Bevölkerungsdiskurse im 20. Jahrhundert

: Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2007 : Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis, ISBN 978-3-89942-397-6 218 S. € 22,80

Brunner, José (Hrsg.): Demographie - Demokratie - Geschichte. Deutschland und Israel. Göttingen 2007 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-0135-1 408 S., 8 Abb. € 44,00

Ehmer, Josef; Lausecker, Werner; Pinwinkler, Alexander (Hrsg.): Bevölkerungskonstruktionen in Geschichte, Sozialwissenschaften und Politiken des 20. Jahrhunderts. . Köln 2006 : Zentrum für historische Sozialforschung Köln, ISBN ISSN 0172-6404 362 S. € 12,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sybilla Nikolow, Institut für Wissenschafts- und Technikforschung, Universität Bielefeld

Anfang 2004 präsentierte der „Spiegel“ den „letzte[n] Deutsche[n]“ als Wickelkind auf seiner Titelseite.1 Nur ein Jahr später erteilte uns Herwig Birg, emeritierter Professor der Universität Bielefeld, in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) im Ton eines längst überwunden geglaubten Staatsbürgerkundeunterrichts einen Grundkurs in Demographie.2 Das in der deutschen Presse zwischen 2004 und 2006 mit Birg’schen Thesen gespickte Schreckensbild eines seit mindestens 100 Jahren drohenden Untergangs des Abendlandes in Sachen demographischer Entwicklung wurde seitdem längst in Frage gestellt und in den gleichen Medien ebenfalls mit statistischen Mitteln wieder weitgehend begraben.3 Die Medien haben sich längst andere apokalyptische Szenarien gesucht, so die in Expertenkreisen ebenfalls umstrittene Klimakatastrophe.

Auch wenn sie für eine moderne Familienpolitik steht, bezieht die derzeitige Bundesfamilienministerin von der Leyen die Legitimation für ihre Vorschläge aus dem gleichen Katastrophenszenario, welches von Birg und anderen trotz aller Methodenkritik weiterhin vertreten wird. Thomas Etzemüller betont in seinem Buchessay „Ein immerwährender Untergang“ nicht nur die Kontinuität historischer Diskursformationen in der politischen und öffentlichen Wahrnehmung demographischer Probleme bis in die Gegenwart, sondern er hat auch eine plausible Erklärung dafür: In den demographischen Diskursen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts würden gesellschaftliche Wandlungsprozesse verhandelt. Als Folge der Industrialisierung wurde die Bevölkerung nun nicht länger als Ressource, sondern als ein potentielles und vom Staat zu regulierendes Problem wahrgenommen. Etzemüller arbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den eugenischen Programmen der 1930er- und 1940er-Jahre in Deutschland, den USA und in Schweden heraus und legt überzeugend dar, wie in der Entwicklungspolitik der Nachkriegszeit der biopolitische Bevölkerungsdiskurs auf den ganzen Globus ausgeweitet wurde. Er demonstriert an vielen Beispielen, wie hervorragend sich das teilweise trockene Studium der Bevölkerungsschriften zur vergleichenden historischen Analyse der Befindlichkeiten moderner Gesellschaften eignet, die deshalb auch von allgemeinhistorischem Interesse sein sollten.

Dass wissenschaftliche (wie übrigens auch technische) Konstruktionen nicht unabhängig von Gesellschaftsbildern entwickelt werden, ist aus Sicht der Wissenschaftsforschung unter dem Schlagwort „The social construction of knowledge/technology“ bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren vielfach nachgewiesen worden.4 Darüberhinaus hat es auch hierzulande nicht an gesellschaftskritischen Studien gefehlt, etwa zur Rolle der Statistiker im Nationalsozialismus – vor dem Hintergrund der 1987 anberaumten bundesdeutschen Volkszählung.5 Aber bisher war niemand den internationalen demographischen Konstruktionen über einen so langen Zeitraum in ihren gesellschaftspolitischen Implikationen nachgegangen. In Fleck’scher Denkstiltheorie geschult und von Foucaults Biomacht-Konzept getragen interpretiert Etzemüller das Reden über die Bevölkerungsentwicklung im „langen“ 20. Jahrhundert als eine permanente machtpolitische Verhandlung von normativ aufgeladenen Gesellschaftsbildern. Obwohl es empirisch wie methodisch immer wieder angegriffen wurde, galt das statistische Instrumentarium zu allen Zeiten als starkes Argument, mit dessen Hilfe die Diskursmächtigen den gesellschaftlichen Wandel kontrollieren und regulieren wollten.

