U. Schneider u.a. (Hrsg.): Dimensionen der Moderne

Cover
Titel
Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper


Herausgeber
Schneider, Ute; Raphael, Lutz
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
737 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arnd Bauerkämper, Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas

‚Moderne‘ ist ein vielschichtiger Begriff, der oft gleichermaßen einen Zustand und dessen Repräsentation bezeichnet. Zudem kann ‚Moderne‘ nicht mehr länger auf den westlichen Entwicklungspfad von Industriekapitalismus, forciertem wirtschaftlichem Wachstum, Demokratisierung, politischer Partizipation und gesellschaftlicher Mobilisierung oder auch funktionaler Differenzierung verkürzt werden. Vor einigen Jahren ist deshalb angeregt worden, von einer „multiplen“ oder „verflochtenen“ Moderne zu sprechen.1 Welche Erklärungskraft weist die ‚Moderne‘ dann aber letztlich noch auf, wenn Gegenbegriffe kaum noch sichtbar sind, zumal auch die Abgrenzung zu ‚Vormoderne‘ und ‚Tradition‘ an Überzeugungskraft verloren hat? Diese Fragen bestimmten eine Konferenz, die im Frühjahr 2008 anlässlich der Emeritierung Christof Dippers an der Technischen Universität Darmstadt stattfand, und leiten ebenso die inzwischen veröffentlichte Festschrift. Der Band dokumentiert freilich nicht die Tagung, sondern ist bereits zuvor konzipiert worden.

Viele Beiträge konzentrieren sich auf begriffliche und theoretische Probleme der Moderne, sowohl als Epochenbegriff wie auch als analytische Kategorie. Andere Aufsätze folgen mit Überlegungen zu begriffsgeschichtlichen Konzepten und zur Geschichte ländlicher Gesellschaften wichtigen Forschungsschwerpunkten Dippers. Die Spannbreite der insgesamt 38 Beiträge reicht von Jürgen Reuleckes Einbettung der Biographie Dippers in die Generationserfahrung von Kriegskindern des Jahrgangs 1943 und kritischen „Anmerkungen zu Klaus von Beymes Umfang mit Epochenbegriffen“ (Michael Th. Greven) über das schwedische Volksheim als „Erbe der frühneuzeitlichen Staatsbildung“ (Heike Droste) und „Linksterroristinnen im Visier der italienischen und deutschen Öffentlichkeit“ (Petra Terhoeven) bis zum Wandel der „Agrar- und Siedlungswissenschaft zwischen Kaiserreich und nationalsozialistischer Herrschaft“ am Beispiel Max Serings (Rita Aldenhoff-Hübinger). Obgleich allein sieben Aufsätze dem Konzept der „Übergangsgesellschaft“ gewidmet sind, mit dem Dipper – im Anschluss an Kosellecks „Sattelzeit“ – den Erfahrungsumbruch um 1800 gekennzeichnet hat2, bleibt der Band insgesamt heterogen, wie leider bei Festschriften üblich. Hier sollen vor allem die Ansätze zu einer „Geschichte der Moderne in Europa“ (S. 7) kurz kommentiert werden – eine Geschichte, die im Vorwort als programmatischer Anspruch Dippers hervorgehoben wird.

Ute Schneider konturiert den Stellenwert des Konzepts der ‚Moderne‘ in Kosellecks Œuvre. In der „Sattelzeit“ von etwa 1750 bis 1850 habe sich mit der Divergenz von „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ eine „neue Zeit“ herausgebildet. Obwohl der Wandel der Zeitwahrnehmung und -erfahrung als ein Bestandteil der „Moderne“ gefasst wurde und das Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“ als „der bisher mit Abstand erfolgreichste Versuch“ verstanden werden kann, „die Entstehung der Moderne im Medium der Sprache zu rekonstruieren“3, war die ‚Moderne‘ für Koselleck keine leitende analytische Kategorie. Er konzentrierte sich vielmehr auf die Abfolge und Überlagerung von „Zeitschichten“, vor allem im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, als sich „Geschichte“ als Kollektivsingular herausbildete und die „Neuzeit“ entstand.4

