnis zu begreifen und dabei über den nationalen Kontext hinausweisende Verbindungen und Austauschprozesse außer Acht zu lassen. Diese Kritik ist nicht neu2, wird von Conrad über den Begriff des „Transnationalen“ aber an aktuelle kulturwissenschaftliche Konzeptionen angebunden. Wie eine transnationale Lesart von Erinnerungsprozessen aussehen kann, führt er dann am Beispiel des japanischen Erinnerungsdiskurses zum Zweiten Weltkrieg vor.

Zwei der Beiträge sind der Verarbeitung des Ersten Weltkriegs in der britischen Kultur und Literatur gewidmet. Während Jay Winter an seine bisherigen Forschungen zu Generation und Klasse in der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg anknüpft, fragt Gabriele Rippl nach dem Gender-Aspekt in der Weltkriegserinnerung und nach Antikerezeptionen in der angloamerikanischen Moderne. Die „Überführung von Trauma in Schreiben/Trauerarbeit“ (S. 198) wird auch in drei weiteren Beiträgen dieses Teils thematisiert. So unterschiedlich die Aufsätze zur Lyrik Paul Celans (Raimar Zons), zur südafrikanischen Wahrheitskommission (Monika Reif-Hülser) und zu Philip Roths Prosa (Emily Miller Budick) auch sind, ist ihnen doch gemeinsam, dass sie am jeweiligen Textmaterial zeigen, wie traumatische Erfahrungen versprachlicht werden, wie sich Unsagbares dennoch in Opfer- und Täterdiskurse einschreibt. Jan Assmanns anregende Interpretation des Romans „Späte Familie“ von Zeruya Shalev schließt den Teil zum Trauma ab. Assmann stellt interessante Zusammenhänge zwischen Archäologie, Psychoanalyse und erinnerungskultureller Traumaverarbeitung her, wobei er seine archäologischen Fachkenntnisse in die Romaninterpretation einbringt.

Im vierten Abschnitt des Bandes („Generation und Erinnerung“) kommt die „Arbeitsteilung“ der Disziplinen noch stärker zum Tragen. Helm Stierlin zeigt aus der systemtherapeutischen Praxis Zusammenhänge zwischen Lebenssinn, Aufmerksamkeitssteuerung und Erinnerung auf. Seine zentrale These lautet, dass mit der Globalisierung das Spektrum von Sinnangeboten zunehme und für den Einzelnen einerseits zu mehr Entscheidungsmöglichkeiten führe, andererseits aber auch Verunsicherung und Lähmung zur Folge haben könne. Während die therapeutische Relevanz dieser Zusammenhänge für den Laien plausibel erscheint, greift der Versuch, die Attraktivität des islamischen Fundamentalismus mit einem „überbordenden, von westlichen Werten geprägten Sinnangebot“ zu erklären (S. 285), allerdings zu kurz.

Besonders hervorzuheben ist Kay Kirchmanns konzise Interpretation des Films „Lone Star“ von John Sayles, da es Kirchmann ausgehend von den im Film dargestellten erinnerungskulturellen Konfliktlagen in einer texanischen Grenzstadt gelingt, die Verflechtung von Generationenkonflikten, ethnischen und sozialen Grenzziehungen und politischen Machtkonstellationen zu entwirren, die dabei eingesetzten filmischen Mittel zu analysieren und die im Film problematisierten texanischen Master Narratives in Diskussionen um US-amerikanische Gedächtniskonstruktionen nach „9/11“ einzubetten. Demgegenüber überzeugt Andreas Krafts Beitrag zu Zeruya Shalevs Roman „Liebesleben“ nicht. Kraft inszeniert sich als „abenteuerlustigen Hermeneutiker“, der mit seinem aus dem kulturellen Gedächtnis geschmiedeten Buschmesser (S. 316) das Dickicht des Textes durchdringen will. Die einleuchtende Idee, Freuds „Urszene“ als Schlüssel zur Interpretation zu nutzen, geht bei der erkennbar selbstironischen, aber doch störenden Selbstinszenierung unter.