Etzemüllers eigentliche Innovation liegt in der umfassenden Darstellung der Matrix, nach der der Bevölkerungsdiskurs strukturiert war und ist. Darin unterscheidet sich sein Beitrag von der Vielzahl der deutschsprachigen Publikationen der letzten Jahre zu diesem Thema, wie sie etwa seit der Einrichtung eines Schwerpunktprogramms der DFG zur Geschichte der Bevölkerungswissenschaften erschienen sind.6 Nach Etzemüller gehören zu dieser Matrix neben dem bereits angesprochenen katastrophischen Gestus die alte Hoffnung, die Bevölkerungszahl über die weibliche Fruchtbarkeit regulieren zu können, sowie ihre diskriminierende Betrachtung durch die Geschlechter-, Klassen- und nationale Brille. Als besonders nachhaltig erweist sich dabei die normative und moralische Aufladung des Diskurses, denn bis heute maßt sich ein Teil der Gesellschaft an, anderen Menschen und Gruppen Vorschriften zu ihrem individuellen Fortpflanzungsverhalten zu machen. Auch wenn Etzemüller sie nicht beim Namen nennt, fühlt man sich beim Lesen unweigerlich an die neoliberale Debatte über die neuen Unterschichten erinnert.

Über die engere Wissensgeschichte der Demographie hinaus bietet Etzemüllers kurzes und gut lesbar geschriebenes Buch weiterführende Einsichten – so zur vielzitierten, aber selten durchdeklinierten „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) und zur Frage, was gesellschaftshistorische Analysen zu Gegenwartsdebatten beitragen können. Obwohl Etzemüller empirisch wenig Neues bietet und die Vielfalt wie Kontextualisierung seiner Quellen zu wünschen übrig lassen, kommt sein Entwurf methodisch gesehen für die Demographiegeschichte einem Steinbruch gleich.

Neben den narrativen Strukturen des Diskurses, wie etwa der Bevölkerungs-Raum-Relation, widmet sich Etzemüller in einem besonders instruktiven Kapitel der in der historischen Forschung bisher unterbelichteten Frage nach der Sichtbarmachung von Bevölkerungsentwicklungen mittels Statistik und Grafik. So wichtig diese Perspektive auf die Bildgebungsverfahren ist, mit denen Zahlenwerte in Pyramiden, Glocken, Urnen und Kartenlandschaften transformiert werden, so problematisch erscheint allerdings Etzemüllers generalisierender Blick auf den Diskurs. Die Darstellung von Bevölkerungsannahmen in Bildern ist für ihn (nur) eine noch effektivere Methode zur Verdeutlichung und Vereinheitlichung intendierter Aussagen. Spätestens hier zeigt sich der Nachteil seines groben Analyserasters. Wie nicht jeder Verfechter der statistischen Methode die Bevölkerung auch gleich nach völkischen oder sozialistisch-kollektivistischen Gesichtspunkten regulieren wollte, gehorcht eben auch nicht jedes statistische Bild der Bevölkerung aus den 1930er-Jahren dem gleichen biopolitischen Konzept.