Jörn Leonhard zeichnet am Beispiel des „Liberalismus“ als politisch-sozialem Deutungskonzept die Vielfalt der Erfahrungen und ihre Verarbeitung in Frankreich, Deutschland, Italien und England im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert nach. Während es in Frankreich – vor allem als Folge der Revolution von 1789 – bereits bis 1820 zu einer „Politisierung und Ideologisierung“ (S. 554) von „libéral“ bzw. „libéralisme“ gekommen sei, resultierte dieser Prozess in Italien erst aus der Auseinandersetzung mit dem Katholizismus nach 1848. In Deutschland wiesen „liberal“ und „Liberalismus“ bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine charakteristische Spannung von universalistischem Emanzipationsanspruch und individualistischer Gesinnungsethik auf. In England schließlich diente das Wort „liberal“, das als Deutungsbegriff erst in den 1820er-Jahren von den „whigs“ aufgenommen wurde, vor allem der Konstruktion einer Tradition der Reformpolitik seit dem 17. Jahrhundert. Dieser Rekurs gipfelte schließlich in der „whig interpretation of history“ als umfassendem Paradigma und Legitimationskonzept der neueren britischen Geschichte. Indem er die Vielfalt und Ambivalenz der Erfahrungen, Wahrnehmungen und Interpretationen im Übergang in die Moderne betont, plädiert Leonhard für eine „Pluralisierung europäischer Sattelzeiten“ (S. 566). Auch wenn man dieses dekonstruktivistische Postulat nicht teilt, bietet der Beitrag doch wichtige Anregungen für eine Geschichte der Moderne, die sich auf zeitgenössische Deutungskategorien stützt.

Eine vergleichende Einordnung der mitteleuropäischen Übergangsgesellschaft, die durch die politischen Revolutionen in den USA und in Frankreich, die Industrielle Revolution und den weltweiten Imperialismus herbeigeführt worden sei, strebt auch Jürgen Osterhammel an, aber in einem globalen Rahmen. Da sich die erwähnten Basisprozesse, die mit den revolutionären und napoleonischen Kriegen von 1793 bis 1815 eine globale Herausforderung wurden, in Mittelamerika ebenso wie in Ostasien kaum durchsetzten und auch keinen Erfahrungsbruch herbeiführten, müsse die „Übergangsgesellschaft“ als analytische Kategorie für diese Räume zumindest deutlich modifiziert werden. Letztlich interpretiert Osterhammel die mitteleuropäische Übergangsgesellschaft als „Sonderweg“ (S. 723) in eine multiple Moderne. Indirekt zeigt der Beitrag aber noch in der Falsifizierung das analytische Potential, das dem Konzept der „Übergangsgesellschaft“ innewohnt, auch für eine vergleichende Weltgeschichte.

Demgegenüber stellen Lutz Raphael und Gangolf Hübinger eine Phase beschleunigten Wandels erst für die Zeit um 1900 fest, als sich zwischen „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ eine Kluft öffnete. Hübinger, der die Entstehung des Interpretaments „Säkularisierung“ nachzeichnet, betont im Anschluss an Max Weber und Ernst Troeltsch, dass sich erst in dieser „Verdichtungszone“ (S. 96) der Jahrhundertwende die für die Moderne kennzeichnende, dauerhafte Spannung zwischen religiösem und säkularem Verhalten herausgebildet habe. Mit der Ausdehnung weltlicher Lebensordnungen wurde der „Tod der Religion“ laut Hübinger letztlich zu einem Leitkonzept der Moderne selber. Zu diskutieren bleibt aber, ob die Austauschprozesse zwischen den Religionen – deren Diffusion, Pluralisierung und Individualisierung die neuere Forschung zur Geschichte Europas im 20. Jahrhundert akzentuiert hat – und ihrer jeweiligen nicht-religiösen Umgebung nicht treffender als „Dechristianisierung“ bzw. „Rechristianisierung“ bezeichnet werden sollten.5