Obwohl literarische Texte und Filme bereits in den ersten vier Teilen des Bandes als Medien der Erinnerung untersucht wurden, ist der „Literarische[n] und filmische[n] Gedächtnisarbeit“ noch ein eigener Teil gewidmet. Dieser beginnt mit Horst Mellers stilistisch eigenwilliger Interpretation der Schöpfungsgeschichte in John Miltons „Paradise lost“, bei der die Erschaffung Evas und der Sündenfall als Ergebnisse eines listigen diplomatischen Ränkespiels zwischen Gott und Adam erscheinen und zwei biblische Überlieferungsstränge gegeneinander ausgespielt werden.

Drei Beiträge zeigen, wie über Gattungs- und Genremuster in Literatur und Film kulturelles Gedächtnis tradiert und bei der Reaktualisierung der Muster verändert wird. „Es handelt sich hier um eine Gedächtnisarbeit als Abgrenzung zu dem, was durch den eigenen Text im kulturellen Gedächtnis bewahrt wird“, schreibt Michael C. Frank dazu (S. 357) und exemplifiziert diesen Mechanismus anhand von Auseinandersetzungen mit Normen und Erziehungsvorstellungen in „conduct books“ und Briefromanen des 18. Jahrhunderts. Ähnliche Prozesse verdeutlicht Geoffrey Hartman an einem Gedicht von William Wordsworth, das die Form der Ballade zunächst nachahmend aufgreift und dann selbst zum Gegenstand macht. Auch Elisabeth Bronfen zeichnet Veränderungen des Genregedächtnisses nach, wenn sie erläutert, wie in neueren filmischen Umsetzungen der Figur der Femme fatale Genremuster des Film noir wieder aufgenommen und zugleich transformiert werden.

Aleida Assmann hat maßgeblich dazu beigetragen, die Gedächtnisforschung im deutschsprachigen Raum als ein zentrales Paradigma der Kulturwissenschaften zu etablieren, und deshalb stellt die Festschrift zu ihren Ehren eine Art Bestandsaufnahme dar. Der Band eröffnet Einblicke in laufende Forschungen einiger wesentlich an der Entwicklung der Gedächtnisforschung beteiligter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Eine kritische Bilanz oder größere theoretische Innovationen sucht man vergeblich; diese sind von einer Festschrift aber auch nicht zu erwarten. Die Zusammenstellung der Beiträge gewinnt vielmehr dadurch ihren Reiz, dass bestehende Ansätze an vielfältigem Material erprobt werden. Gerade die Einzelinterpretationen von literarischen Werken und Filmen weisen jeweils auf über den Einzelfall hinausgehende Zusammenhänge, auf Grundfragen oder zentrale Themenfelder der Gedächtnisforschung hin. So wird in der Zusammenschau der Aufsätze beispielsweise deutlich, wie das Verhältnis individueller Erinnerungen zu kollektiv geteilten Vorstellungen und kulturellen Mustern in unterschiedlichen historischen Konstellationen immer neu ausgehandelt wird.

Anmerkungen:
1 Die Annahme, dass die Gedächtnisforschung ein Bereich der fruchtbaren Kooperation zwischen Geistes- und Naturwissenschaften sein kann, bildete bereits die Grundlage des von Nicolas Pethes und Jens Ruchatz herausgegebenen Lexikons (Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek bei Hamburg 2001).
2 Beispielsweise: Martin Saar, Wem gehört das kollektive Gedächtnis? Ein sozialpsychologischer Ausblick auf Kultur, Multikulturalismus und Erinnerung, in: Gerald Echterhoff / Martin Saar (Hrsg.), Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kulturellen Gedächtnisses, Konstanz 2002, S. 267-278, hier S. 271ff.