Abgesehen von der medientechnischen Frage, die Etzemüller übersieht, konnten mit diversen visuellen Darstellungen der Bevölkerung auch durchaus unterschiedliche Gesellschaftsbilder aufgerufen und verstärkt werden. So sah der Vertreter des Wiener Kreises Otto Neurath etwa eine große konzeptuelle Differenz darin, ob Menschengruppen mittels Kurven oder Piktogrammen dargestellt würden.7 Indem Etzemüller die von den historischen Akteuren nahegelegten Homologien zwischen Realität und Grafik nicht im Detail hinterfragt, sondern die Bildobjekte selbst als Belege dafür nimmt, wie etwas gesehen werden sollte, bestätigt er unbesehen die Suggestionskraft dieser öffentlich beglaubigten Konstruktionen. Zwar spricht er den Voraussetzungsreichtum von Tabellen, Karten, Grafiken und Statistiken auch an, aber indem er Gegendiskurse und mögliche Differenzierungen zugunsten eines einheitlichen, eindimensionalen Gesamtbildes ausblendet, fehlt einer solchen Bemerkung bedauerlicherweise das Fundament.

Im Folgenden möchte ich versuchen, Etzemüllers Buch exemplarisch zu Einzelergebnissen aus zwei Sammelbänden in Beziehung zu setzen. Die meisten der dort publizierten Aufsätze sind im erwähnten DFG-Schwerpunktprogramm entstanden. Werden Etzemüllers bewusst essayistische Thesen von den Ergebnissen der tiefergehenden und eher empirisch angelegten Forschungsprojekte gestützt, modifiziert oder widerlegt? Dieser Zugang kann den beiden Sammlungen und ihren Gesamtkonzeptionen gewiss nicht vollständig gerecht werden, mag hier aber legitim sein.

Wer durch Etzemüller für den übergreifenden Bevölkerungsdiskurs sensibilisiert wurde, kann nicht verwundert sein, dass demographische Konstruktionen als Bestandteil wie als Gegenteil demokratischer Verhältnisse aufgefasst werden konnten. In dem von José Brunner herausgegebenen Band 25 des „Tel Aviver Jahrbuchs“ geht es um einen deutsch-jüdischen bzw. deutsch-israelischen Vergleich. Hier wird wiederum auf Geschichtlichkeit und Aktualität des Demographiediskurses hingewiesen, und die Kontinuität steht stärker im Zentrum der Aufmerksamkeit als der Wandel. Auch wenn die Fallbeispiele in ihrer analytischen Schärfe stark variieren, lassen sich schon aus der Empirie viele Belege für Etzemüllers These von der permanenten Verhandlung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse in den demographischen Aussagen erkennen.

Die Beiträge von Veronika Lipphardt und Sergio Della Pergola etwa bieten zusammengenommen eine Längsschnitt-Analyse der Debatte um die Statistik der Juden im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik sowie im heutigen Israel. Dabei zeigt sich ein unterschwelliges, bisweilen aber auch offenes Unbehagen über die Praxis von „Mischehen“. Ursula Ferdinand sieht in der Geburtenrückgangstheorie von Julius Wolf (1862–1937) die Anerkennung eines Mentalitätswandels im modernen Fortpflanzungsverhalten, was allerdings noch nicht konsensfähig war. Thomas Bryant wendet sich ergänzend dem Thema der Alterung der Bevölkerung zu und bestätigt Etzemüllers Kontinuitätsbehauptung für die deutschen Diskurse im 20. Jahrhundert. Matthias Weipert interpretiert die Demographiedebatte in der Weimarer Republik empirisch fundiert als gesellschaftlichen Krisendiskurs.

