H.-J. Bömelburg: Frühneuzeitliche Nationen im östlichen Europa

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Titel
Frühneuzeitliche Nationen im östlichen Europa. Das polnische Geschichtsdenken und die Reichweite einer humanistischen Nationalgeschichte (1500-1700)


Autor(en)
Bömelburg, Hans-Jürgen
Reihe
Veröffentlichungen des Nordost-Instituts 4
Erschienen
Wiesbaden 2006: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
560 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arno Strohmeyer, Universität Salzburg, Fachbereich Geschichte Email:

Das frühneuzeitliche Geschichtsdenken in der Epoche vor der Aufklärung fand (ausgenommen die humanistische Historiographie) lange Zeit nur wenig Aufmerksamkeit. Dies ist mit einer engen Perspektive der Geschichtsforschung zu begründen, die sich bei der Suche nach den Wurzeln der Historie vor allem auf theoretische und methodische Reflexionen und den Verwissenschaftlichungsprozess konzentrierte. Vorwissenschaftliche Methoden, der Mangel an Objektivität und Kritikbewusstsein sowie der oftmals panegyrische Charakter ließen nur geringes Interesse aufkommen. Dieses Bild begann sich in den letzten Jahren vor dem Hintergrund der generell zunehmenden Bedeutung von Erinnerungskulturen vergangener Epochen und frühneuzeitlichen Dimensionen nationaler Identitäten zu ändern.

In diese Entwicklung ist das Buch einzureihen, das in Warschau geschrieben und 2005 von der Philosophischen Fakultät der Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg als Habilitationsschrift angenommen wurde. Hans-Jürgen Bömelburg analysiert darin den Nations- und Geschichtsdiskurs in Polen bzw. Polen-Litauen in der Zeit zwischen dem späten 15. Jahrhundert – als eine neue Phase humanistisch geprägter universitärer und höfischer Geschichtsschreibung begann – und dem Großen Nordischen Krieg, der für die Eliten des Landes politisch und mental eine einschneidende Zäsur bedeutete. Polen-Litauen hatte damals rund 11 Millionen Einwohner (1650) und war mit einer Fläche von ca. 800.000-1.000.000 km² einer der größten Herrschaftsbereiche Europas.

Im Mittelpunkt der Studie steht die Frage, wie Nationskonzepte von den politischen und kulturellen Eliten konstruiert und anschließend im historisch-politischen Bewusstsein der Gesellschaft in Polen-Litauen und weiteren Regionen des östlichen Europa verbreitet und rezipiert wurden. Unter Nationalgeschichte wird dabei „die Memorierung und Aneignung einer gemeinsamen fiktiven wie realen Vergangenheit durch Gruppen verstanden, die so zu Traditions-, Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaften“ (S. 13) werden. Analysiert werden sowohl Kommunikationswege als auch Medien der Verbreitung wie Genealogie, Emblematik, Rhetorik und Schulschriften sowie die Frage der Reichweite des Geschichtsdenkens einschließlich seiner Manifestationen in Riten und Festen. Das Vorhaben ist anspruchsvoll, denn im Kern geht es um die integrative Analyse von Geschichtsdenken, historiografisch-politischer Kommunikation und kollektiver Reichweite eines nationalen Geschichtsbildes. Bömelburg verknüpft dabei methodisch drei verschiedene Forschungsstränge: 1. die vergleichende Humanismusforschung (mit dem Modell von Diffusion – Transformation – Multiplikation), 2. die „Cambridge School of Intellectual History“ (das Konzept von ‚Sprache‘ als Instrument zur Analyse politischen Denkens) und 3. die Gedächtnis- und Erinnerungsforschung (Maurice Halbwachs, Jan Assmann, wobei er die Unterscheidung zwischen einem kollektiven und einem spezialisierten historischen Gedächtnis als für den polnisch-litauischen Kontext als unpassend ablehnt).

Die Quellenbasis der Studie ist denkbar breit. Für Polen wird die gesamte gedruckte und handschriftlich überlieferte Historiografie einbezogen, die für den Zeitraum zwischen dem Ende des 15. Jahrhunderts und 1696 vorhanden ist. Auch panegyrische Werke fanden Berücksichtigung. Die Abschnitte, in denen Bezüge zur masowischen, litauischen, ukrainischen und preußischen Geschichtskultur hergestellt werden, beruhen auf der Auswertung der zeitgenössischen gedruckten sowie der in Polen zugänglichen handschriftlichen Überlieferungen (Vollständigkeit wäre hier aus arbeitstechnischen Gründen nicht möglich gewesen).