Lutz Raphael fasst die Geschichte europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert als Ensemble wechselseitig aufeinander bezogener kollektiver Erinnerungen und Zukunftserwartungen. In dieser Perspektive bestimmten nicht nur die traumatischen Erfahrungen von Krieg, Not und ebenso unerwarteten wie tiefgreifenden Umbrüchen die Wahrnehmungsgeschichte der europäischen Gesellschaften – besonders bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs –, sondern auch das Scheitern von Planung und Utopien. Nicht zuletzt trug die Eigendynamik der Reflexion über Ordnungsentwürfe und ihre Durchsetzung selber zur Ungleichzeitigkeit der historischen Semantiken bei. Im Unterschied zu Ulrich Herberts Epochenbegriff der „Hochmoderne“ von 1880 bis 19706 ist nach Raphael die Überlagerung von Zeitschichten und Erfahrungen des politisch-gesellschaftlichen Wandels in Rechnung zu stellen, so dass die europäischen Gesellschaften als „Experimentierfelder unterschiedlicher Optionen für die Weiterentwicklung der Moderne zu untersuchen“ seien (S. 87). Wie können die „Eigenzeiten der unterschiedlichen ‚Teilsysteme’ und Handlungsfelder“ (S. 91) aber schließlich analytisch integriert werden?

Insgesamt spiegelt der Band die Verschiebung wider, die sich in der neueren Historiographie vollzogen hat: vom Zustands- und Epochenbegriff zum Repräsentationsmuster der Moderne. Als Referenztopos zeitgenössischer Wahrnehmung, Deutung und Erfahrung hat sich die ‚Moderne‘ mit der Loslösung von einem holistischen und essentialistischen Verständnis einerseits verflüssigt. Andererseits zeigt gerade der Wandel zu einem Konzept gesellschaftlicher Beobachtung, Beschreibung und Reflexion, wie tief verankert die ‚Moderne‘ inzwischen als Modus gesellschaftlicher Selbstthematisierung ist – auch in der Geschichtswissenschaft. Dabei sollte die Einsicht in die Ambivalenz und Kontingenz zwar nicht zurückgenommen, aber zu einem konstruktiven Umgang mit der Moderne als analytischem Konzept fortentwickelt werden. Dazu bieten viele Beiträge des Bandes bedenkenswerte Überlegungen.

Anmerkungen:
1 Eisenstadt, Shmuel N., Multiple Modernities, in: Daedalus 126 (2000), S. 1-29; Randeria, Shalini, Geteilte Geschichte und verwobene Moderne, in: Rüsen, Jörn; Leitgeb, Hanna; Jegelka, Norbert (Hrsg.), Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung, Frankfurt am Main 2000, S. 87-96.
2 Dipper, Christof, Übergangsgesellschaft. Die ländliche Sozialordnung in Mitteleuropa um 1800, in: Zeitschrift für historische Forschung 23 (1996), S. 57-87.
3 Ders., Die „Geschichtlichen Grundbegriffe“. Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten, in: Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 281-308, hier S. 308.
4 Koselleck, Reinhart, Wie neu ist die Neuzeit? [1990], in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000, S. 225-239.
5 Lehmann, Hartmut, Von der Erforschung der Säkularisierung zur Erforschung von Prozessen der Dechristianisierung und der Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, in: ders. (Hrsg.), Säkularisierung, Dechristianisierung und Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997, S. 9-16, hier S. 13f.; Graf, Friedrich Wilhelm; Große Kracht, Klaus, Einleitung: Religion und Gesellschaft im Europa des 20. Jahrhunderts, in: dies. (Hrsg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Köln 2007, S. 1-41, hier S. 14, S. 19f.
6 Herbert, Ulrich, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 3 (2006), S. 5-21.