Bernhard vom Brockes Beitrag liefert eine biographische Ergänzung zu deutschen Bevölkerungswissenschaftlern im Nationalsozialismus, und Alexander Pinwinkler illustriert anhand der frühen bundesdeutschen Demographie die weiter bestehende Aktualität der Bevölkerungsmatrix nach der ‚Stunde Null’. Während Michael Schneiders Untersuchung der unexakten preußischen Konfessionsstatistik ein Beispiel für die unterscheidende Perspektive der Demographen liefert, betont Etan Bloom erhellend die Objektivierungsfunktion der Statistik, die den zionistischen Demographen der ersten Stunde wie Arthur Ruppin so wichtig war. Aus der Schule der preußischen Statistik kommend, nahm Ruppin diesen Denkstil ins junge Palästina mit. Vor diesem Hintergrund lesen sich Moshe Sicrons und Anat Leiblers Darstellungen der Volkszählungen im jungen Staat Israel als aktive Nationalitätenpolitik. Wie mit Statistiken Politik gemacht wurde, zeigt auch Ingo Haar an der Konstruktion von deutschen „Verlusten“ im Vertriebenendiskurs der Nachkriegszeit. Hier wurden verschiedene Opfergruppen (Holocaust- und spätere Vertreibungsopfer) aus den ehemals deutschen Gebieten im Osten unter Leugnung der historischen Kontexte summiert, um die Todeszahlen insgesamt zu erhöhen und für die eigene Botschaft nutzbar zu machen.

Neben diesen eher reflexiven und historisch-kritischen Beiträgen finden sich in dem Band auch einige eher beschreibende Darstellungen des Themas aus demographischer Sicht, in denen die Statistiken zur Bevölkerungsentwicklung meist unhinterfragt als Fakten gedeutet und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Christian Saehrendt interpretiert „100 Jahre Abwanderung aus dem deutschen Osten“, und Fred A. Lazin diskutiert die Einwanderung aus der Sowjetunion nach Israel von 1967 bis 1990. Herwig Birg legt dagegen seine Prognosen zum Geburtenrückgang vor und sieht die sich daraus ergebende „zwingende Logik“, dass langfristig die Überlebensfähigkeit Deutschlands auf dem Spiel stehe. Analog zeichnet Josef Schmid – ebenfalls anhand eigener wohlbekannter und von Etzemüller als klassische Positionen seiner Matrix zitierter Untersuchungen – das Bild der Individualisierung und Flexibilisierung postindustrieller Gesellschaften ohne Nachwuchs, worin er wie Birg einen zivilisatorischen Irrweg sieht.

Zwei politikwissenschaftliche Darstellungen runden den Themenkomplex aus Demographie, Demokratie und Geschichte gekonnt ab. Christoph Butterwegge kommentiert die Positionen von Birg und Schmidt als tendenziell rechtslastig, weil beide Soziales biologisierten und ethnisierten, was der wissenschaftlichen und politischen Debatte um den Fortbestand des ‚deutschen Volkes’ Vorschub leiste. Yohav Peled bewertet Israel als „ethnische Demokratie“ bzw. nichtdemokratische „Ethnokratie“, weil sich dieses Land als jüdischer Staat verstehe, in dem jüdische Bürger gegenüber palästinensischen Israelis privilegiert würden. Damit schlägt er einen Bogen zurück zu den Beiträgen von Bloom und Sicrom über bevölkerungspolitische Aspekte der israelischen Staatsgründung.

Erst aus der vergleichenden Lektüre der Aufsätze ergibt sich der Mehrwert dieses Bandes. Wenigstens eine Beobachtung, die sich aufgrund der Parallelität und Überschneidung von deutschen, jüdischen und israelischen Diskursen aufdrängt und im Band nicht übergreifend thematisiert wird, soll kurz angesprochen werden. Der Staatenvergleich zeigt die nach wie vor starke Bindung der statistischen Bevölkerungskonstruktionen in Öffentlichkeit und Politik an die Tradition der nationalstaatlichen Erfassung und die nationale Rahmung von Identitätsdiskursen. Eine Erklärung für die nationale Brille, durch welche die Bevölkerungszahlen immer wieder betrachtet werden und die auch Etzemüller zur „immerwährenden“ Bevölkerungsmatrix zählt, könnte erstens darin zu finden sein, dass in beiden Ländern die Staatengründungen noch nicht lange zurückliegen sowie in jüngerer Zeit nachhaltig erschüttert wurden (so in Israel 1967, in Deutschland 1945 und 1989). Zweitens wird die Staatsbürgerschaft dort nach wie vor primär ethnisch definiert. Etzemüllers Differenzierungsbeispiel Schweden verdeutlicht dies. Der am 13. August 2004 geborene neunmillionste Schwede, um den ein Presserummel veranstaltet wurde, hieß Viggo Alfonso Oscar de Ruvo und wäre nach deutschem Recht nicht automatisch deutscher Staatsbürger gewesen, obwohl seine Eltern schon lange im Land lebten (S. 142).