Die Arbeit ist in acht Hauptkapitel gegliedert: Nach einem einleitenden Teil (Kap. 1), in dem die Fragestellung, der Forschungsstand sowie der theoretische und methodische Ansatz dargelegt werden, skizziert Bömelburg zunächst knapp die mittelalterlichen Traditionen (Kap. 2). Anschließend widmet er sich den Erinnerungskulturen in den politischen Zentren (der Metropole Krakau, dem Königshof als Mittelpunkt der monarchischen Macht, den gerade für Polen besonders wichtigen ständischen Versammlungen) sowie überregionalen Kommunikationsstrukturen wie Buchdruck, Kirche und Bildungswesen. Dabei gelangt auch die von den staatlichen Institutionen beeinflusste Öffentlichkeit mit ihrer adeligen oder zumindest sich am adeligen Habitus orientierenden Elite in den Blick (Kap. 3-6). In Kap. 7 werden dann partikulare bürgerliche und konfessionelle Erinnerungsmuster und Gedächtnispraktiken untersucht. Dabei beschränkt sich Bömelburg nicht auf Polen-Litauen, sondern er studiert mit Masowien, Litauen, der Ukraine und Preußen vier weitere Räume im Hinblick auf ihre Verbindungen mit den polnischen Geschichtskonstruktionen und deren Ausstrahlung. Er gelangt zu einer Vielzahl von interessanten Erkenntnissen über das frühneuzeitliche polnische Geschichtsdenken, die in Kap. 8 vergleichend in den gesamteuropäischen Kontext eingeordnet werden. Auf diese Weise gelingt es ihm, charakteristische und spezifische Komponenten und Entwicklungslinien des historischen Denkens in Polen, des nationalgeschichtlichen Diskurses sowie des Verhältnisses zwischen Geschichtsbild, politischer Kommunikation und Öffentlichkeit aufzuzeigen.

Demnach bereitete zunächst das Fehlen von Nachrichten über die polnische Frühgeschichte Probleme, denn eine direkte Anknüpfung an antike Autoren, wie im deutschen Geschichtsdenken an Tacitus, war nicht möglich. Einen Ausweg boten gotische, sarmatische und vandalische Frühgeschichten, die zunächst miteinander konkurrierten, bevor sich die Anbindung an sarmatische Geschichtsbilder durchsetzte, und ihnen die zeitnahen humanistischen Filiationen wie Etrusker-Italiener, Germanen-Deutsche und Gallier-Franzosen an die Seite gestellt werden. Die Transformation in eine eigene polnische Nationalgeschichte gelang schließlich um 1550, als ausländische oder bürgerliche Krakauer Humanisten von polnischen Historiografen ersetzt wurden. Die konfessionelle Aufladung des polnischen Geschichtsbildes, die im 17. Jahrhundert zu beobachten ist, weist Parallelen zur Entwicklung in England in der Zeit vor Cromwell auf. Zu den Sonderentwicklungen zählt die Durchsetzung eines Freiheitsdiskurses in Verbindung mit nationalkatholischen Auserwähltheits- und Heilskonzeptionen. Eine mit deutschen Humanisten stattfindende Diskussion über die Reichweite der jeweiligen Nationalgeschichte führte zu nationalen Stereotypien und zur Verfestigung eines negativen Erinnerungsmusters bezüglich der Deutschen mit der Konstruktion deutscher Expansion und der abwertenden Darstellung der habsburgischen Herrscher des 16. und 17. Jahrhunderts. Das Geschichtsbild wurde nicht nur von einer kleinen Elite von Gelehrten rezipiert, sondern von verschiedenen Öffentlichkeiten, und zwar in einem Ausmaß, wie es sonst nur in der Eidgenossenschaft oder in den Niederlanden zu beobachten ist.

Insgesamt ist festzuhalten, dass es sich um eine ebenso informative wie anregende Studie handelt, die auf eingehender Kenntnis der Literatur beruht, aktuelle Tendenzen der Forschung berücksichtigt, ein stabiles theoretisches und methodisches Gerüst besitzt, auf einem soliden Quellenfundament ruht und zu überzeugenden Ergebnissen führt. Besonders hervorzuheben ist der Brückenschlag zur europäischen Geschichte, der deutlich macht, dass die lange Zeit dominierende Vorstellung einer verspäteten Entwicklung Ostmitteleuropas auch in Bezug auf das historische Denken nicht zutrifft. Das polnische Geschichtsdenken war zeitgenössisch modern. Es entwickelte sich in seinen Konzepten und Deutungsmustern „zeitnah dem Rhythmus gemeineuropäischer Tendenzen und besaß manchmal sogar eine Vorreiterrolle“ (S. 421). Das Buch ist für alle, die sich für das Geschichtsdenken der Frühen Neuzeit und die historischen Dimensionen konkurrierender nationalgeschichtlicher Diskurse interessieren, mit größtem Gewinn zu lesen.

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