Der von Josef Ehmer, Werner Lausecker und Alexander Pinwinkler herausgegebene Band „Bevölkerungskonstruktionen“ geht auf eine Tagung des DFG-Schwerpunktprogramms im Oktober 2005 in Wien zurück. Die dort gehaltenen Beiträge und Kommentare wurden zur Publikation im Sonderheft von „Historical Social Research“ um weitere relevante Aufsätze ergänzt. Die Sammlung dokumentiert die – wenn auch noch sehr zögerliche – Ausweitung der Frage nach den Bevölkerungskonstruktionen im internationalen Kontext. Tatsächlich wagt aber nur Hansjörg Gutberger den direkten Vergleich zwischen zwei Ländern und bietet neues Material dazu, wobei er dem amerikanischen Fall jedoch deutlich mehr Raum gegeben hat als dem deutschen. Der Beitrag von Rainer Mackensen zur kontinentaleuropäischen und angloamerikanischen Entwicklung fällt weniger empirisch aus und ist eher thesenartig angelegt. Es bleibt somit der Leserin bzw. dem Leser selbst überlassen, sich aus der Lektüre einzelner Beiträge das noch sehr lückenhafte, nationale Grenzen überschreitende Bild zusammenzusetzen.

Wie der Band dokumentiert, hätte eine Transfer- und Verflechtungsgeschichte den engen Rahmen einer Disziplingeschichte der Demographie gesprengt. Hier werden demographische Denktraditionen neu besichtigt, aber kaum mit allgemeineren wissenschafts- und gesellschaftshistorischen Entwicklungen in Zusammenhang gebracht. Bereits der erste Abschnitt des Bandes mit lesenswerten Gastbeiträgen von Paul-André Rosenthal und Robert Lee über wichtige Etappen der französischen bzw. britischen historischen Demographie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hätte geradezu eingeladen, ergänzend und vergleichend die deutsche Entwicklung zu behandeln. In den nachfolgenden Artikeln zur deutschen Demographie wird die davor liegende Zeit ohne Querverweise zum internationalen Kontext diskutiert. Die Autorin und die Autoren folgen mehrheitlich dem nationalpolitischen Narrativ ihrer historischen Akteure. Die Kommentare bieten für das große Bild des demographischen Diskurses nur wenig Ansatzpunkte, denn sie wurden extern vergeben, wobei sich diese Außensicht auch als nützlich erweist. Die Herausgeber waren nicht gut beraten, sich auf ein kurzes Vorwort zu beschränken und auf eine systematisierende Einleitung zu verzichten. Wer sich also für die umfassenderen Erträge des Programms interessiert, sollte unbedingt die bereits entstandenen und angekündigten Monographien zu Rate ziehen.8

Die interdisziplinäre Perspektive des Bandes zielt auf das enge historische Überschneidungsfeld zwischen Demographie und Geschichtswissenschaften (Alexander Pinwinkler – in Fortführung seines Beitrags im „Tel Aviver Jahrbuch“ – zu Erich Keyser und Wolfgang Köllmann im Vergleich, Werner Lausecker zur erfolglosen Methodenkritik von „Überbevölkerungs“-Konstruktionen durch Paul Mombert, Hans-Christian Petersen zum antisemitischen Osteuropaforscher Peter-Heinz Seraphim) sowie zur Nationalökonomie und den Sozialwissenschaften (Patrick Henßler zu Gerhard Mackenroths Werk, Hansjörg Gutberger zur Sozialstrukturforschung, Rainer Mackensen zu Bevölkerungslehren, Ursula Ferdinand in Fortsetzung ihres Beitrags im „Tel Aviver Jahrbuch“ zu Geburtenrückgangstheorien von Karl Valentin Müller). Wer erwartet, dass diese Zusammenhänge selbst zum wissenschaftshistorischen Thema gemacht, diskursive Überschneidungen herausgearbeitet oder gesellschaftsgeschichtliche Kontextualisierungen (wie von Etzemüller) gewagt würden, wird enttäuscht. Was Susanne Heim in ihrem Kommentar zu den Beiträgen von Gutberger und Mackensen explizit einfordert, davon hätten mehr oder weniger alle Autoren des Bandes profitieren können: die Einbettung der Demographiegeschichte in das wechselseitige Verhältnis von Wissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, welches insbesondere in der Zeitgeschichte auch konzeptuell bereits eingehend bearbeitet wurde.9

Während in den gerade erwähnten Beiträgen die wissenschaftliche Sphäre stärker gewichtet wird, gehen Ingo Haar und und Patrick Kury die Sache erfreulicherweise auch von der anderen, der politischen Seite an. Haar betrachtet das Wissenschaftsmilieu nationalvölkischer Protagonisten in der Tschechoslowakei, während Kury die wissenschaftliche Fundierung politischer Willenserklärungen schweizerischer Politiker und Beamten aufzeigt, aber leider nicht weiter hinterfragt und somit auf einer Seite des Beziehungsgeflechts verharrt. Haar arbeitet luzide heraus, wie mit den Nationalsozialisten sympathisierende und kooperierende Wissenschaftler der Karlsuniversität in Prag in den 1930er- und 1940er-Jahren wissenschaftliche Autorität und Legitimation für ihre politischen Programme einsetzten. Zusammen mit Petersens Mikrostudie des baltischen völkischen Wissenschaftlers Seraphim arbeiten die drei Beiträge interessante Differenzierungen zum Grundkonsens im Bevölkerungsdiskurs dieser Zeit heraus. Sie decken sich mit Etzemüllers Matrix und bestehen in der antisemitischen, -bolschewistischen, -slawischen und -feministischen Brille. Jenseits der bekannten Tatsache, dass der totale Krieg mit einer totalen (d.h. ungezügelten bzw. hemmungslosen) Wissenschaft einherging, deren Vertreter bei klarem Verstand10 Bevölkerungen verschoben, erscheinen die auf Homogenität gerichteten bevölkerungstheoretischen Überlegungen und bevölkerungspolitischen Anstrengungen bis heute beunruhigend.

In einem weiteren aktuellen Sammelband fragen Eva Barlösius und Daniela Schiek nach der Erklärungskraft demographischer Analysen für gesellschaftliche Problemlagen.11 Der Verdienst der dortigen Artikel besteht darin, dass die bekannten Positionen der Katastrophenwarner à la Birg im Detail mittels neuerer empirischer Studien zur Sozial- und Familienstatistik zurechtgerückt werden. Als Schuldige für die „Demographisierung des Gesellschaftlichen“ benennt Barlösius in ihrer Einleitung die Repräsentationspraxis der Öffentlichkeit bzw. der Medien, weil dort allzu gern auf die suggestive Eindeutigkeit von Zahlen und Kurven zurückgegriffen wird, um Aufsehen zu erregen und Umsatz bzw. Quote zu machen. Sie übersehen dabei, dass der Gegensatz zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Medien strukturelle Gründe hat und aus soziologischer und politikwissenschaftlicher Sicht inzwischen legendär ist. So lobenswert der Versuch von Barlösius und Schiek ist, Demographen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, so fragwürdig ist das gesellschaftspolitisch uninformierte Bild, das uns von der Demographie als Wissenschaft damit geboten wird. Die Gegenüberstellung von interesselosen, politisch naiven Wissenschaftlern im Elfenbeinturm auf der einen und davon abgekoppelten gesellschaftlichen, strategischen Nutzern der Bevölkerungsstatistiken auf der anderen Seite – ob sie nun in der Politik, Verwaltung, Wirtschaft oder den Medien zu lokalisieren wären – kann niemanden mehr überzeugen, der oder die Etzemüllers kleines Buch verschlungen und die instruktiven Detailforschungen zu Denk- und Arbeitswerkstätten der Demographen des 20. Jahrhunderts studiert hat.

Anmerkungen:
1 Spiegel, 5.1.2004, Titelbild und -geschichte.
2 Die FAZ startete am 21.2.2005 ihren 10-teiligen „Grundkurs für Staatsbürger“ in Demographie mit Birg. Herausgeber Frank Schirrmacher betitelte seinen einführenden Kommentar „Dreißig Jahre nach zwölf“, womit er auf die Stagnation der Geburtenzahlen seit dem so genannten Pillenknick anspielte.
3 Siehe Regina Mönch, Kinderlos? Nein, falsch gezählt, in: FAZ, 9.8.2007, S. 31; Björn Schwentker, Aussterben abgesagt. Deutschland hat die Demografie entdeckt – und mit ihr die demografische Katastrophe. Viele Forscher sehen gar keinen Grund zur Aufregung, in: ZEIT, 8.6.2006.
4 Man denke hier etwa an die einflussreichen Studien zu ehemals hochanerkannten Wissenschaften wie Eugenik und Phrenologie, die inzwischen zur Pseudowissenschaft gehören. Siehe Donald McKenzie, Statistics in Britain 1865–1930. The Social Construction of Scientific Knowledge, Edinburgh 1981; Steven Shapin, The Politics of Observation. Cerebral Anatomy and Social Interests in the Edinburgh Phrenology Disputes, in: Roy Wallis (Hrsg.), On the Margins of Science. The Social Construction of Rejected Knowledge, Keele 1979, S. 139-178.
5 Götz Aly / Karl-Heinz Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus, Berlin 1984, überarbeitete Neuausgabe, Frankfurt am Main 2000; Heidrun Kaupen-Haas (Hrsg.), Der Griff nach der Bevölkerung. Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik, Nördlingen 1986; Götz Aly / Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991.
6 Siehe zu den Einzelprojekten:
<http://www.bevoelkerungsforschung.tu-berlin.de> (06.10.2008).
7 Siehe zu diesem Beispiel im Vergleich mit kollektivstatistischen Kurven- und Diagrammbildern: Sybilla Nikolow, Imaginäre Gemeinschaften. Statistische Bilder der Bevölkerung, in: Martina Heßler (Hrsg.), Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, München 2006, S. 263-278.
8 Siehe bisher Matthias Weipert, „Mehrung der Volkskraft“. Die Debatte über Bevölkerung, Modernisierung und Nation 1890–1933, Paderborn 2006, sowie Hansjörg Gutberger, Bevölkerung, Ungleichheit, Auslese. Perspektiven sozialwissenschaftlicher Bevölkerungsforschung in Deutschland zwischen 1930 und 1960, Wiesbaden 2006.
9 Siehe Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander. Programmatische Überlegungen am Beispiel Deutschlands, in: Jürgen Büschenfeld / Heike Franz / Frank-Michael Kuhlemann (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte heute. Festschrift für Peter Lundgreen, Bielefeld 2001, S. 117-134.
10 Samuel Salzborn versucht in seinem Kommentar zu den Beiträgen von Haar, Kury und Petersen die Bevölkerungstheoretiker ex post zu pathologisieren, was weniger hilfreich erscheint. Siehe zur Kritik an dieser Strategie bereits aus wissenschaftshistorischer Sicht: Mario Biagoli, Science, Modernity and the „Final Solution“, in: Saul Friedländer (Hrsg.), Probing the Limits of Representation. Nazism and the „Final Solution“, Cambridge 1992, S. 185-205.
11 Eva Barlösius / Daniela Schiek (Hrsg.), Demographisierung des Gesellschaftlichen. Analysen und Debatten zur demographischen Zukunft Deutschlands, Wiesbaden 2007.

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